Gerald Sommer / Kai Luehrs-Kaiser (Hrsg.): „Schüsse ins Finstere – Zu Heimito von Doderers Kurzprosa“
Die tiefblau gassenlang gezogene Himmelsfahne spricht Abwesendes aus, Weite der Hügel und Wälder vor der Stadt: in den Farben doch hier dargestellt durch zwei angegoldete Bäume in einem Hof, der dem Auge im Vorbeieilen einen tieferen Einblick öffnet als die sonst abweisend im Grau fortlaufenden Fronten der Häuser. Der Herbst in der Stadt saugt und zieht nach allen Richtungen. Das geht bis zu einer Art Drohung. Das Jahr neigt sich und grausam zugleich zeigt es seinen schönsten Schein. Gerade im Herbst, und nicht nur konventioneller Maßen im Frühling, geschieht aus einer gewissen Aufgejagtheit viel Unbesonnenes durch Menschen, die in ihrer augenblicklichen Verengung doch die Nachbarschaft des genauen Gegenteiles spüren.
(aus: Die Lerche; Heimito von Doderer. „Neufassung“ vom 1. Juni 1953)
Von solch sinnlicher Urgewalt ist Doderers Prosa, dass es augenblicklich unmöglich erscheint, nicht dieser kraftvollen Poesie zu verfallen, gleich ob es sich dabei jetzt um seine einem allgemeinen Wissensbestand angehörenden voluminösen Romane oder um seine eher weniger bekannte Kurzprosa handelt. Letzterer – einer wahrhaftigen Perlenreihe - zu mehr verdienter Popularität zu verhelfen, ist das edle Anliegen jenes zu besprechenden Bandes Nummer 2 aus einer Schriftenreihe der Heimito von Doderer-Gesellschaft. Konkret handelt es sich bei „Schüsse ins Finstere“ um eine Sammlung von Textdokumenten, Aufsätzen, Ansprachen, Rezensionen und Berichten, welche in Summe geeignet sind dem Leser mit Doderers Wirklichkeits- und Literaturverständnis vertraut zu machen. In seinem Beitrag über die Dynamik der stehenden Bilder in Doderers Prosa bekennt Wendelin Schmidt-Dengler eine gewisse Verlegenheit, dessen, der sich heute darauf einlässt, Doderers Leistung in knapper Form zu würdigen, weil er nicht wisse, wo er mit seinen Empfehlungen einsetzen solle. Ähnlich geht es dem Rezensenten mit diesem Buch, dessen Raffung in kritischer Würdigung gar Manches amputiert und missachtet. Wie dem auch immer sei, von besonderer Bedeutung erachte ich die umfassend dokumentierte Genese der doch recht bekannten Kurzgeschichte „Die Lerche“, in deren Verlauf jener bekannte Satz von Franz Blei eliminiert wurde, der als Zitat dem Kurztext ursprünglich eine eigentümliche Prägnanz verlieh und Doderer später als allzu demonstrativ erschien. Dieser sehr einprägsame Satz lautete: „Das Politische ist die letzte, die böseste Verflachung des Menschen“ und verweist im textualen Kontext auf ein dummes Gespräch mit einer Dummen, somit auf ein politisches Gespräch. In einer Tagebuchnotiz bekannte Doderer dazu: „Das Politische ist nicht mein erster, nicht mein intensivster aber mein objektivster Schritt in’s Irreale gewesen, sozusagen das Betreten von dessen unheimlicher Küste nach langer, schwankender Kreuzfahrt in schon von ihr beherrschten und fingierten Meeren.“ Freilich war sich Doderer jedoch auch dessen bewusst, dass „... die Politik in der Vorstellung fast aller einen üblen Ruf hat ...“ und nichtsdestotrotz ein notwendiges Übel ist. Summa summarum, die von Mitherausgeber Gerald Sommer geführte Analyse von „Die Lerche“ fasziniert im Detail und vermittelt den Werdeprozess eines kleinen Kunstwerks, welches seinen Creator wohl doch über einen längeren Zeitraum beschäftigt hat.
