Gisela Heidenreich: "Das endlose Jahr"

Eine Tochter reist mit ihrer Mutter an den Ort, wo sie 1943 in einem Lebensbornheim geboren wurde. Endlich will sie die "ganze Wahrheit" über ihre Herkunft und die Verstrickung ihrer Mutter in die Nazipolitik herausfinden. Hinter einem verwirrenden Netz von Lügen, Verdrängung und Verleugnung kommt schließlich - beharrlich durch Nachfragen und Erinnern herbeigezwungen - die Wahrheit zutage. Gleichzeitig zeigen die Erinnerungen Gisela Heidenreichs an den spät gesuchten und gefundenen Vater, dass man jemanden schätzen und lieben kann, den man gleichzeitig zutiefst ablehnt.


Die langsame Entdeckung der eigenen Biografie - ein Lebensborn-Schicksal

Der Verein "Lebensborn e.V." ist eine der am seltensten diskutierten Einrichtungen des Dritten Reichs. Dies liegt sicherlich auch daran, dass "Zuchtexperimente" mit Menschen immer noch weiter außerhalb der Vorstellung vieler Menschen liegen als die Grausamkeiten, die man mit dem Hitlerregime sonst verbindet. Die Probleme dieses Projekts zeigten sich für die daran beteiligten Frauen und daraus geborenen Kinder in der Regel erst nach dem Krieg - und dies besonders, wenn es sich um die Geliebten von SS-Offizieren handelte, die zu ihren Familien in den damals besetzten Gebieten zurück kamen. 
Gisela Heidenreichs Mutter stammte aus Niederfranken und ging für die Geburt ihrer unehelichen Tochter 1943 nach Norwegen in das Lebensborn-Haus in Klekken. Jahre später begeben sich Mutter und Tochter zurück nach Norwegen, um dort die Geschichte hinter dieser ungewöhnlichen Geburt zu erzählen.

Und es ist erst einmal die Geschichte eines Lebens in ärmlichen Verhältnissen, mit einem fast stummen Vater, der wie ein Einsiedler lebt und damit die Familie ebenfalls über lange Zeit sozial isoliert. Hunger und beengte Lebensverhältnisse, wie sie sich selbst viele Hilfeempfänger kaum mehr vorstellen können - und die damals die normalen Lebensumstände vieler Familien waren. Bei denen Töchter versuchten, so schnell wie möglich zu heiraten, nur um aus der Enge heraus zu kommen und endlich mal in einem eigenen Bett schlafen zu können. Und so landet Giselas Mutter schließlich - auch durch die Vermittlung ihres Bruders - im Lebensborn-Projekt, wobei ihre Rolle dabei zunächst ganz unklar bleibt und gerade ihrer Tochter lange Zeit nicht richtig bewusst wird.

In der Schule hört sie das erste Mal im Rahmen der zehnteiligen Reihe in der "Neuen Revue" von den wirklichen Hintergründen des Projekts, das ihr von ihrer Mutter immer als eine Art karitative Einrichtung für ledige Mütter beschrieben worden war. Dabei wird ihr erstmals klar, wie sehr ihre Mutter sie belogen hat, und in der Folge wird die zukünftige Psychologin mit der Gewissheit heranwachsen, dass ihre Mutter - und auch ihre Großmutter - Menschen sind, denen man nicht so ohne Weiteres vertrauen darf. Als sie dann auch noch von einem ehemaligen Adoptionsopfer, das angeblich durch ihre Mutter "verwaltet" worden war, erfährt, dass ihre Mutter nicht nur einfache Sekretärinnenarbeit betrieben hat, sondern doch schon etwas höher in der Hierarchie gestanden hat, bricht Giselas innere Welt immer mehr auf. Sie erfährt nämlich dabei auch noch, dass ihre Mutter eine ausreichend exaltierte Position gehabt haben musste, dass man sie zu den Nürnberger Prozessen extra aus München holen ließ, und sie einige Monate vor Gericht stand.

Giselas Mutter selbst scheint die damalige Zeit nur in ihren positiven Teilen zu sehen, und so ist sie zum Beispiel immer noch froh, dass sie den Job bei "Lebensborn e.V." bekommen hatte, in der Junkernkaserne bei Tölz, weil sie sonst nämlich höchstwahrscheinlich in Dachau hätte arbeiten müssen. Schließlich wäre es in dem Lager ja sonst nicht so schlimm gewesen, denn "jeder wisse ja, dass die Amerikaner die Öfen und andere Sachen dort erst nachträglich eingebaut hätten". (Zu den Realitäten des Lagerlebens möchte ich an dieser Stelle noch einmal dringend "Evas Geschichte" von Eva Schloss empfehlen, zum Umgang mit revisionistischen Äußerungen von Markus Tiedemann "In Auschwitz wurde niemand vergast. 60 rechtsradikale Lügen und wie man sie widerlegt" - siehe nachstehende Buchtipps!). Giselas Mutter bläst hier voll ins Horn der Revisionisten, wobei man sich sehr häufig die Frage stellen muss, wie es möglich ist, dass Menschen mit so viel Selbstverblendung es schaffen, ein hohes Alter zu erreichen. Und dies auch noch relativ erfolgreich.

