Gret Haller: "Die Grenzen der Solidarität"
Europa und die USA im Umgang mit Staat, Nation und Religion
Die vielbeschworene einheitliche westliche Kultur ist eine Fiktion. Zwischen den vielfältigen Staaten West- und Osteuropas und den Vereinigten Staaten von Amerika gibt es Differenzen, deren Existenz besonders während des Kalten Krieges nicht zur Diskussion stand, seit der Wende Ende der 1980iger Jahre aber nicht mehr länger zu ignorieren ist. Europa und die USA gehen von oft völlig anderen Prämissen aus, wenn sie über die gleichen Begriffe sprechen. Weiterhin gemeinsame Positionen vorzugeben, wäre nicht nur falsch, sondern besonders im Hinblick auf junge Demokratien gefährlich.
Die Juristin und Politikerin Gret Haller ging zwischen 1996 und 2000 ihrer Tätigkeit als Ombudsfrau für Menschenrechte in Bosnien und Herzegowina nach. Im Zuge ihrer Arbeit wurde sie mit der unterschiedlichen Herangehensweise US-amerikanischer und europäischer MitarbeiterInnen konfrontiert, was sie dazu motivierte, das Staats-, Rechts- und Politikverständnis diesseits und jenseits des Atlantiks zu durchleuchten. Dabei zeichnete sich sehr schnell ab, dass Gemeinsamkeiten lange Zeit mehr erdacht als tatsächlich vorhanden waren.
Die "ideengeschichtliche Weggabelung" zwischen Europa und den USA, auf die alle Differenzen zurückzuführen sind, fand bereits 1648 mit dem westfälischen Frieden statt. Während sich die später entstandenen Vereinigten Staaten für eine Freiheit vom Staat und zur Religion entschieden, hatte sich in Europa die Religion dem Staat unterzuordnen. Das Volk leistete hier einen freiwilligen Souveränitätsverzicht an den Staat, was eine staatspolitische Identität wachsen ließ. Den Gründervätern der USA erschien die Bindung an den Staat als zu große Einschränkung, sie entschieden sich für die Bindung an Gemeinschaften, an religiöse Gruppen und die Familie.
Wenn heute ein sendungsbewusster amerikanischer Präsident quasireligiös sein Volk auf die Verbreitung seiner kulturellen Werte - wenn es sein muss, auch mit Gewalt - einstimmt, so stößt dieses Verhalten auch in Europa auf Unverständnis. Ein derartiges Vorgehen wird nachvollziehbarer, wenn man sich der ideengeschichtlichen Differenzen zwischen den beiden Kontinenten bewusst wird. Die Autorin hat sie in einer ausgewogenen und detaillierten Weise analysiert und damit zu einem besseren Verständnis und einer längst fälligen Debatte über die vermeintlich gleiche westliche Identität beigetragen.
(ama;04/03)
Gret
Haller: "Die Grenzen der Solidarität"
Aufbau Verlag GmbH Berlin 2002
250 Seiten
ca. EUR 20,00.
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Zusätzliche Literaturempfehlung:
Gret
Haller: "Die Politik der Götter"
Aufbau Verlag 2005
Eine der wichtigsten Stimmen in einer europäischen Debatte
Gret Haller wurde mit der Ehrendoktorwürde der Universität St. Gallen ausgezeichnet,
auch in Würdigung ihrer grundlegenden Analyse des unterschiedlichen Rechts-
und Staatsverständnisses in Europa und in den USA. Ihr neues Buch erörtert die
brisante Frage, warum es für Europa keine Alternative zur Trennung von Religion
und Politik gibt. Seit der Präsidentschaft von George W. Bush zeigt sich deutlicher
als früher, wie brüchig der vermeintlich gemeinsame Wertekanon des Westens ist.
Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem vom US-Präsidenten gelenkten Kampf
gegen den Terrorismus und der Bedeutung von religiöser Identität? Lassen sich
Demokratie und Menschenrechte mittels Militärschlägen exportieren? Stellen Christentum
und Islam mit ihrem jeweiligen Wahrheitsanspruch die europäische Identität in
Frage? Wie läßt sich Streit zwischen den Religionen verhindern? Gret Haller
betrachtet die Achtung der Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und die Stärkung
des Völkerrechts als Maßstab für verantwortliches politisches Handeln. Gleichheit
der Individuen und der Staaten statt religiöser und nationaler Auserwähltheit
führt die Vorstellung von guten und
bösen Nationen ad absurdum und kann das
Eskalieren von innergesellschaftlichen und außenpolitischen Konflikten verhindern.
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