Ein weiteres sehr interessantes Kapitel scheint mir Wendelin Schmidt-Denglers Aufsatz über Heimito von Doderers Verhältnis zur avantgardistischen „Wiener Gruppe“ zu sein, welcher Doderer zwar nicht angehörte, deren Gewaltrhetorik ihm jedoch wesensverwandt war. Einer der führenden Köpfe dieser „Wiener Gruppe“ war Oswald Wiener, welcher Doderer ein Kapitel seines Romans „die verbesserung von mitteleuropa“ widmete. Passenderweise handelt es sich hierbei um das Kapitel „purim“, das Prügelfest, wo am Ende Brachialgewalt zum zentralen Motiv wird. Doderer, das „Wiener Urviech“, war für Oswald Wiener der Repräsentant einer verlorenen Urtümlichkeit, ein Kuriosum, das kraftvoll noch in die eigene Gegenwart als ein respektabler Fremdkörper ragte, merkt Wendelin Schmidt-Dengler in trefflicher Charakterisierung des Schriftstellers an. Und wer nun um den besonders herzlichen Gewaltbezug Doderers weiß, wer erlesen hat mit welcher sprachlichen Wut er seine literarischen Geschöpfe traktiert, der wird die vermutliche Nähe zur ebenso gewaltrituellen „Wiener Gruppe“ (denken wir nur an Oswald Wieners Prügelexzess in „Das Wohl der Familie“), der nebst Oswald Wiener auch noch Friedrich Achleitner, H.C. Artmann, Konrad Bayer und Gerhard Rühm angehörten, wohl kaum in Abrede stellen.
Dieses
verdächtige Verhältnis Doderers zu Gewalt und
Gewaltausübung leitet unmittelbar zu einem weiteren
unumgänglichen Schwerpunkt in der Betrachtung der Dodererschen
Kurzprosa über; und zwar zur Kurzgeschichte „Trethofen“,
welcher sich der Kölner Privatgelehrte und Mäzen
Henner Löffler annimmt, der mit seinem Doderer-ABC,
einem „Lexikon für Heimitisten“
eine beachtliche, wenn auch partiell umstrittene, Theorie der Prosa
Doderers verfasst hat. Das eigentliche Manko des Bundesrepublikaners
Henner Löffler dürfte dabei die mangelnde Kenntnis
des besonderen österreichischen Volkscharakters sein, welcher
auf der spezifischen Ausartung eines hinterfotzigen Charmes beruht, der
den aufrechten Micheln aus Deutschland offenbar für immer und
ewig verborgen bleiben wird. Anders ist die Fehldeutung des
Kölners nicht verständlich, wenn er die in Trethofen
zum Brauchtum erstarrte Umgangsform höflicher
Brachialität als Einbruch des Chaotischen in eine ansonsten
mustergültig geordnete kleinbürgerliche Welt
verkennt. Diese Praxis unmittelbarer Brachialität ist viel
mehr Teil der sittlichen Wohlgeordnetheit Trethofens, und sie ist
moralisch viel höher zu werten, als die sonst unter
Österreichern übliche Praxis manierlicher
Höflichkeit, welche eine besonders subtile Form
unterschwelliger Gewaltanwendung ist, basierend auf freundlich
lächelnder Verlogenheit. Trethofen verkörpert die
Doderersche Vorstellung ehrlicher Ordnung; also von wegen Chaos?! Man
macht sich einfach nichts vor, und diese Unmittelbarkeit im Miteinander
hat sich zum eingewöhnten Brauch verfestigt, den man als
fraglose Gegebenheit hinnimmt, gegen den man nicht aufbegehrt.
Beziehungsweise: „Ja, so geht’s schon
dahin.“ - um es mit den Worten resignativer
Schicksalsergebenheit des Trethofener Wirts auszudrücken.
Gewiss, der mit Doderer identische Ich-Erzähler steht unter
Schock, doch handelt es sich hierbei um den ganz gewöhnlichen
Kulturschock, den man bei Gewahrung einer fremden Welt mit fremd
anmutenden Bräuchen zwangsläufig erleidet. Trethofen
scheint mir weniger das vermutliche Kuriosum, als das
tatsächliche Österreich zu sein, welchem Doderer die
freundliche Maske des allezeit höflichen Charmeurs abnimmt.