Die Suche nach der Wahrheit über ihre Mutter ist für Gisela Heidenreich immer auch die Suche nach ihrer eigenen Identität, die sie stets sehr stark über ihre Mutter und ihre Herkunft definiert, was für manche Leser eventuell etwas schwer nachzuvollziehen sein dürfte. (Hier passt als verwandter fiktionaler Text Charlotte Kerners "Geboren 1999" sehr gut ergänzend dazu). Auch, weil neben der Identitätssuche eben immer wieder die Lebensgeschichten der Mutter und der Tochter sehr ausgiebig dargestellt sind, mit häufigen Einschüben der neuesten Erkenntnisse der Tochter über die Rolle ihrer Mutter in der unrühmlichen deutschen Vergangenheit.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 02/2004)


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Ergänzender Buchtipp:

Eva Schloss: "Evas Geschichte"
Eva Schloss ist eine Stiefschwester von Anne Frank. Als die deutsche Wehrmacht mit dem "Anschluss" nach Österreich kam, wurde es für die Familie zunehmend unangenehmer, und der Vater brachte einige Vermögenswerte zunächst nach Brüssel und dann nach Holland, wohin seine Familie jeweils folgte. In Brüssel musste die kleine Eva eine ganz neue Sprache lernen um in der Schule mitzukommen, was dann dafür sorgt, dass sie auf Grund ihrer besseren Französischkenntnisse etwa ein Jahr später bei ihrer holländischen Französischlehrerin unangenehm auffällt. Doch bald sind die Deutschen auch in den Niederlanden und setzen hier sehr schnell ihre antijüdischen Verordnungen durch, weswegen die Familie Schloss gut verteilt in Verstecke fliehen muss. Die zunächst hilfsbereiten Holländer werden durch den Druck zunehmend nervöser, und so müssen die Familienangehörigen schließlich andere Ausweichquartiere beziehen, wo bei einer großen Durchsuchungsaktion schließlich alle gefasst werden. Mit ihren Erfahrungen bis zu jenem Moment und der Zeit im Gefängnis beschäftigt sich vor allen Dingen der erste Teil dieses Romans. Im zweiten Teil wird die inhumane Überführung nach Birkenau beschrieben und die Ankunft im Konzentrationslager mit der Aufteilung der Familien in die einzelnen Gruppen. Für Neulinge in Bezug auf diesen Themenkreis mag dies sehr informativ und erschreckend sein - für Veteranen der Beschäftigung mit dem Holocaust ist es eine beunruhigende Erfahrung zu sehen, wie man die Schritte als etwas mittlerweile sehr Vertrautes vorhersagen kann, die dieses junge Mädchen nun durchlaufen muss: Sortierung, "Entlausung", Rasur, Tätowierung, Zuteilung, das Verhalten der "Kappos", die nur so lange ihre Privilegien behalten - und damit meist auch ihre Leben - wie sie ihre Mithäftlinge möglichst streng behandeln.
Nach einer Typhuserkrankung gelingt es Eva, zusammen mit ihrer Mutter in eine der Kommandogruppe zu kommen, die damit beauftragt ist, die Kleidungsstücke von getöteten Insassen nach Wertsachen zu durchsuchen; eine Arbeit, die nicht besonders gut für die Seele ist, aber die Überlebenschancen der beiden Frauen enorm erhöht. Nach einiger Zeit sieht Eva auch ihren Vater wieder, und durch eine alte Bekannte im Anstaltshospital schrammt sie mit ihrer Mutter an vielen riskanten Situationen vorbei. So überleben die beiden Frauen auch die Zeit im Lager durch den Willen der Tochter, gute Freunde und eine gehörige Portion Glück. Die Leser sehen die Befreiung, die Reise nach Russland und von dort über Frankreich zurück nach Holland, wo die verstreuten Überlebenden ihre Leben wieder aufnehmen.
Bewegend und eine wunderbare Chronik des Überlebenswillens unter unmöglichen Umständen. (K.-G. Beck-Ewerhardy; 02/2004)
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Markus Tiedemann: "In Auschwitz wurde niemand vergast. 60 rechtsradikale Lügen und wie man sie widerlegt"
Die Holocaust-Leugner lügen, verbreiten Halbwahrheiten, biegen sich die Fakten zurecht, ganz wie sie es brauchen. Aber sie tun das sehr geschickt und sind oftmals durch Schulungen gut vorbereitet. Selbst wenn man den Holocaust-Leugnern kein Wort glaubt, ist man doch oft hilflos, was man ihnen entgegnen soll. Reine Polemik und echte Empörung machen es den Neonazis zu leicht. Die geschichtliche Wahrheit ist immer die beste Waffe. Deswegen ist dieses Buch nicht nur eine Argumentationshilfe, sondern gleichzeitig auch ein thematisch geordnetes Geschichtsbuch.
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