Harri Kallio: "Der Dodo auf Mauritius"
Der finnische Fotograf inszenierte die "Wiedergeburt" der ausgestorbenen Vögel
"Des Kardinal Wolsey' und
Kardinal Richelieu'
Bildnisse, sowie mehrerer anderer historischer Personen zierten diese
Treppe. Unter ihnen befand sich auch das eines berühmten
Gärtners Carls I., Tredescant mit Namen, von welchem
Kollege R... nicht wegzubringen war, das Bild mit einer Art Protektion
betrachtend, und besonders sehr zufrieden mit einer Guirlande von
Mohrrüben und Gurken, die den Gartenahn malerisch umschlang.
Für mich war das Interessanteste auf diesem Gemälde
das Konterfei eines seltsamen, ganz 'Tausend und eine Nacht'
ähnlichen großen Vogels, mit Namen Dodo, der diesem
Gärtner lebendig zugehört haben, seitdem aber nie
wieder seinesgleichen gesehen worden sein soll. Als Beweis, dass die
Geschichte keine Fabel sei, zeigte man uns im museo
noch den ganz fremdartigen Kopf und Schnabel des Dodo." |
Was man über Finnland und die Finnen
gemeinhin weiß ist, dass das Land, seit 1995 Mitglied der
Europäischen Union, sich über etwas mehr als 338000
Quadratkilometer erstreckt, weitläufige Wälder und
zahllose Seen aufzuweisen hat, aktuell von mehr als 5,2 Millionen
Menschen bevölkert wird, dass Helsinki die Hauptstadt ist, und
die Finnen bei der von Zeit zu Zeit durch die Medien geisternden
"PISA"-Studie hervorragend abschneiden. Den Finnen wird gelegentlich
nachgesagt, sie seien erstaunlich redselig und würden zu
Alkoholabstinenz neigen - alles
nur Vorurteile ... |
1939 erhielt ein Finne den Nobelpreis für Literatur: Frans Eemil Sillanpää ("Schönheit und Elend des Lebens", "Silja, die Magd" u.a.), "Für die geistige Tiefe und die Kunst, mit der er das Wesen Finnlands und das Leben der finnischen Bauern in ihren wechselseitigen Beziehungen dargestellt hat".
Nobelpreisverdächtig ist der finnische
Fotograf Harri Kallio kaum, auch gibt es keinerlei wechselseitige
Beziehungen zwischen der ausgerotteten Vogelart und deren einstiger
Heimat darzustellen. Allerdings erhielt Kallio für die Arbeit,
welche der vorliegende Band dokumentiert, den Förderpreis des
Bundes Freischaffender Fotodesigner. |
Ein mit zwei Dodo-Rekonstruktionen im Rucksack umherwandernder Finne sorgt wohl überall für einiges Aufsehen, so auch auf Mauritius, einem im Indischen Ozean gelegenen Eiland von ungefähr 2040 Quadratkilometern Fläche, benannt nach Moritz von Oranien, wo der Fotograf "lebensechte" (?) Szenen in noch einigermaßen naturbelassenen Gegenden nachstellte.
"Zuerst
wurde Mauritius geschaffen, dann das Paradies. Aber das Paradies war
nur eine Kopie von Mauritius." (Mark Twain)
Auf Mauritius ist neben Englisch als Amts- und Unterrichtssprache und
Französisch das Kreolische als Umgangssprache üblich.
Dabei handelt es sich um ein vereinfachtes Französisch,
durchsetzt mit englischen und arabischen Wörtern sowie solchen
aus dem indischen Sprachraum.
