Harri Kallio: "Der Dodo auf Mauritius"

Der finnische Fotograf inszenierte die "Wiedergeburt" der ausgestorbenen Vögel


"Des Kardinal Wolsey' und Kardinal Richelieu' Bildnisse, sowie mehrerer anderer historischer Personen zierten diese Treppe. Unter ihnen befand sich auch das eines berühmten Gärtners Carls I., Tredescant mit Namen, von welchem Kollege R... nicht wegzubringen war, das Bild mit einer Art Protektion betrachtend, und besonders sehr zufrieden mit einer Guirlande von Mohrrüben und Gurken, die den Gartenahn malerisch umschlang. Für mich war das Interessanteste auf diesem Gemälde das Konterfei eines seltsamen, ganz 'Tausend und eine Nacht' ähnlichen großen Vogels, mit Namen Dodo, der diesem Gärtner lebendig zugehört haben, seitdem aber nie wieder seinesgleichen gesehen worden sein soll. Als Beweis, dass die Geschichte keine Fabel sei, zeigte man uns im museo noch den ganz fremdartigen Kopf und Schnabel des Dodo."
Aus den "Briefen eines Verstorbenen" des Fürsten von Pückler-Muskau (1785-1871)

 

Was man über Finnland und die Finnen gemeinhin weiß ist, dass das Land, seit 1995 Mitglied der Europäischen Union, sich über etwas mehr als 338000 Quadratkilometer erstreckt, weitläufige Wälder und zahllose Seen aufzuweisen hat, aktuell von mehr als 5,2 Millionen Menschen bevölkert wird, dass Helsinki die Hauptstadt ist, und die Finnen bei der von Zeit zu Zeit durch die Medien geisternden "PISA"-Studie hervorragend abschneiden. Den Finnen wird gelegentlich nachgesagt, sie seien erstaunlich redselig und würden zu Alkoholabstinenz neigen - alles nur Vorurteile ...
Man kennt den finnischen Komponisten Jean Sibelius (1865-1957) und möglicherweise auch die Autoren Arto Paasilinna ("Nördlich des Weltuntergangs", "Die Giftköchin", "Der wunderbare Massenselbstmord" u.a.), Leena Lehtolainen ("Wie man sie zum Schweigen bringt", "Der Wind über den Klippen", "Die Todesspirale" u.a.) und Mika Waltari "(Sinuhe der Ägypter"), oder hat vom "Finnischen Nationalepos", der "Kalevala", die der Arzt und Sprachwissenschafter Elias Lönnrot (1802-1884) aus Tausenden von Versen mündlich überlieferter Lieder schuf, gehört.

1939 erhielt ein Finne den Nobelpreis für Literatur: Frans Eemil Sillanpää ("Schönheit und Elend des Lebens", "Silja, die Magd" u.a.), "Für die geistige Tiefe und die Kunst, mit der er das Wesen Finnlands und das Leben der finnischen Bauern in ihren wechselseitigen Beziehungen dargestellt hat".

Nobelpreisverdächtig ist der finnische Fotograf Harri Kallio kaum, auch gibt es keinerlei wechselseitige Beziehungen zwischen der ausgerotteten Vogelart und deren einstiger Heimat darzustellen. Allerdings erhielt Kallio für die Arbeit, welche der vorliegende Band dokumentiert, den Förderpreis des Bundes Freischaffender Fotodesigner.
"Der Dodo auf Mauritius" (bzw. lautet die wörtliche Übersetzung des Titels "Der Dodo und Mauritius; imaginäre Begegnungen") zeigt exakt, was der Titel verspricht: ästhetische Inszenierungen.

Ein mit zwei Dodo-Rekonstruktionen im Rucksack umherwandernder Finne sorgt wohl überall für einiges Aufsehen, so auch auf Mauritius, einem im Indischen Ozean gelegenen Eiland von ungefähr 2040 Quadratkilometern Fläche, benannt nach Moritz von Oranien, wo der Fotograf "lebensechte" (?) Szenen in noch einigermaßen naturbelassenen Gegenden nachstellte.

