Henry James: "Lady Barbarina"

Erzählung


Wenn Welten aufeinander treffen

Erfreulicherweise scheint Henry James im deutschsprachigen Raum eine Art Renaissance zu feiern. Obschon großer Klassiker und Wegbereiter der modernen Literatur, ist er doch einer der Autoren, die zwar grundsätzlich geschätzt, allerdings viel zu selten gelesen werden. Das liegt unter Anderem an der Sperrigkeit seiner Prosa, vor allem in den breit angelegten großen Romanen, den teilweise extrem langen Sätzen und einer großen inneren Ruhe, die leicht als Langatmigkeit vorverurteilt werden kann. James zwingt seine Leser, wirklich langsam zu lesen, da man sonst zu leicht übersieht, was hier zwischen den Zeilen blüht. Eine Anforderung, die in unserer rasanten, von Brüchen und innerer Unruhe gezeichneten Zeit leicht als Zumutung empfunden werden könnte. Diejenigen, die sich, von äußeren Reizen abgeschottet, mit viel Geduld ins Werk dieses großen Autors stürzen, finden genau jene Erkenntnisse, die ihnen in den meisten kurzlebigen Erfolgsromanen unserer Zeit so fehlen.

"Es ist wohlbekannt, dass es auf der Welt kaum einen prachtvolleren Anblick gibt als die Hauptalleen des Hyde Park an einem schönen Juninachmittag. Just dieser Meinung waren auch zwei Personen, die es sich an einem herrlichen Tag zu Beginn jenes Monats vor vier Jahren unter den gewaltigen Bäumen auf zwei Eisenstühlen bequem gemacht hatten - den großen mit den Armlehnen, für die man, wenn ich nicht irre, zwei Pence bezahlt - und dort mit der langsamen Prozession des Drive im Rücken saßen und mit dem Gesicht zu den lebhafteren Treiben auf der Row."

"Lady Barbarina", man glaubt es kaum, erscheint im "Dörlemann Verlag" als deutsche Erstübersetzung und ist eine etwas längere Erzählung. Nach der Lektüre dieses ausgezeichneten, ja überraschend beschwingt heiteren Texts, fragt man sich, wieso es so lange gedauert hat.

Wie so oft bei Henry James, steht auch hier das Spannungsverhältnis zwischen der englischen Tradition und der viel moderneren aufgeschlossenen Welt Amerikas. Der 1843 in New York geborene James, seit seiner Kindheit immer wieder zwischen Amerika und England hin- und hergerissen, zieht 1876 endgültig nach London und wird kurz vor seinem Tod 1915 sogar britischer Staatsbürger. Es ist letztendlich die Alte Welt, die er zum Leben braucht.

Im Mittelpunkt steht die junge Lady Barbarina Canterville. Ihre traditionsreiche und adelige Familie lebt die britische Tradition im strengsten Sinn. In ihrem Weltbild sollte sich ein wahrer Gentleman mit Jagd und Politik beschäftigen, andere Beschäftigungen sind nur etwas für niedrigere Gesellschaftsschichten. Altes Geld hat mehr Gewicht als neues Geld, auch wenn das alte Geld kaum mehr vorhanden ist.

Der in London lebende us-amerikanische Arzt Jackson Lemon verliebt sich in Lady Barbarina und muss feststellen, dass es nicht so einfach ist, sie zu heiraten. Als neureicher US-Amerikaner in die britische Aristokratie einheiraten? Und gar vielleicht die feine Lady Barbarina ins moderne New York mitnehmen? Alles wirklich nicht so einfach.
"Ihre Schönheit hatte etwas Schlichtes und Robustes; es war die stille Schönheit einer alten griechischen Statue, frei von der Gewöhnlichkeit des modernen albernen Lächelns oder dem, was gegenwärtig als hübsch galt. Sie hatte einen antiken Kopf, und wenn sie auch wie eine Frau von heute redete, sagte Jackson sich, dass die Form ihrer Stirn, ihres Nackens, ihrer Brust und die Art, wie sie den Kopf stets hoch trug, die so edel wirkte und dabei so entspannt, ihre Entsprechung haben musste in irgendeiner primitiven seelischen Lauterkeit. Er sah sie als das, was sie einmal werden könnte, die bildschöne Mutter bildschöner Kinder, in deren Äußeren das 'edle Geblüt' deutlich hervortrat."

