Roberto Cotroneo: "Diese Liebe"
"Und
würdest du fliehen ... was machte es mir aus
(Mário de Sá-Carneiro)
"Anna welchen Unterschied gibt es zwischen sterben und nicht
mehr gefunden werden?"
"Das Warten, Giovanni. Er könnte an mich denken. Es
ist nicht so, dass nur ich ständig an ihn denke."
Anna wartet und das schon seit dreiundzwanzig Jahren. Sie wartet auf
Edo, ihren geliebten Mann, der eines Tages überraschend an
Amnesie erkrankt und niemanden mehr erkennt, seine Frau nicht, nicht
seine beiden Mädchen Laura und Margherita und auch nicht sein
eigenes Haus.
"Ich war verzweifelt, weil ich die Welt nicht mehr finden
konnte, in die ein graues Schicksal ihn mit Gewalt gestoßen
hatte", erzählt Anna. Herbeigezogene Ärzte
sind machtlos, ein Neurologe in Rom gilt als letzte Hoffnung. Doch am
Morgen vor der Untersuchung verschwindet Edo spurlos, dreiundzwanzig
Tage vor ihrem zehnten Hochzeitstag. Alle Suchaktionen verlaufen im
Sande. Der ehemalige Fußballprofi und jetzige
Buchhändler, mit einer großen Liebe für
Lyrik, bleibt wie vom Erdboden verschluckt und taucht nicht wieder auf.
Anna klammert sich verzweifelt an die Fäden des Schicksals.
Hoffnung ist ihr ständiger Begleiter. In kurzen Episoden und
Splittern und ständig wechselnden Zeitebenen berichtet die
schöne "Professoressa" - Lehrerin für alte Sprachen -
von ihrer großen Liebe. Nach seiner sportlichen Karriere will
Edo seine Schulbildung abgeschlossen wissen und seinen Traum
verwirklichen, eine eigene Buchhandlung zu eröffnen. Dazu holt
er bei Anna das altsprachliche Abitur nach. Und: Edo verliebt sich in
Anna, und Anna verliebt sich in Edo.
Einfache und zärtliche Bilder
"Was war die Liebe zuvor gewesen?", sinniert Anna, "Wo
war sie mir begegnet? Diese Frage hatte sich die meiste Zeit meines
Lebens nicht oft gestellt. Ich denke nicht, dass die Liebe an und
für sich existiert, ich glaube, sie ist ein Kleid, das man
sich auf den Leib schneidert, und dies über einen Zeitraum,
der lange währen kann. Hin und wieder ein Nadelstich, und
gelegentlich vielleicht sogar die eine oder andere aufgetrennte Naht,
die in Ordnung gebracht werden muss. (...) vielleicht liegt das Ewige
gerade in der Fähigkeit, einen flüchtigen Horizont
lebendig zu halten und darauf zu warten, dass er noch einmal erscheint."
Diesen flüchtigen Horizont öffnet sie für
den Leser und lässt ihn in kleinen Portionen an den
Tausenden kleinen Splittern ihres kleinen, großen
Glücks, deren Scherben immer noch in ihren
Erinnerungsfantasien Reflektionen hervorrufen, gerade so, als ob ein
Sonnenstrahl lebendige Muster an die Wand zaubert, teilhaben.
In einfachen und zärtlichen Bildern, immer durchwebt mit
lyrischen Zitaten von Horaz, Ovid
und anderen großen
italienischen Schriftstellern wie Eugenio Montale, der 1975 den
Literaturnobelpreis
erhielt, erzählt sie von
Ausflügen ans Meer, Spuren im Sand, Liebe unter Pinien, dem
Aufbau des gemeinsamen Buchladens und immer wieder von der Kraft der
Literatur. "Vielleicht ist es an uns, in den Dingen der Welt
eine Spur des Paradieses wiederzufinden. Wie Archäologen, die
ihre Fundstücke mit einem Pinsel säubern.
Ich wusste immer, dass unsere Buchhandlung das Paradies ist, eine
Kabbala aus Sätzen; Kombinationen, die es zu finden gilt,
Glückssplitter in Buchstabenform. Starkes Licht von Bedeutung."