"Zuerst wurde Mauritius geschaffen, dann das Paradies. Aber das Paradies war nur eine Kopie von Mauritius." (Mark Twain)

Auf Mauritius ist neben Englisch als Amts- und Unterrichtssprache und Französisch das Kreolische als Umgangssprache üblich. Dabei handelt es sich um ein vereinfachtes Französisch, durchsetzt mit englischen und arabischen Wörtern sowie solchen aus dem indischen Sprachraum.
Sucht der an Literatur in deutscher Sprache Interessierte Bücher über Mauritius, die keine touristischen Reiseführer sind, stößt er unweigerlich auf "Benares" von Barlen Pyamootoo, erschienen anno 2004 im Verlag Antje Kunstmann. Der Inhalt: Mayi, ein Fischer aus Benares auf der Insel Mauritius, hat beim Spiel gewonnen. Er hat ein bisschen Geld und will sich aus der Stadt für eine Nacht eine Frau holen. Es ist das erste Mal, dass er sich so etwas traut, deshalb nimmt er seinen Freund, den Erzähler, mit und einen befreundeten Taxifahrer, der sie in die Stadt fährt. Weil aber im Hafen ein Frachter mit liebeshungrigen Seeleuten festgemacht hat, sind keine Frauen in der Stadt geblieben. Als es schon dunkel wird, finden sie Mina und Zelda. Durch die Tropennacht geht die Reise, und es beginnt ein langes und inniges Gespräch. Über Benares reden sie, das Dorf, und die gleichnamige Stadt in Indien. In Benares angekommen, sind alle nur todmüde, und ob sich der Zweck der langen Reise erfüllen kann, wer weiß?
Auch "Die Wellen von Mauritius" (Rowohlt, 1998) der gebürtigen Südafrikanerin Lindsey Collen erzählt von Ereignissen auf der paradiesischen Tropeninsel: Mit einem gewaltigen Sturm begann einst eine dramatische Familiengeschichte; davon erzählt die weise, sinnliche Fatma der jungen Shynee, die alle Nahrung ablehnt und sich mit trotzigem Witz all ihre verletzenden Erfahrungen wieder vor Augen führt, während in der Nähe das Leben eines ehrgeizigen Krankenhausarztes entgleist, der für den gesellschaftlichen Aufstieg alle menschlichen Regungen in sich unterdrückt hat.
Einiger Popularität erfreut sich vor Ort ein Roman von Jacques-Henri Bernardin de St. Pierre (1737-1814): "Paul und Virginie".
Darin wird die rührende (böse Zungen behaupten "schmalzige") Geschichte der tragisch endenden Liebe zweier füreinander bestimmter Naturkinder erzählt.
Wie viele Andere besuchten auch die Schriftsteller Joseph Conrad und Charles Baudelaire Mauritius; Baudelaire verfasste unter dem Eindruck des Aufenthaltes u.a. die Gedichte "Parfum exotique" und "A une dame créole", in "Les Fleurs du Mal" (dt. "Die Blumen des Bösen") zu finden.
Für entsprechende musikalische Untermalung sorgt die traditionelle Séga, ein rhythmischer Tanz, dessen Ursprünge in der Zeit der Sklaverei liegen, und der heute vielfach als tourismusfördernde Folklore aufgeführt wird. Als letzter großer Interpret der Séga gilt der 1992 verstorbene Ti Frère.
Für Philatelisten ist "Mauritius" (in ehrfürchtiger Kombination mit "die Rote" oder "die Blaue") ohnedies untrennbar mit der bekanntesten Briefmarke verbunden. Die ausgerotteten Dodos zieren ihrerseits so manches Postwertzeichen, und auch das Wappen von Mauritius zeigt ein Schild, flankiert von einem Dodo und einem Hirsch sowie von Zuckerrohrstangen, darunter das Spruchband "STELLA CLAVISQUE MARIS INDICI" (dt. "Stern und Schlüssel des Indischen Ozeans").