Sucht der an Literatur in deutscher Sprache Interessierte
Bücher über Mauritius, die keine touristischen
Reiseführer sind, stößt er unweigerlich auf
"Benares" von Barlen Pyamootoo, erschienen anno 2004 im Verlag Antje
Kunstmann. Der Inhalt: Mayi, ein Fischer aus Benares auf der Insel
Mauritius, hat beim Spiel gewonnen. Er hat ein bisschen Geld und will
sich aus der Stadt für eine Nacht eine Frau holen. Es ist das
erste Mal, dass er sich so etwas traut, deshalb nimmt er seinen Freund,
den Erzähler, mit und einen befreundeten Taxifahrer, der sie
in die Stadt fährt. Weil aber im Hafen ein Frachter mit
liebeshungrigen Seeleuten festgemacht hat, sind keine Frauen in der
Stadt geblieben. Als es schon dunkel wird, finden sie Mina und Zelda.
Durch die Tropennacht geht die Reise, und es beginnt ein langes und
inniges Gespräch. Über Benares reden sie, das Dorf,
und die gleichnamige Stadt in Indien. In Benares angekommen, sind alle
nur todmüde, und ob sich der Zweck der langen Reise
erfüllen kann, wer weiß?
Auch "Die Wellen von Mauritius" (Rowohlt, 1998) der gebürtigen
Südafrikanerin Lindsey Collen erzählt von Ereignissen
auf der paradiesischen Tropeninsel: Mit
einem gewaltigen Sturm begann einst eine dramatische
Familiengeschichte; davon erzählt die weise, sinnliche Fatma
der jungen Shynee, die alle Nahrung ablehnt und sich mit trotzigem Witz
all ihre verletzenden Erfahrungen wieder vor Augen führt,
während in der Nähe das Leben eines ehrgeizigen
Krankenhausarztes entgleist, der für den gesellschaftlichen
Aufstieg alle menschlichen Regungen in sich unterdrückt hat.
Einiger Popularität erfreut sich vor Ort ein Roman von
Jacques-Henri Bernardin de St. Pierre (1737-1814): "Paul und Virginie".
Darin wird die rührende (böse Zungen behaupten
"schmalzige") Geschichte der tragisch endenden Liebe zweier
füreinander bestimmter Naturkinder erzählt.
Wie viele Andere besuchten auch die Schriftsteller Joseph
Conrad und Charles Baudelaire Mauritius; Baudelaire verfasste
unter dem Eindruck des Aufenthaltes u.a. die Gedichte "Parfum exotique"
und "A
une dame créole", in "Les Fleurs du Mal" (dt. "Die
Blumen des Bösen") zu finden.
Für entsprechende musikalische Untermalung sorgt die
traditionelle Séga, ein rhythmischer Tanz, dessen
Ursprünge in der Zeit der Sklaverei liegen, und der heute
vielfach als tourismusfördernde Folklore aufgeführt
wird. Als letzter großer Interpret der Séga gilt
der 1992 verstorbene Ti Frère.
Für Philatelisten ist "Mauritius" (in ehrfürchtiger
Kombination mit "die Rote" oder "die Blaue") ohnedies untrennbar mit
der bekanntesten Briefmarke verbunden. Die ausgerotteten Dodos zieren
ihrerseits so manches Postwertzeichen, und auch das Wappen von
Mauritius zeigt ein Schild, flankiert von einem Dodo und einem Hirsch
sowie von Zuckerrohrstangen, darunter das Spruchband "STELLA CLAVISQUE
MARIS INDICI" (dt. "Stern und Schlüssel des Indischen Ozeans").
Nach diesem Abstecher kehren wir zurück zu "Der Dodo auf
Mauritius".
An Dinosaurier,
die auf Kinoleinwänden und Fernsehbildschirmen
herumhüpfen, als wären sie nicht ausgestorben, hat
man sich mittlerweile wahrscheinlich gewöhnt. Man
weiß, dass dergleichen technisch machbar ist.
Inwiefern könnte also das Aufstellen von Dodo-Modellen zu
einem besseren Verständnis der Tierwelt und mehr
Rücksicht auf die Bedürfnisse der existierenden
Mitwesen beitragen? Oder gibt man sich damit zufrieden, ein weiteres
Kapitel aus der beschämenden Geschichte des Umganges der
Menschen mit der Welt in Wort und Bild zu behandeln?