Schon die Tatsache, dass er einen Ehevertrag abschließen soll, ist dem Arzt fremd. Da er aber sonst keine Chance auf eine erfolgreiche Brautwerbung hätte, lenkt er schließlich ein und lässt seinen Anwalt einen Vertrag mit der Familie Canterville aufsetzen. Nach der Eheschließung übersiedelt das Paar nach New York.

Während Lady Barbarina, die Aristokratin, sich in New York unwohl fühlt, gefällt die Stadt und das neue, offene Leben ihrer jüngeren Schwester Lady Agatha sehr wohl. Barbarina langweilt sich, zieht sich immer mehr zurück und geht kaum mehr aus. Auch Gäste empfangen will sie nicht mehr. Die lauten, vulgären Frauen widern sie an, und die ungehobelten Männer, ja, über die will sie gar nicht nachdenken. Ihre Verachtung für dieses Leben in der neuen Welt zeigt sie durch demonstrativ überzeichnete Passivität.

Agatha ist schlichtweg hingerissen. In New York findet sie endlich das, was ihr zusagt. Die Möglichkeit, so zu sein, wie man eigentlich sein will. Sich zu kleiden, wie man will, und auch mit einem Herrn Unterhaltung zu pflegen, der gar keinen adeligen Konventionen entspricht. Als sie den Kalifornier Herman Longstraw kennen und lieben lernt, kann sie gar nichts von ihrer Liebe abbringen. Keine Tradition der Welt kann sie von diesem Mann fernhalten, und sie stürzt sich ohne Rücksicht auf Brüche mit ihrer Familie in ihr neues Leben.

Eine Geschichte also, die aus der Feder eines anderen Autors bieder und flach wirken könnte. Henry James allerdings schreibt so präzise, vieldeutig und außergewöhnlich, dass man schnell merkt, dass er dieser gesellschaftskritischen, psychologisch äußerst subtilen Geschichte eine Doppelbödigkeit verleiht, die sie zu einem spannenden und tiefgehenden Erlebnis werden lässt. Zusätzlich ist hier, wie sonst nur selten in seinen Werken, eine gehörige Portion bissigen Humors zugegen, was letztendlich dazu führt, dass die Bewunderung über die Aussage dieses gar nicht biederen Texts mit Verlauf der Erzählung immer stärker anwächst. Besonders beeindruckend ist die Ökonomie der Erzählungsperspektive: Aus Sicht eines auktorialen Erzählers konzentriert sich James nur auf die Innenansichten. Auf die Menschen per se. Wenn Beschreibungen von Landschaften vorkommen, dann auch nur indirekt. Dadurch entsteht eine zusätzliche Dichte, die einen immensen erzählerischen Sog erzeugt.

Die Übersetzung von Karen Lauer ist kongenial, ihre Lösungen künstlerisch ausgezeichnet gelungen und rundum überzeugend.

"Lady Barbarina" ist die wunderbare Geschichte einer Ehe, die mit zwei grundlegend unterschiedlichen Weltsichten zu kämpfen hat, ein psychologisch feinfühliges Psychogramm wundersamer Protagonistinnen und Protagonisten, die mit ihren Anschauungen leben müssen.

(Roland Freisitzer; 12/2017)


Henry James: "Lady Barbarina"
(Originaltitel "Lady Barbarine")
Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Karen Lauer.
Dörlemann, 2017. 221 Seiten.
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