Dorothee Schmitz-Köster: "Kind L 364"
Eine Lebensborn-Familiengeschichte
Zwischen
den Stühlen: ein
ungewöhnliches, von der NS-Zeit geprägtes
Frauenschicksal
Mit den Lebensborn-Heimen der SS verbindet man allgemein so etwas wie
Zuchtprogramme für die "arische Rasse". Menschen, die in
solchen
Heimen geboren wurden, leben mit einem eigenartigen Makel; vor allem in
der
Nachkriegszeit hatten sie es nicht leicht.
Dieses Buch erzählt die Geschichte des Mädchens
Heilwig. Ihre Mutter Eleonore,
Witwe mit einer Tochter, hat sich in einen Mann verliebt und wird von
ihm
schwanger. Erst jetzt erfährt Eleonore, dass er verheiratet
ist. Sie bricht die
Beziehung ab. Da ein uneheliches Kind Schande bedeutet und ihre Mutter
sie unter
Druck setzt, denkt sie zunächst an Abtreibung, entscheidet
sich dann aber, das
Kind diskret in einem Lebensborn-Heim zur Welt zu bringen. Diese
ermöglichen es
Frauen, ungewollte, meist uneheliche Kinder unter Geheimhaltung zu
gebären und
auch schon die vorhergehenden Monate dort zu verbringen. Voraussetzung:
Mutter
und Vater müssen den Ariernachweis erbringen und "erbgesund"
sein.
Besonders gut sind die Bedingungen im Lebensborn-Heim nicht, unter
anderem
deshalb nimmt Eleonore die kleine Heilwig bald wieder zu sich. Sie ist
während
ihres Heimaufenthalts dem Reichsführer SS Himmler aufgefallen,
an den sie sich
nun wendet, weil sie mit ihren geringen Einkünften und dem
neuen Baby nicht über
die Runden kommt. Himmler verkuppelt sie mit seinem engen Mitarbeiter,
SS-General Oswald Pohl.
Pohl mag Eleonores Kinder und adoptiert die kleine Heilwig sogar. Die
Familie
zieht auf ein Gut, das der SS gehört. Relativ bald hat das
recht feudale Leben
ein Ende: Die Russen sind ganz in die Nähe vorgedrungen, mit
Mühe gelingt die
Flucht nach
Oberbayern,
wo Eleonore ein Haus besitzt. Pohl versteckt sich, wird
aber als einer der meistgesuchten NS-Verbrecher - er war unter anderem
für die
KZs verantwortlich - gefasst und schließlich als einer der
letzten Insassen im
Landsberger Gefängnis 1951 hingerichtet, obwohl seine Frau,
die ihn liebt,
alles tut, um ihn zu retten.
Heilwig wird tagtäglich mit dem in Deutschland zunehmenden
Hass auf ihren
"Vater" konfrontiert, sie erfährt Ausgrenzung und
Übergriffe, so
wird sie von Dorfkindern und -jugendlichen mit Steinen beworfen.
Außerdem
weigern sich die Gymnasien vor Ort, die "Pohl-Tochter" aufzunehmen.
Für
Heilwig ist es ein Schock, als sie schließlich
erfährt, dass Pohl indirekt ein
Massenmörder war. Viel hilft es ihr nicht, nun auch zu wissen,
dass sie einen
anderen Vater hat. Heilwig leidet entsetzlich in dieser Zeit.
Viele Jahre später bricht alles wieder auf. Ihre
heranwachsenden Kinder, denen
sie nie von ihrer familiären Vergangenheit erzählt
hat, konfrontieren sie mit
Pohls Namen und dem, was sie in der Schule über ihn gelernt
haben.
Heilwigs Geschichte löst Bestürzung aus, macht sie
doch begreiflich, welche
Lasten viele unsere Mitmenschen seit dem Nationalsozialismus mit sich
herumschleppen oder -geschleppt haben. Der Schmerz des kleinen
Mädchens, das
zunächst wegen seiner unehelichen Geburt auch in der Familie
zurückgesetzt
wurde, später die Demütigungen durch Menschen, die
sich auf diesem Wege an
ihrem Adoptivvater Pohl rächen wollten - oder vielleicht nur
versuchten, ihr
schlechtes Gewissen wegen ihres Mitläufertums zu beruhigen -,
Jahrzehnte danach
der Zusammenstoß mit den eigenen Kindern und die
Notwendigkeit, das Unsägliche
zu erklären: kein Wunder, dass Heilwig massiv unter
psychosomatischen
Beschwerden litt.
Das Buch ist, abgesehen von seinem Wert als Biografie einer
außergewöhnlichen
Frau und einer von den Fährnissen der Politik gebeutelten
Familie, ein
subjektives Stück Geschichte Deutschlands, das der offiziellen
Geschichtsschreibung, zusammen mit vielen anderen persönlichen
Erlebnissen,
wichtige Facetten hinzufügt.
Es zeigt auf, wie manches Schicksal vom Hakenkreuz gelenkt wurde, ohne
dass die
betreffende Person, wie Heilwig, als kleines Mädchen von einem
der NS-Paladine
adoptiert, dafür verantwortlich gemacht werden kann, obwohl
dies kontinuierlich
versucht wurde.
Zudem kann sich der Leser darüber informieren, dass die
Lebensborn-Heime, die
in letzter Zeit viel Interesse gefunden haben, keineswegs vorrangig das
waren,
als was sie heute vor allem gesehen werden, sondern vor allem -
natürlich nicht
uneigennützig - zur Verfügung gestellt wurden, um
werdenden "ledigen Müttern
mit zu erwartendem rassisch wertvollem Nachwuchs" eine Chance zu geben,
sich der drohenden Schande zu entziehen.
Die Autorin hat zusammen mit Heilwig Weger deren Lebensstationen
besucht und
recherchiert. Herausgekommen ist ein packendes Buch, vielleicht mit ein
paar flüchtig
auftretenden Nebenpersonen zu viel ausgestattet, die den Leser
stellenweise
verwirren mögen; insgesamt jedoch gehört dieses Buch
zu den Veröffentlichungen,
die zu lesen sich für jeden an der NS-Zeit interessierten
Menschen lohnt.
(Regina Károlyi; 07/2007)
Dorothee
Schmitz-Köster: "Kind L 364.
Eine Lebensborn-Familiengeschichte"
Rowohlt Berlin, 2007. 270 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen
Dorothee Schmitz-Köster, geboren 1950, studierte Germanistik, Philosophie und Sozialwissenschaften in Bonn und promovierte über DDR-Literatur. Seit 1985 arbeitet sie als freie Hörfunkjournalistin und Autorin. Zahlreiche Rundfunkbeiträge und Buchveröffentlichungen, zuletzt "Deutsche Mutter, bist du bereit. Alltag im Lebensborn" (1997) und "Der Krieg meines Vaters. Als deutscher Soldat in Norwegen" (2004). Dorothee Schmitz-Köster lebt in Bremen.