Obwohl Edo nicht wiederkommt, lebt er in Anna weiter. So wie ihr
palindromer Name, hat auch ihre Liebe und ihre Hoffnung auf seine
Rückkehr keinen Anfang und kein Ende. Ihre Sehnsucht gleicht
einer Odyssee des Wartens und der Zuversicht. Die immer mehr
verblassende Vergangenheit schreibt sie einfach neu, "als
wäre auch ich eine Dichterin." In der Wohnung
verändert sie jedoch nichts. Alles bleibt so wie es ist. Edos
Kleidung wird regelmäßig gewaschen und
gebügelt, selbst die Zahnbürste steht immer noch an
ihrem Platz. Nicht zufällig scheint der
rückwärts gelesene Name ihres geliebten Mannes das
Wörtchen Ode zu ergeben.
Wunderschöne, mit Fäden voller Poesie
verwebte Sprache
Cotroneo lässt vergangene und zukünftige Zeit
harmonisch in einer Gegenwart zusammenfließen. "Es
ist schon sonderbar, wie die Zukunft sich dehnt, je mehr sie sich mit
Vergangenheit füllt. Ich habe viel Zeit darauf verwendet,
diese Vergangenheit aufzufüllen. Anfangs war sie nicht so
voll. Ich musste erst die fehlenden Teile zusammensuchen. (...) Jedes
Teil, das ich wiederfand, war ein Weg, die Zukunft ein wenig weiter
wegzuschieben."
Die kurzen Sequenzen aus Annas Erinnerungen, die wie die
anagrammatischen Namen der Protagonisten wild durcheinander
geschüttelt werden können, unterliegen keiner
Analogie. Die Botschaft bleibt trotzdem immer die selbe: auch wenn die
Liebe verloren geht, in Büchern kann sie überdauern
und wieder neu erstehen. Wörter können die Dinge
bewegen. "Sie stützen die Wirklichkeit, geben den
Häusern Halt."
Letztendlich erfährt das Buch noch eine
überraschende, aber gelungene Wendung von unglaublicher
Intensität.
In einer wunderschönen Sprache, verwebt mit lyrischen
Fäden voller Poesie und zarter Bilder, mit vielen
philosophischen Denkansätzen, liest sich Roberto Cotroneos
Buch selbst wie ein Poem, ein ununterbrochenes Gedicht, "ein
Epos in Versen". Der Roman offenbart auf
buchstäblich jeder Seite Sätze oder Gedanken, die man
sich einrahmen möchte. Wie treffend passt der im Buch zitierte
Satz des Portugiesen
Fernando
Pessoa: "Lerne, mit der Seele
zu atmen", den sich gleichwohl der Leser zu Eigen machen
sollte.
Einen nicht zu unterschätzenden Anteil hat sicherlich die
Übersetzerin Karin Krieger geleistet, die Cotroneos Worte
empathisch ins Deutsche übertrug und so die
feinfühlig-funkelnde Melange aus Gefühlen, Glaube,
Hoffnung, Erinnerung, Abschied und Liebe zu einem Menschen und vor
allem zur Literatur, fühlbar macht.
Fazit:
"Diese Liebe" ist ein ergreifendes und kluges Buch über die
Macht der Liebe und über die Kraft der Poesie. Schon
über Cotroneos erstes Buch "Wenn ein Kind an einem
Sommermorgen" urteilte
Umberto Eco: "Roberto Cotroneo zeigt,
dass er wirklich weiß, wie Bücher gelesen werden
sollten." Auch dieses Buch offenbart sich als
unerschöpfliche Quelle der Inspiration und als absoluter
Lesegenuss.
"Du warst Klarheit, jetzt bist du nur Rätsel noch,
dort, wo die Erde endet,
wie der schroffe Rand einer Klippe."
(Yves Bonnefoys)
(Heike Geilen; 10/2008)
Roberto
Cotroneo: "Diese Liebe"
(Originaltitel "Questo amore")
Aus dem Italienischen von Karin Krieger.
