Monika Schiffer: "Arno Gruen"
Jenseits des Wahnsinns der Normalität
Die
erste Biografie über Arno Gruen
Kaum eine andere Person wäre zum Schreiben einer Biografie von
Arno Gruen geeigneter gewesen als eben Monika Schiffer. Schon seit
vielen Jahren kennt sie ihn persönlich und hat viele seiner
Bücher lektoriert. Aus dieser Arbeitsbeziehung entstand jenes
Vertrauen, das nötig für die vielen
Gespräche war, welche die beiden in den zwei vergangenen
Jahren miteinander führten, z.T. auch an den Orten von Arno
Gruens Vergangenheit, die sie gemeinsam aufsuchten. Entstanden ist eine
übersichtliche, durch zahlreiche Bilder aus dem Archiv Arno
Gruens und aktuelle von Monika Schiffer illustrierte Biografie, die,
ohne in intime Details zu gehen, die Lebensstationen Arno Gruens
nachzeichnet und dabei besonderen Wert auf die Darstellung seines
beruflichen Werdegangs und der Entwicklung seiner aus der Psychoanalyse
geborenen Theorien und Ansichten zur Gesellschaft legt.
Denn Arno Gruen hat wie wohl kein anderer Psychoanalytiker seine
tiefenpsychologischen Untersuchungen so entschieden und beharrlich mit
einer grundsätzlichen Zivilisationskritik verbunden.
Unbeirrbar ist er eingetreten für mehr Mitmenschlichkeit in
Familie und Gesellschaft und hat Zeit seines Lebens gegen jede Art von
Fremdbestimmung aufbegehrt. Eine Schlüsselszene berichtet
Monika Schiffer vom gerade eingeschulten kleinen Arno, als der strenge
Lehrer seiner Klasse zur Züchtigung eines auffälligen
Jungen in den Klassenraum hinein fragte, wer bereit sei, den zur Strafe
nötigen Stock beim Hausmeister zu holen und alle
Hände hoch gingen, einschließlich der des
delinquenten Jungen. Nur Arnos Hand blieb unten, und noch heute
sichtlich erschüttert über diese Szene fragt er sich,
wieso alle so schnell bereit waren, bei dieser Ungerechtigkeit
mitzuwirken.
Seine Analysen bewegten sich später in
größeren Zusammenhängen, und immer wieder
ist die misslungenen Entwicklung eines authentischen Selbst das
Kernthema seiner wissenschaftlichen, therapeutischen und
schriftstellerischen Arbeit.
Der auch heute noch gängigen Vorstellung, der Mensch sei von
Natur aus böse und könne nur durch die Entwicklung
eines moralischen Gewissens zum Gemeinschaftswesen sozialisiert werden,
widerspricht Gruen immer wieder in seinen Büchern:
"Das Gute ist nicht einfach Ergebnis ethischer Werte, die
triebhafte Kräfte überlagern. Im Gegenteil:
Moralität speist sich aus fundamentalen inneren Quellen, die
mindestens genauso stark und für das Leben sogar
entscheidender sind als Aggression und Gewalt. Ein Selbst, das in
Autonomie verankert ist, kann nicht mit der Zerstörung leben."
Damit stellt Gruen nicht nur die herkömmliche
psychoanalytische Theorie auf den Kopf, sondern zweifelt auch an den
Prämissen der abendländischen Moralphilosophie, "die
auf das Prinzip der Vernunft baut und davon ausgeht, dass Menschen erst
durch das Übernehmen allgemeingültiger Werte und
Normen zu moralischem Handeln veranlasst werden."
Gruen nennt das die Verwechslung des Phänotyps mit
dem Genotyp.
"Wenn der Mensch mit einem grundlegenden Potenzial zur
Empathie und
Güte geboren wird, dann ist es die
kulturspezifische Sozialisation, die ihn durch ihren Zwang zur
Selbstaufgabe zu einem kriegerischen, missgünstigen und
asozialen Wesen macht. Sie tut dies, indem sie durch Installieren eines
mächtigen Über-Ichs auch die Anteile des Menschen zum
Schweigen verurteilt, die ihn von sich aus moralisch handeln
ließen - mit dem Ergebnis, dass solche Menschen
tatsächlich auf eine stabile externe Struktur angewiesen sind.