Natürlich ist diese Praxis unablässiger schwerer
Brachialitäten dumm und natürlich reagiert der
Chronist von „Trethofen“ mit wachsendem Grimm
darauf, doch von totaler Unordnung, totalem Chaos und totaler
Aggression kann beim besten Willen keine Rede sein. Vielmehr haftet
dieser troglodytischen Lebensform, beruht sie nur fest auf sich selbst,
etwas durchaus Stabilisierendes an, was sich verkörpert als
Schwerfälligkeit (als typisch österreichische
Schwerfälligkeit), welche durch keine Sprache der Vernunft
irritierbar ist, ewig und dumpf vor sich hinbrütet. Allein
noch der brachiale Wutanfall verhält sich adäquat zu
dieser epidemischen Ausbreitung privater Dummheit ins allgemein
Gebräuchliche und wird solcherart selbst zum Normalfall
barbarischen Brauchtums, der jedoch allemal noch eine Form rigoroser
Geordnetheit ist. Inwiefern der Vollblut-Österreicher Doderer
darin einen allgemeinen Ausdruck menschlicher Lebensnot erblickte oder
nicht ganz einfach doch nur von „Urviecherei“ der
typisch österreichischen Art, bleibt meines Erachtens
dahingestellt, doch würde ich intuitiv aus vollster innerer
Überzeugung auf Letzteres tippen. Sein Menschenbild
dürfte nämlich kaum ein allzu philanthropisches
gewesen sein, wie auch seine wenig schmeichelhafte Vorstellung des
Österreichers, diesem deutliche Züge von Bigotterie
zuschreibt. Den Text als persönlich motivierte Aufarbeitung
nationalsozialistischer Verirrungen auszulegen (Doderer war im Alter
von 36 Jahren der NSDAP beigetreten – weil wohl ihrem
pathetisch inszenierten Gewaltkult erlegen - um sich wenige Jahre
später wieder von ihr zu distanzieren) mag zwar
grundsätzlich vertretbar sein, weil auch manches
dafür spricht; insbesondere der Verweis auf die von
Gewaltinszenierungen ausgehende Faszination, wie auch die in anderem
Zusammenhang eingestandene dumme Hinwendung zur Politik (was jedoch
auffällig verwaschen bleibt, zumal Politik nicht gleich
Politik ist). Andererseits wissen wir heute, dass der
Nationalsozialismus nicht allein ein Führerkult im Sinne eines
bloßen Hitlerismus war, sondern eine breite gesellschaftliche
Strömung, welcher viele Österreicher (mindestens 25%
waren Parteimitglieder) – insbesondere auch gebildete und
intellektuelle Personen – aus unterschiedlichsten, teils
sogar ehrbaren - wenn auch verblendeten - Motiven zugelaufen sind, ohne
dass sie solcherart in jedem einzelnen Fall irgendetwas Bestialisches
beabsichtigt hätten. Politikwissenschaftliche Analysen des
Nationalsozialismus zeichnen ein gleichermaßen
breitgefächertes wie in sich differenziertes Bild einer
Geistesströmung, die wie eine Sturzflut über das Land
hereinbrach. Wesentlich für die sittliche Betrachtung sollte
heute nicht die oberflächliche Tatsache sein, dass jemand der
Partei beigetreten ist, sondern, dass er bei Zeiten seinen Fehler
erkannte und nicht zum „strenggläubigen
Nazi“ wurde, der allen Untaten innerlich zustimmte (nach
ernsthaften Schätzungen waren rund zwei bis drei Prozent der
österreichischen Bevölkerung den
"nationalsozialistischen Idealisten" zuzuordnen; jedenfalls handelte es
sich um eine relativ kleine Minorität). Der in Hinblick auf
seine antifaschistische Gesinnung unzweifelhaft integere Sachbuchautor
und ehemalige liberale Parteigründer Herbert Kraus (Verband
der Unabhängigen; 1949), stellte dazu, als besonders
kompetenter Kenner der Materie, in seinem 1988 erschienen Buch
„Untragbare Objektivität“ fest:
„Schuld und Unschuld dieser Periode nur nach
Äußerlichkeiten wie die Parteimitgliedschaft zu
beurteilen, ist nicht möglich. Oft sind die übelsten
Helfer des Nationalsozialismus, die Denunzianten, gar keine
Parteigenossen gewesen und nach dem Krieg ganz ungeschoren
davongekommen. Wenn sich oben in der Staatsführung der Geist
des Bösen zeigt, wird auch unten im Volk manch niedriger
Instinkt geweckt. Zielführend ist vielleicht die Frage: Welche
Kategorien von Menschen sind nicht veranlasst gewesen, der NSDAP
beizutreten?“ Auch Doderer war - wie so viele andere
österreichische Denker und Künstler - der Faszination
des Nationalsozialismus ursprünglich erlegen, doch hat er
seinen Irrtum nach wenigen Jahren eingesehen und sich zwischenzeitlich
mit keiner Schandtat befleckt.