Nach diesem Abstecher kehren wir zurück zu "Der Dodo auf Mauritius".
An Dinosaurier, die auf Kinoleinwänden und Fernsehbildschirmen herumhüpfen, als wären sie nicht ausgestorben, hat man sich mittlerweile wahrscheinlich gewöhnt. Man weiß, dass dergleichen technisch machbar ist. 
Inwiefern könnte also das Aufstellen von Dodo-Modellen zu einem besseren Verständnis der Tierwelt und mehr Rücksicht auf die Bedürfnisse der existierenden Mitwesen beitragen? Oder gibt man sich damit zufrieden, ein weiteres Kapitel aus der beschämenden Geschichte des Umganges der Menschen mit der Welt in Wort und Bild zu behandeln?

Dem unverwandten Glasaugenblick einer Dodo-Rekonstruktion standzuhalten, mag vielleicht eine neuartige Herausforderung darstellen, doch ob oder inwiefern Harri Kallios Bildband geeignet ist, ein Bewusstsein für die Kostbarkeiten der Natur zu schaffen, bleibt dahingestellt. Allzu deutlich erkennt man auf den Bildern, welche die Modelle am Schauplatz der Ausrottung der Vögel zeigen, dass es sich nicht um konservierte Momente des Lebens, sondern um einen Schatten derselben inmitten eines längst von Menschenhand einschneidend veränderten Biotops handelt. 
So sehr sich Harri Kallio auch bemüht haben mag, die beiden Vogelmodelle in Szene zu setzen - sie wirken betrüblich starr inmitten der sorgsam ausgekundschafteten Vegetation der Insel; ein wenig erhebender Anblick, wenngleich seiner irritierenden Wirkung wegen nicht uninteressant.
Anzumerken ist auch, dass anderswo entstandene Rekonstruktionen des Dodo, der nac
h heutigem Wissensstand zu den Taubenvögeln gezählt wird, wesentlich schlankere Lebewesen ergeben, als sie auf im 17. Jahrhundert in Europa entstandenen Gemälden (z.B. von Roelandt Savery) verewigt wurden. Als Ursache der Verfettung der zwangsweise modellstehenden Tierkörper wird mittlerweile falsche Fütterung angesehen.

In naturwissenschaftlicher Hinsicht hat Harri Kallio nichts Neues anzubieten, folglich verlagert sich das Interesse an "Der Dodo auf Mauritius" auf die künstlerische Ebene. 
Vielleicht sind Sie mit Willy Puchners "Pinguin-Projekt" vertraut? Puchner reiste einige Zeit lang mit zwei Pinguinfiguren, Joe und Sally, um die Welt, wie im Bildband "Die Sehnsucht der Pinguine" dokumentiert. Dabei war die offensichtliche Künstlichkeit Bestandteil des Konzepts, und die Konfrontation von Sein und Schein verlieh dem Ganzen einen besonderen, zugegeben schrägen Reiz. Puchners Pinguine, die überall gewollt deplatziert nichtsdestotrotz sympathisch wirkten, vermitteln dem Betrachter der Fotografien ungewohnte, gelegentlich absurde Blickwinkel auf Alltägliches und bleiben solcherart im Gedächtnis.
Puchner: "Joe ist einhundertfünfzehn Zentimeter groß und fünfeinhalb Kilogramm schwer, seinen Bauch ziert ein billiger Fotoapparat. Sally misst einhundertzehn Zentimeter und wiegt fünf Kilo. Ihre Körper bestehen aus Polyesterharz, sind mit weißem und schwarzem Nitrolack bemalt und an den Bruchstellen mit rosafarbenem Zweikomponenten-Kitt geklebt, die Ohren, Schnäbel und Brüste mit gelboranger Wasserfarbe übertüncht, die Zehennägel Sallys meist rot lackiert. Nach jeder Reise werden ihre Körperfarben aufgefrischt. Die Füße von Joe und Sally wurden mit Holzplatten verstärkt, um ihre Standfestigkeit zu erhöhen."
Kallio über das Ausgangsmaterial für seine Dodo-Rekonstruktionen: "Alles, was heute von dem tatsächlichen Vogel erhalten ist, sind ein Kopf, ein Schädel, ein Fuß, ein Fußabdruck, einige Hautstücke und diverses fossiles Material, von dem einiges zum Aufbau von zusammengesetzten Skeletten benutzt wurde."
Während Willy Puchner freimütig meint, dass er die Pinguine als Projektionsflächen seiner Sehnsucht sieht, ging Harri Kallio hingegen mit wissenschaftlichem Ehrgeiz und ehrbarer Akribie an die Sache heran. In zeitaufwändiger und mühseliger Kleinarbeit wurden zwei Dodo-Rekonstruktionen angefertigt. 
Willy Puchners Projekt wurde von Reiselust und Sehnsucht inspiriert. Wer seine Bücher kennt, weiß, dass Puchner sich den Objekten seiner Betrachtung einfühlsam in liebevoller Weise nähert, ihr Wesen zu erkennen sucht, jedes Detail würdigt und in seine Darstellungen einfließen lässt, diese gewissermaßen von innen nach außen entwickelt.