Gebundene Ausgabe:
Insel, 2008. 159 Seiten.
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Taschenbuch:
Suhrkamp, 2009.
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Roberto
Cotroneo wurde 1961 in
der norditalienischen Stadt Alessandria geboren. Er studierte
Philosophie und
einige Jahre Klavier. Seit 1983 war er u.a. für "L'Europeo",
"L'Espresso"
und "Sole 24 Ore" als Literaturkritiker tätig. Seit 1994
zeichnet er
für den Kulturteil von "L'Espresso" verantwortlich. Er gilt
als der
angesehenste und zugleich gefürchtetste Kritiker Italiens.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Tempestad"
"Für einen unermesslichen Augenblick vergaß
ich meinen Namen."
Mit diesem Satz beginnt der Ich-Erzähler des Romans sein Leben
zu
rekonstruieren. Luis, so könnte er heißen, erinnert
sich an Tempestad, den rätselhaften
Ort seiner Kindheit, irgendwo
in
Lateinamerika. Es ist ein Ort, an dem jeder Geige und Schach spielt und wo
die Spiele niemals enden. Bereits früh hat Luis jenes Tempestad verlassen, um
nach Europa zu gehen, wo er seinen Lebensunterhalt als Kaffeehaus-Musiker
in Venedig verdient. Dort entdeckt ihn eines Tages
Chiara, die einen kühnen Traum verwirklichen will: die
denkwürdigste
Interpretation von
Beethovens "Großer Fuge", op. 133. Dazu
stellt sie
ein Streichquartett zusammen und engagiert Luis als Primarius.
Monatelang übt
die Truppe das Stück, doch als der Traum endlich Gestalt
annehmen will, ist
Chiara plötzlich verschwunden.
Luis macht sich auf die Suche nach ihr, muss feststellen, dass er sie
für immer
verloren hat, und flieht aus Italien. Er verdingt sich als Geiger auf
einem
Kreuzfahrtschiff voller skurriler Gestalten und verspiegelter
Gänge, in denen
er umherirrt wie in einem magischen Theater; hier begegnet er einem
Schachspieler, durch dessen Lebensgeschichte Luis der eigenen
Vergangenheit auf
die Spur kommt. (Insel)
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"Frag
mich, wer die Beatles sind. Brief an meinen Sohn über
die Liebe zur
Musik"
Die elementare Art, wie Musik auf das Seelische wirkt, ist
rätselhaft - so rätselhaft,
dass der größte Seelenkundler der Moderne,
Sigmund
Freud, nichts mit ihr
anzufangen wusste und beinahe Angst vor ihr empfand. Die Musik entzieht
sich dem
rationalen Zugriff, gerade weil sie so unmittelbar wirkt und weil die
Klänge,
die wir lieben, unauflöslich mit unserem Selbst verbunden
sind. Und so nähert
sich Cotroneo dem Phänomen der Musik auch nicht durch Analyse,
sondern erzählend,
in Form eines langen Briefes an seinen kleinen Sohn Andrea: indem er
von Mozart
erzählt und von Jimi Hendrix, von
Chopin und von Keith Jarrett, indem er
beschreibt, wie eine Schulklasse John Lennons "Imagine"
aufführt, ja
indem er in einem erzählten Traum zusammen mit Andrea erlebt,
wie eine private
Uraufführung von Brahms' erstem Klavierkonzert zustande kommt. In Episoden
von ergreifender Schönheit wird klar, wie ein einzelnes
Musikerlebnis prägend
werden kann für ein ganzes Leben, und wir begreifen vom Wesen
der Musik mehr
als durch gelehrte Abhandlungen.
Mit großer Leidenschaft erzählt Cotroneo von der
Musik: vom Musikhören und
vom Musikspielen, von Komponisten und von Menschen, deren Schicksal in
der Suche
nach einer einzigen Melodie kulminiert. Und während wir
Cotroneos Erzählungen
lauschen, wird uns bewusst, welche Bedeutung Musik für unser
Leben hat und dass
sie, trotz allen Kommerzes, "auch heute noch eine
mögliche Form der
Wahrheit ist". (Insel)
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