Dem unverwandten Glasaugenblick einer Dodo-Rekonstruktion
standzuhalten, mag vielleicht eine neuartige Herausforderung
darstellen, doch ob oder inwiefern Harri Kallios Bildband geeignet ist,
ein Bewusstsein für die Kostbarkeiten der Natur zu schaffen,
bleibt dahingestellt. Allzu deutlich erkennt man auf den Bildern,
welche die Modelle am Schauplatz der Ausrottung der Vögel
zeigen, dass es sich nicht um konservierte Momente des Lebens, sondern
um einen Schatten derselben inmitten eines längst von
Menschenhand einschneidend veränderten Biotops
handelt.
So sehr sich Harri Kallio auch bemüht haben mag, die beiden
Vogelmodelle in Szene zu setzen - sie wirken betrüblich starr
inmitten der sorgsam ausgekundschafteten Vegetation der Insel; ein
wenig erhebender Anblick, wenngleich seiner irritierenden Wirkung wegen
nicht uninteressant.
Anzumerken
ist auch, dass anderswo entstandene Rekonstruktionen des Dodo, der nach
heutigem Wissensstand zu den Taubenvögeln gezählt
wird, wesentlich schlankere Lebewesen ergeben, als
sie auf im 17. Jahrhundert in Europa entstandenen Gemälden
(z.B. von Roelandt Savery) verewigt wurden. Als Ursache der Verfettung
der zwangsweise modellstehenden Tierkörper wird mittlerweile
falsche Fütterung angesehen.
In naturwissenschaftlicher Hinsicht hat Harri Kallio nichts Neues
anzubieten, folglich verlagert sich das Interesse an "Der Dodo auf
Mauritius" auf die künstlerische Ebene.
Vielleicht sind Sie mit Willy
Puchners "Pinguin-Projekt" vertraut? Puchner reiste einige
Zeit lang mit zwei Pinguinfiguren, Joe und Sally, um die Welt, wie im
Bildband "Die Sehnsucht der Pinguine" dokumentiert. Dabei war die
offensichtliche Künstlichkeit Bestandteil des Konzepts, und
die Konfrontation von Sein und Schein verlieh dem Ganzen einen
besonderen, zugegeben schrägen Reiz. Puchners Pinguine, die
überall gewollt deplatziert nichtsdestotrotz sympathisch
wirkten, vermitteln dem Betrachter der Fotografien ungewohnte,
gelegentlich absurde Blickwinkel auf Alltägliches und bleiben
solcherart im Gedächtnis.
Puchner: "Joe ist einhundertfünfzehn Zentimeter groß
und fünfeinhalb Kilogramm schwer, seinen Bauch ziert ein
billiger Fotoapparat. Sally misst einhundertzehn Zentimeter und wiegt
fünf Kilo. Ihre Körper bestehen aus Polyesterharz,
sind mit weißem und schwarzem Nitrolack bemalt und an den
Bruchstellen mit rosafarbenem Zweikomponenten-Kitt geklebt, die Ohren,
Schnäbel und Brüste mit gelboranger Wasserfarbe
übertüncht, die Zehennägel Sallys meist rot
lackiert. Nach jeder Reise werden ihre Körperfarben
aufgefrischt. Die Füße von Joe und Sally wurden mit
Holzplatten verstärkt, um ihre Standfestigkeit zu
erhöhen."
Kallio über das Ausgangsmaterial für seine
Dodo-Rekonstruktionen: "Alles, was heute von dem tatsächlichen
Vogel erhalten ist, sind ein Kopf, ein Schädel, ein
Fuß, ein Fußabdruck, einige Hautstücke und
diverses fossiles Material, von dem einiges zum Aufbau von
zusammengesetzten Skeletten benutzt wurde."
