Elisabeth Roudinesco: "Die Familie ist tot - Es lebe die Familie"


Ein Plädoyer für die neue Familie

Wer hätte innerhalb des "aufgeklärten" Teils der Gesellschaft vor einigen Jahrzehnten noch einen Pfifferling für die Familie gegeben? Von der Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno gar als Quelle und Ursprung des sogenannten autoritären Charakters diffamiert und in der Folge von vielen Psychoanalytikern in einer ähnlichen Richtung analysiert und dokumentiert, schien die Lebensform Familie ein auslaufendes Modell zu sein, jedenfalls für die gebildeten Schichten. Die Forschungen vieler Feministinnen, die die Familie als Hort des Patriarchats und als dunklen Ort häuslicher und ehelicher Gewalt identifizierten, kamen ab Mitte der 1970er-Jahre noch dazu. Viele Menschen, nicht nur Studenten, experimentierten mit anderen Wohn- und Lebensformen. Die Anzahl der Eheschließungen nahm kontinuierlich ab, erst recht jener mit kirchlichem Segen, die Zahl der Kinder ging drastisch zurück, und die Daseinsform des Alleinstehenden wurde zur Lebens- und Wohnsituation einer immer größeren Anzahl, eben nicht nur alter, Menschen.

Die bekannte Historikerin und Psychoanalytikerin Elisabeth Roudinesco zeichnet in Buch "Die Familie ist tot - Es lebe die Familie" diese Entwicklung zunächst nach. Sie beschreibt das in diesem Teil der Welt religiös vom Abbild Gottes abgeleitete patriarchalische Vaterbild, das über Jahrhunderte die Familien prägte und begründete. Auf sehr verständliche Weise schildert die Autorin die allmähliche Entwicklung der "Invasion des Weiblichen in Familie und Gesellschaft", mit der Folge, dass die Rolle des Patriarchen immer weiter beschädigt wurde. Anschließend werden "Modelle des Weiblichen" dargestellt, wobei Roudinesco insbesondere auf Inhalt und Wirkung des Buches von Simone de Beauvoir "Das andere Geschlecht" eingeht, dessen Einfluss man über die Jahrzehnte gar nicht unterschätzen kann.

Es entstand im Ausgang des 20. Jahrhunderts, befördert durch die sexuelle Befreiung und verschiedene Rechtsreformen zu Ehe und Familie, etwas, das die Autorin als "Die Macht der Mütter" mit erheblichen Folgen auch für die Männer beschreibt:
"Das Ende des 20. Jahrhunderts läutete auch das Ende der Gleichsetzung von Ehe und Familie ein. Die Wissenschaft hatte den Müttern die Macht über die Familie in die Hände gelegt. Die Familie am Ende des Jahrtausends war eine partnerschaftliche Institution, ein Zufluchtsort gegen Ängste. Männer und Frauen akzeptierten, dass sie unterschiedlich waren und zogen daraus Nutzen. Das Bild der symbolischen Ordnung wurde immer verschwommener. Die ’modernen Väter’, hieß es, seien viel glücklicher ... So übernahmen die Männer eine ’bemutternde Rolle’ in dem Augenblick, als die Frauen, weil sie die Prozesse der Befruchtung und Fortpflanzung beherrschten, nicht mehr gezwungen waren, Mutter zu werden."

Der Rezensent kann aus eigener Erfahrung bestätigen, wie schön diese Aufgabe als Mann ist, sich zu Hause um all jene Dinge zu kümmern, die früher alleinige Aufgaben der Frauen darstellten. Welche Folgen diese Veränderungen für und welche Auswirkungen sie auf die Beziehungen und auf die Kinder hat, wird man sehen. Bislang jedenfalls sind unsere Erfahrungen durchweg positiv.

Auf diese Weise wurde die Familie als Lebensform auch für Menschen zugänglich, die bislang davon ausgeschlossen waren: die Homosexuellen. Nicht nur unter ihnen gibt es eine neue Sehnsucht nach Familie, welche die Autorin im letzten Buchkapitel beschreibt und auch eindrücklich die seelischen sowie ökonomischen Ursachen dieser Sehnsucht erklärt. In einer völlig dekonstruierten Welt wie der unseren, die sich auch nicht mehr anders entwickeln wird, bietet allein die Familie den Hort, der dem Einzelnen die größtmögliche persönliche Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeit gewährleistet. Deswegen, so Elisabeth Roudinesco in ihrem Resümee, wird die Familie, bei allen Veränderungen und Mutationen, die sie schon erfahren hat und noch erfahren wird, auch in Zukunft bestehen bleiben.

Auf einen Aspekt des Themas, den dieses Buch nicht behandelt, sei noch hingewiesen. In einem Artikel in des "FAS" vom 13. Juli 2008 weist Carsten Germis darauf hin, dass das freiwillige oder durch entsprechende Verhältnisse erzwungene Leben als Alleinstehender ein ungleich höheres Armutsrisiko in sich trage, als das Leben in einer Familie.

(Winfried Stanzick; 07/2008)


Elisabeth Roudinesco: "Die Familie ist tot - Es lebe die Familie"
(Originaltitel "La famille en désordre")
Aus dem Französischen von Sabine Mehl.
Klett-Cotta, 2008. 240 Seiten.
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Elisabeth Roudinesco ist die wichtigste Historikerin der Psychoanalyse in Frankreich. Sie ist "directeur de recherches" an der Universität Paris und Vizepräsidentin der "Société internationale d'histoire de la psychiatrie et de la psychanalyse". International bekannt wurde sie durch ihre "Geschichte der Psychoanalyse in Frankreich" und ihre Biografie über Jacques Lacan.

Noch ein Buchtipp:

Jacques Derrida, Elisabeth Roudinesco: "Woraus wird Morgen gemacht sein? Ein Dialog"

Jacques Derridas Denken hat einen kaum zu überschätzenden Einfluss: Weltweit wurde er vergöttert, verteufelt und für den modernen Relativismus verantwortlich gemacht, während er für andere Antworten auf die Probleme des Westens fand. Dieser Band bündelt ein ausführliches Gespräch all jener Themen, mit denen sich Derrida zeitlebens beschäftigt hat.
Keiner ist ein besserer Führer durch Derridas Werk als er selbst. Im letzten langen Interview, das er vor seinem Tod gab, spricht der scharfsinnige, witzige Denker über Themen, die sein gesamtes Werk durchziehen: sein Verhältnis zu Philosophen wie Heidegger und Foucault, welche Rolle Marx noch für uns spielen kann, warum wir Freud nicht vergessen dürfen. Zugleich wendet er sich aktuellen Problemen wie der Genforschung, der Gewalt gegen Tiere, der Zukunft der Familie oder neuen Formen des Antisemitismus zu.
In diesem Dialog mit der bekannten französischen Psychoanalytikerin und Intellektuellen Elisabeth Roudinesco erklärt der Meisterdenker noch einmal viele seiner umstrittenen Gedanken und Theorien. Er umreißt das französische Geistesleben der letzten 40 Jahre und gibt einen Ausblick auf Fragen der Gegenwart. Derrida und Roudinesco öffnen im Gespräch einen Horizont, geben erste Antworten auf anstehende und kommende Fragen und verweisen auf die Dämmerung, in der sich abzeichnet, "woraus Morgen gemacht sein" wird. (Klett-Cotta)
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