In textlich knapp gehaltenen Kapiteln erläutert Harri Kallio seine Vorgehensweise, zitiert aus eingesehenen Quellen und schildert daraus gewonnene Erkenntnisse. So wird z.B. in "Die kurze Geschichte des Zusammenlebens von Dodos und menschlichen Siedlern" auf einer Buchseite der Bogen von der "Entdeckung" der Insel seitens niederländischer Forschungsreisender im Jahr 1598 bis zur Ausrottung der Dodos gegen Ende des 17. Jahrhunderts gespannt, es folgen die Abschnitte "Historisches und naturwissenschaftliches Vergleichsmaterial - Besuche in Museen und Bibliotheken", "Die Überreste lebendig nach Europa gebrachter Dodos", "Augenzeugenberichte", "Dodos in der Malerei des 17. Jahrhunderts", "Die Deutung der vorliegenden Informationen: Beweisstücke, Augenzeugenberichte und Bildquellen", "Anleitung zum Bau eines Dodos - Plastischer Prozess und Taxidermie", "Die verlorene Landschaft der Paradiesinsel des 17. Jahrhunderts" und "Arbeit vor Ort mit den Dodo-Rekonstruktionen". Ab Seite 78 dominieren großformatige bunte Fotobearbeitungen das Erscheinungsbild des Bandes, man erblickt verdattert bis aufgescheucht anmutende Vogelgestalten inmitten üppiger Vegetation wie auch dieselbe ohne Dodo-Rekonstruktionen.
Ein Literaturverzeichnis sowie eine Liste von Museen, die Überreste des Dodos besitzen, beschließen den Bilderreigen.
Ansprechend wirken vor allem die beeindruckenden Detailaufnahmen tierischer Überreste und die Ablichtungen der metallenen Vogelgerüste ("Skelette"), die mit der fragilen Grazie von Balletttänzern bezaubern, mit teils kuriosen Verrenkungen aufwarten und entfernt an Leonardo da Vincis Skizzen und Modelle aus den Bereichen Anatomie und Mechanik erinnern.

Harri Kallio, Jahrgang 1970, ist Fotograf; also ein Mann der arrangierten Oberflächen, der gefälligen Inszenierungen; kein Tierfilmer, Naturforscher oder Literat. Insofern wurde "Der Dodo auf Mauritius" vom entsprechenden Gremium, dem
Bund Freischaffender Fotodesigner, ausgezeichnet, wodurch die natürliche Ordnung der Dinge - diesmal - nicht gestört wurde.

(kre; 12/2004)


Harri Kallio: "Der Dodo auf Mauritius"
(Originaltitel "The Dodo and Mauritius Island, Imaginary Encounters")
Edition Braus, 2004. 104 Seiten; ca. 80 Abbildungen.
ISBN 3-89904-118-6.
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Liens:
Netzseite von Harri Kallio
Internationaler Dodoverein i.G.
Zur Legende des Dodo

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von Frans Eemil Sillanpää "Benares" von Barlen Pyamootoo
von Leena Lehtolainen "Paul und Virginie" von Jacques-Henri Bernardin de St. Pierre
"Die Wellen von Mauritius" von Lindsey Collen "Die Sehnsucht der Pinguine" von Willy Puchner
   
CD-Tipps:  
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