Während Willy Puchner freimütig meint, dass er die
Pinguine als Projektionsflächen seiner Sehnsucht sieht, ging
Harri Kallio hingegen mit wissenschaftlichem Ehrgeiz und ehrbarer
Akribie an die Sache heran. In zeitaufwändiger und
mühseliger Kleinarbeit wurden zwei Dodo-Rekonstruktionen
angefertigt.
Willy Puchners Projekt wurde von Reiselust und Sehnsucht inspiriert.
Wer seine Bücher kennt, weiß, dass Puchner sich den
Objekten seiner Betrachtung einfühlsam in liebevoller Weise
nähert, ihr Wesen zu erkennen sucht, jedes Detail
würdigt und in seine Darstellungen einfließen
lässt, diese gewissermaßen von innen nach
außen entwickelt.
In textlich knapp gehaltenen Kapiteln erläutert Harri Kallio
seine Vorgehensweise, zitiert aus eingesehenen Quellen und schildert
daraus gewonnene Erkenntnisse. So wird z.B. in "Die kurze Geschichte
des Zusammenlebens von Dodos und menschlichen Siedlern" auf einer
Buchseite der Bogen von der "Entdeckung" der Insel seitens
niederländischer Forschungsreisender im Jahr 1598 bis zur
Ausrottung der Dodos gegen Ende des 17. Jahrhunderts gespannt, es
folgen die Abschnitte "Historisches und naturwissenschaftliches
Vergleichsmaterial - Besuche in Museen und Bibliotheken", "Die
Überreste lebendig nach Europa gebrachter Dodos",
"Augenzeugenberichte", "Dodos in der Malerei des 17. Jahrhunderts",
"Die Deutung der vorliegenden Informationen: Beweisstücke,
Augenzeugenberichte und Bildquellen", "Anleitung zum Bau eines Dodos -
Plastischer Prozess und Taxidermie", "Die verlorene Landschaft der
Paradiesinsel des 17. Jahrhunderts" und "Arbeit vor Ort mit den
Dodo-Rekonstruktionen". Ab Seite 78 dominieren großformatige
bunte Fotobearbeitungen das Erscheinungsbild des Bandes, man erblickt
verdattert bis aufgescheucht anmutende Vogelgestalten inmitten
üppiger Vegetation wie auch dieselbe ohne
Dodo-Rekonstruktionen.
Ein Literaturverzeichnis sowie eine Liste von Museen, die
Überreste des Dodos besitzen, beschließen den
Bilderreigen.
Ansprechend wirken vor allem die beeindruckenden Detailaufnahmen
tierischer Überreste und die Ablichtungen der metallenen
Vogelgerüste ("Skelette"), die mit der fragilen Grazie von
Balletttänzern bezaubern, mit teils kuriosen Verrenkungen
aufwarten und entfernt an Leonardo da Vincis Skizzen und Modelle aus
den Bereichen Anatomie und Mechanik erinnern.
Harri Kallio, Jahrgang 1970, ist Fotograf; also ein Mann der
arrangierten Oberflächen, der gefälligen
Inszenierungen; kein Tierfilmer, Naturforscher oder Literat. Insofern
wurde "Der Dodo auf Mauritius" vom entsprechenden Gremium, dem Bund Freischaffender
Fotodesigner, ausgezeichnet, wodurch die natürliche Ordnung
der Dinge - diesmal - nicht gestört wurde.
(kre; 12/2004)
Harri
Kallio: "Der Dodo auf Mauritius"
(Originaltitel "The Dodo and Mauritius Island, Imaginary
Encounters")
Edition Braus, 2004. 104 Seiten; ca. 80 Abbildungen.
ISBN 3-89904-118-6.
ca. EUR 41,10. Buch bei amazon.de bestellen
Liens:
Netzseite
von Harri Kallio
Internationaler
Dodoverein i.G.
Zur Legende des Dodo
Bestellmöglichkeiten für im Artikel Erwähntes bei amazon.de: