Heimito von Doderer: „Trethofen“


In Ausübung seines Dienstes als Inspektor eines Brandschadenversicherungsinstitutes gelangt der Ich-Erzähler nach Trethofen, welches, auf den ersten Blick hin, ein stattlicher Ort zu sein scheint. Der Inspektor quartiert sich in einem anheimelnd wirkenden Wirtshaus ein, von wo aus er Zeuge einer offenbar völlig unmotivierten Gewalttat eines Dörflers gegen den hiesigen Messner wird. Mehr noch als die Gewalttat selbst erschreckt ihn jedoch die frappante Unberührtheit, mit der ein weiterer zugegen seiender Dörfler diesem Vorfall begegnet. Auch sein Wirt erweist sich sodann, vom Inspektor auf das Geschehen angesprochen, nicht weiter irritiert und bekundet stattdessen mit anteilnahmelosen Floskeln eine herzlose Gleichgültigkeit, wie sie ungeheuerlicher nicht mehr sein könnte.

Am darauffolgenden Tag gewahrt der Inspektor eine kleine Menge von Dörflern, die, als Gruppe dastehend, einer munteren Unterhaltung frönen. Das Sonderbare, ja Erschreckende, an dem geselligen Beieinandersein sind die gleichzeitig erfolgenden schweren Brachialitäten zwischen den Teilnehmern der Unterhaltung. Und noch sonderbarer erscheint dem Inspektor, dass die kräftigen Ohrfeigen und Fußtritte, welche die Dörfler einander in einem fort versetzen, offensichtlich der ansonsten ganz gewöhnlichen Unterhaltung nicht im Geringsten schädlich sind, geschweige denn zu einem Abbruch des heiteren Redeflusses in der Gruppe führen, was den Beobachter im Bewusstsein seiner Unfähigkeit zu einem solchen Gesprächsstil zwar in Angst versetzt, gleichzeitig jedoch mit eingestandener Bewunderung erfüllt. Gleichermaßen verärgert wie eingeschüchtert ist es ihm nun darum zu tun, diesem merkwürdigen Ort, wo’s der Brauch ist einander abzuwatschen, möglichst rasch zu entfliehen, doch verabschiedet er sich von seinem Wirten mit einer herzlichen Gewalttat, indem er dem allezeit Gleichgültigen einen Eimer voll Tünche über den Kopf stülpt. „Ist’s der Brauch!“, brüllt der Inspektor dazu und ist heilfroh, dass der Starter seines Autos in dieser Situation klaglos funktioniert.

“Trethofen“ steht exemplarisch für die, nebst seinen bekannteren Romanen wie etwa „Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre“, wenig beachtete Kurzprosa Doderers und wurde zuletzt als Abrechnung des Autors mit seiner eigenen fragwürdigen Vergangenheit zur Zeit des Nationalsozialismus gedeutet; eine heftig umstrittene Interpretation, die dem besonderen, nämlich affirmativen Bezug Doderers zur Gewaltfrage meines Erachtens zu wenig Beachtung schenkt. Wie auch immer Interpreten diese Kurzgeschichte auslegen und noch auslegen werden, so bleibt sie doch ein zeitloses Meisterwerk der Gattung Minutenlektüre, die besonders für dauerhaft gestresste Zeitgenossen ohne disponibles Zeitbudget als kurzweilige Erheiterung zwischen Tür und Angel zu empfehlen ist. Und natürlich ist der Tiefsinn Dodererscher Texte jedenfalls immer noch mehr als bloße Unterhaltung. Wer es noch nicht wusste, der wisse es ab nun: Doderer ist große Literatur, auch in seinen allerkürzesten Texten. „Trethofen“ ist der überzeugendste Beweis dafür.

(Harald Schulz; 8. Mai 2002)