Durch Identifikation auf Autorität und
äußere Führung fixiert, brechen sie
auseinander, wenn ihre Leitfiguren an Glaubwürdigkeit und
herkömmliche Normen ihre Gültigkeit verlieren. Dann
bricht der Hass durch, der eigentlich ein Selbsthass ist, den sie nun
auf diejenigen umleiten, die ihnen schwach und minderwertig erscheinen."
Um solche Entwicklungen zu verhindern, braucht der heranwachsende
kleine Erdenbürger einen entsprechenden emotionalen
Nährboden. Was im Menschen angelegt ist, und davon geht Gruen
aus, entfaltet sich erst durch die stimulierenden Zugewandtheit von
Bezugspersonen, in der Regel der Mutter. Dabei, so Gruen, kommt es auf
das richtige Maß der Stimulation an, das nur im
geschützten Raum einer einfühlsamen und
entgegenkommenden Fürsorge gewährleistet ist. D.h.
eine fehlende und mangelnde "Bemutterung" lässt Anlagen
verkümmern und führt zu einem reduzierten Selbst.
In seinem ersten auf Deutsch erschienenen Buch "Der Verrat am Selbst"
formulierte Gruen anno 1984 diesen Zusammenhang so und hat das auch in
seinen weiteren Büchern immer nur variiert, nie
verändert:
" Die menschliche Entwicklung bietet zwei
Möglichkeiten, die der
Liebe und die der
Macht. Der Weg der
Macht, der den meisten Kulturen zugrunde liegt, führt zu einem
Selbst, das die Ideologie des Herrschens widerspiegelt. Es ist ein
Selbst, das auf einem Gespaltensein beruht, nämlich jener
Abspaltung im Selbst, welche Leiden und Hilflosigkeit als eigentliche
Schwäche ablehnt und Macht und Herrschaft als Mittel,
Hilflosigkeit zu verneinen, in den Vordergrund stellt. Ein so
beschaffenes Selbst ist das Prinzip dessen, was als Erfolg in unserem
Leben gilt. Darin liegt die Antithese zur Autonomie."
Arno Gruens Thesen sind aktueller als je zuvor. Nicht nur deshalb
wiederholt er sie auch in seinen in den letzten Jahren erschienenen
Büchern stets. Zwar haben sich die Erziehung von Kindern und
die Behandlung von Säuglingen in den letzten Jahrzehnten
verändert, doch oft hat eine der Autonomie des Selbst
entgegenwirkende Strenge heutzutage einer
Vernachlässigungskultur mitten im Wohlstand Platz gemacht, der
die Entwicklung eines autonomen Wesens sogar noch mehr behindert, weil
diese nachlässige Erziehungskultur, die keine Grenzen und
Rituale mehr kennt, dem Individuum keine wirkliche Angriffs- und
Reibungsfläche mehr bietet. Die Menschen werden einfach nicht
erwachsen.
Dennoch bleibt Gruens Anspruch gültig, den Monika Schiffer am
Ende ihres wirklich gelungenen Buches so formuliert:
"In all seinen Schriften geht es Arno Gruen darum, den
Einzelnen in die Verantwortung zu nehmen, nicht, indem er
große Taten zur Weltenrettung fordert, sondern indem er dazu
motiviert, dem Wahnsinn der Normalität die Wahrheit der
eigenen Gefühle entgegen zu setzen. Das Geheimnis des
Glücks ist die Freiheit, und das Geheimnis der Freiheit ist
der Mut, heißt es bei Perikles. Arno Gruen hat das Geheimnis
des Mutes entschlüsselt: Es geht darum, sich dem eigenen
inneren Feind zu stellen und wieder fähig zu werden, 'aus dem
Herzen heraus zu denken und zu handeln'".
Und dafür ist es nie zu spät, meint ein von diesem
Buch begeisterter Rezensent.
(Winfried Stanzick; 08/2008)
Monika
Schiffer: "Arno Gruen. Jenseits
des Wahnsinns der Normalität"
Klett-Cotta, 2008. 180 Seiten.
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Monika Schiffer, geboren 1950, studierte Psychologie, Soziologie und Erziehungswissenschaften. Sie arbeitete in unterschiedlichsten Branchen von der Forschung bis zum Zeitgeist-Magazin.