Bohumil Hrabal: "Die Romane"
Zehn
Romane als Resümee eines böhmischen Lebens
Im Hinterzimmer der Prager Bierstube "Zum goldenen Tiger" saß
in den 1980er-Jahren nahezu immer, wenn ich ins Lokal kam, eine Runde
älterer, sehr gesprächiger Herren. Deren
Lärmpegel stieg im Laufe des Abends mit dem Bierverbrauch. Das
Ansteigen der Akustik und der Promille war vor allem auf einen von
ihnen zurückzuführen, der wortgewaltig die Runde mit
offenbar heiteren Erzählungen unterhielt. Mein in
universitären Sprachkursen erworbenes Tschechisch reichte
nicht zum Verständnis der Anekdoten, Witze, Schmähs;
zudem war nur den Stammgästen der Zutritt zum Hinterzimmer, zu
diesem bierdampfigen Zweitwohnzimmer, erlaubt. Es dauerte nicht lange,
bis ich erfuhr, wer der gesprächigste dieser zerzausten
älteren Herren war: Bohumil Hrabal.
Bei der Lektüre seiner gesammelten Werke habe ich den
begeisterten und faszinierenden Erzähler in den Hauptfiguren
einiger seiner Romane wieder erkannt. Man könnte mit der
Literaturwissenschaft sagen, dass Bohumil Hrabal (1914-1997) die
Subjektivität des Individuums zur Geltung bringt und sich
gegen eine Literatur wendet, die den Menschen als Kollektivwesen
ansieht - im Sozialismus eine verdächtige Einstellung. Oft
wird sein Stil mit den Methoden des Filmschnitts verglichen: er
montiert Bilder und Szenen, die zusammen neue Bedeutungen, neue Bilder
ergeben.
Man könnte aber auch fast jeden einzelnen seiner zehn Romane
heranziehen, um sein Werk durch sein Leben (und umgekehrt sein Leben
durch sein Werk) zu erklären: Scheinbar ungeordnet
erzählt ein Mann aus seinem Leben, übertreibt
manchmal ein bisschen und öfters wohl sehr, schildert das
Leben von Kindern in einer böhmischen Kleinstadt in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts, beschreibt in drastischen Worten
Erlebnisse der ersten Liebe, sieht in wechselnden Berufen die Chance,
möglichst vielen Menschen zu begegnen, um von ihnen ihre
witzigsten Erinnerungen zu hören.
Ich weiß nicht, was Bohumil Hrabal seinen Bierkollegen im
"Goldenen Tiger" alles erzählte - der Tonfall und die
Erzählgewalt hätten jedenfalls aus jedem seiner
Romane stammen können. Er nutzte ganz einfach seine Art zu
kommunizieren, sein Dahinschwafeln und Bafeln, mit Erfolg auch
literarisch. Die Zusammenfassung des Romanwerks in ein sehr dickes Buch
mit fast eineinhalbtausend Dünndruckseiten lässt
diese Gemeinsamkeit, den roten Faden durch die zehn Romane, erkennen;
eine detaillierte Zeittafel und der autobiografische Text "Wer ich bin"
verdeutlichen die enge Beziehung zwischen Person, Werk und Land.
Dem sehr persönlichen Nachwort von Werner Fritsch ist ein
Zitat Bohumil Hrabals vorangestellt: "Dies Leben ist
schön. Zum Verrücktwerden schön. Nicht dass
es so ist. Aber ich sehe es so." Fritsch reiste 1993 nach Böhmen, um
Hrabal zu treffen und zu interviewen und lernte ihn
und sein Land auf ganz realen Umwegen gründlich kennen. Dass
die gezielte Nennung des Namens Bohumil Hrabal die Reisenden auch vor
Strafmandaten tschechischer Polizisten schützt, erinnert
drastisch an die beiden größten und doch so
unterschiedlichen böhmischen Autoren, an Franz Kafka
und Jaroslav
Hašek, die starben, als Hrabal eine Kindheit
erlebte, von der er später so gerne erzählte.
Wie das seiner beiden Landsleute entzieht sich das Werk Bohumil Hrabals
jeder literarischen und politischen Zuordnung: Er erzählte das
Leben, verwandelte Worte in Leben nicht unbedingt in sein eigenes, aber
in das schöne Leben an sich.
(Wolfgang Moser; 07/2008)
Bohumil
Hrabal: "Die Romane"
Suhrkamp Quarto, 2008. 1487 Seiten.
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Bohumil Hrabal, 1914 in Brünn geboren, promovierte 1946 an der Prager Karls-Universität zum Doktor der Rechte. In den fünfziger Jahren arbeitete er als Versicherungsagent, Handelsreisender, Stahlarbeiter, Altpapierpacker und Kulissenschieber. 1956 erschienen seine ersten Erzählungen. Erst ab 1963 war Hrabal ausschließlich als freischaffender Schriftsteller tätig. In den sechziger Jahren - bis zum Ende des "Prager Frühlings" - konnte Hrabal vieles von dem, was er in den fünfziger Jahren geschrieben hatte, veröffentlichen und wurde rasch, auch international, bekannt. Zu seinen berühmtesten Werken gehören "Ich habe den englischen König bedient", "Allzu laute Einsamkeit" und "Reise nach Sondervorschrift, Zuglauf überwacht". Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings durfte Hrabal bis 1975 nicht mehr publizieren. Eine Auswahl seiner Texte erschien jedoch im Ausland und in Samisdat-Zeitschriften. Bohumil Hrabal starb 1997 in Prag. Er stürzte beim Taubenfüttern aus dem Fenster eines Krankenhauses.