Jedes Buch ist partiell anfechtbar, weil jede Anfechtung subjektiv perspektivisch – also aus dieser Sicht unvermeidlich - ist. Kritikpunkte sind weniger auf objektive Mängel des Textes zurückzuführen (der für sich genommen vollkommen ist), als auf subjektive Erkennung von Beanstandungsgründen, welche im kritischen Betrachter wurzeln. Sämtliche Textdeutungen im besprochenen Buch sind letztlich vertretbar und durchwegs aus gediegener Sachkenntnis erwachsen. Es liegt in der Natur der Sache, dass divergierende Meinungen auftreten können, welche sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln ergeben. Eine allzu mutwillige Auf- oder Abwertung von divergierendem Bestandsmaterial ist gegenständlich in keinem Fall angeraten. Viel mehr schätze ich mich glücklich, dass es dieses langersehnte Buch endlich gibt, welches in so glücklicher Manier die Kurzprosa Doderers aus literaturwissenschaftlicher Perspektive erhellt.
(Harald Schulz; 28. Juni 2002)
“Schüsse
ins Finstere. Zu Heimito von Doderers Kurzprosa"
Taschenbuch. Königsh./Neum., 2001.
296 Seiten
ISBN 3-8260-2076-6
ca.
EUR 35,00 Buch
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Weiterer Literaturtipp:
Peter von Tramin:
"Die Herren Söhne"
Peter von Tramin schildert in seinem hochgelobten Roman aus dem Jahr
1963 die gesellschaftlichen Verhältnisse im Wien der
1950er-Jahre.
Er analysiert die ausgeprägten
Charaktere mithilfe seines Protagonisten Peter Schwengkh, der gleichsam
als Chronist seiner Zeit und als Analyst seiner Freunde auftritt. Die
Figuren, alle mit Namen "Peter" und allesamt Söhne aus
großbürgerlichem Milieu, junge Wiener
Intellektuelle, bilden einen Kreis, in dem sich
Machtverhältnisse und Intrigen zu einem gefährlichen
Spiel auf Zeit entwickeln.
"Die Herren Söhne" ist nicht nur ein wichtiges
zeitgeschichtliches Dokument, sondern vor allem auch ein literarisches,
das nach langer Zeit der Vergessenheit wieder entdeckt wurde.
Wie sein Lehrer und Förderer
Heimito
von Doderer steht Peter von Tramin mit seiner teils
fantastisch-realistischen Prosa in der Tradition von Fritz
von Herzmanovsky-Orlando.
Peter von Tramin, eigentlich Peter Richard Oswald Tschugguel, wurde
1932 in
Wien geboren, wo er anno 1981 starb. Studium der
Rechtswissenschaften, danach als Bankkaufmann und Übersetzer
tätig. Der Roman "Die Herren Söhne" erschien erstmals
im Jahr 1963, der Autor erhielt dafür den
"Österreichischen Staatspreis für Literatur". (Metroverlag)
Buch
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