Urlaub im Büro

I

Als H. eines morgens erwachte, war es sein Bestreben, eine Unmöglichkeit zu bestreiten, die das ganze Jahr über seine Seele belastet hatte. Er verließ also mit einem einzigen Sprung das Bett, und machte sich für seinen ersten Urlaubstag fertig. Da draußen in der großen, freien Welt eine unerträgliche Hitze herrschte, zog er sich eine kurze Hose und ein kurzärmeliges Hemd an, was ansonsten an Arbeitstagen nicht gestattet war. Das Frühstück kostete nicht allzuviel Zeit, sodaß er bald in der üblichen U-Bahn saß, und seinem Urlaubsdomizil entgegenfuhr.
Als Mayer ihn sein Büro betreten sah, glaubte dieser, seinen Augen nicht zu trauen. Langsam ging er auf H. zu, als handle es sich bei jenem um ein Gespenst. "Herr H.", sprach er ihn aus sicherer Schrittentfernung an. "Ich dachte, Sie seien auf Urlaub". H. lächelte, ohne ein Wort zu erwidern, und setzte sich in seinen altgewohnten Bürosessel. Hier war er heimisch, dachte er bei sich, und schlug das eine Bein über das andere. Er zauberte ein Feuerzeug aus der Hosentasche, und zündete sich mit diesem eine Zigarette an, die er schließlich mit breit dargestelltem Entzücken rauchte. Mayer, der es gewohnt war, von H. während der Arbeitszeit acht Stunden lang herumkommandiert, ja sogar angeschrien zu werden, hatte auf seinem Schreibtisch einige unerledigte Akten liegen, und beobachtete H., seinen Vorgesetzten, aus den Augenwinkeln heraus, wobei seine Hände Betriebsamkeit vortäuschten. Er stempelte unnötig viel Zeug zusammen, und verließ alsbald das Zimmer, um zwei, drei Akten in eine andere Abteilung - unbürokratisch, mittels eiliger, ihm selbst zugehöriger Füße - zu befördern. H. ging zwei, drei Minuten, nachdem Mayer das Büro verlassen hatte, in die kleine Kantine, wo er Fräulein Schwab freundlich begrüßte, und von ihr ein Tässchen Kaffee samt Milch und Zucker zwecks Konsumation begehrte. Fräulein Schwab lächelte hilflos zurück, und bediente sich der Kaffeemaschine, um H. seinen Wunsch zu erfüllen. H. setzte sich auf einen Barhocker, was er in all den Jahren seiner Betriebszugehörigkeit unterlassen hatte, und begann die Zeitung zu lesen, die auf der Theke plaziert gewesen war, um eines freien Zugriffes entgegenzuwarten. Nachdem er einige Minuten mit der Zeitung beschäftigt gewesen war, wandte sich H. an das junge Fräulein. "Es ist schön, so harmlos dazusitzen, die Zeitung zu lesen, und Sie ein wenig zu beobachten, Fräulein Schwab. Ja, es macht Freude, den Tag zu bewältigen, ohne sich Streß aufzuhalsen. Der Urlaub ist doch die schönste Zeit des Jahres." Das Fräulein sah ihn überrascht an, ohne ein Wort zu sagen. Sie schüttelte leicht den Kopf, und bediente zwei weitere Angestellte des Hauses, die ihre Frühstückspause mit gelangweilten Gesichtern vollzogen. "Ihr Herren", sprach H. die Zwei an, und machte dabei ein fröhliches Gesicht. "Was halten Sie von der Idee, den Urlaub einfach im Betrieb zu verbringen, und auf Sommergefühle in sonnigeren Gegenden zu verzichten. Sozusagen Urlaub zu machen, ohne auf die Menschen zu verzichten, die einem das ganze Jahr über auf den Geist gehen, und das Leben schwer machen. Einige Wochen dort abschalten, wo sonst abschalten nicht möglich ist. Sich nicht beunruhigen lassen, und diese todlangweilige Miene aufziehen, der Sie sich jetzt verpflichtet fühlen. Mühelos die Stunden zu verbringen, die ansonsten so schwer auf den Magen schlagen." Anstatt Antwort zu geben, verließen die Angesprochenen fast geräuschlos die Kantine, während H. sich dazu anschickte, Fräulein Schwab weiter mit seinen Reden zu langweilen. "Hören Sie, Fräulein! Sie müssen wissen, was ich mir in den letzten Wochen ausgedacht habe: Warum zu Hause herumlungern, oder in die Ferne schweifen? Die gewohnte Arbeitsatmosphäre ist doch die beste Erholung, wenn sie nicht von den Wolken des üblichen Durcheinanders zerstört oder zumindest überschattet wird. Ich kann mich ganz ungezwungen bewegen, ohne irgendein Autoritätsbedürfnis zur Schau zu stellen. Ich lebe mein Leben mit einer Leichtfüßigkeit, die sich nicht bestreiten läßt."

II

Nach nur zwei Tagen hatte sich die Belegschaft des Betriebes bereits daran gewöhnt, H. als Urlaubsgast zu betrachten. Niemand fand etwas dabei, wenn H. irgendwo herumlungerte, und eine gute Miene zur Schau stellte. Die Boshaftigkeit des Abteilungsleiters der Abteilung YZ war betriebsintern bekannt. Es gab keinen, der mit seinen Kollegen ungeduldiger und hochnäsiger herumsprang als H. Da sich jedoch feststellen ließ, daß H. offensichtlich während seines Urlaubs keine Anstalten machte, herumzuschreien oder den Wind zu zerreden, sondern vielmehr entweder in seinem Büro saß, um gelassen eine Zigarette zu rauchen, und dazu Kaffee zu trinken, oder Fräulein Schmidt in Verlegenheit zu bringen, oder auch einfach auf einem Treppenabsatz zu sitzen, und Kreuzworträtsel zu lösen versuchte, war dieser Kuriosität nichts entgegenzusetzen.

H., der Undurchdringbare, der Kerl mit den zwei Gesichtern, im Beruf ein großer Herr, ein Mann mit bestechender Rücksichtslosigkeit, während des Urlaubs ein Knilch mit zu großen Ohren, der sich in irgendwelche Gespräche einmischte, ohne gefragt zu sein; privat der Mann ohne Namen, der seit seiner Scheidung aus seiner Wohnung einen Taubenschlag gemacht hat, in den mitunter zweimal die Woche Dämchen eingeflogen kommen, um zu bedienen; der ewigschimpfende Autofahrer, der am liebsten alle Radfahrer zu Lachs fahren würde.

H. H.
Wie auch immer; das Büro war unbesetzt, auch wenn er darin saß. Mitunter läutete das Telefon, aber H. ließ es läuten, und hustete in seine Faust hinein. Keiner, der ihn hätte stören dürfen. Aber er durfte sich alles erlauben, was einen Urlaub so erträglich macht. Also lagerte er seine Füßchen auf dem Schreibtisch hoch, und lauschte den Geräuschen, die eine Baustelle verursachte. Im Inneren fühlte er mit der Zeit das Bedürfnis, sich über alle Maßen mitzuteilen. Es gab Betriebsangehörige, die, wenn sie ihn aus der Ferne sahen, die Richtung änderten, nur um einer Kommunikation mit ihm zu entgehen. Aber immer wieder spiegelte er diese Kraftlosigkeit wider, die eine Eiterbeule darstellt. Er hatte keine privaten Kontakte zu den Bürokollegen. Und er wollte nichts über deren Privatleben wissen. H. höchstselbst war ebenso unbekannt. Wenn er auch laut und unbeherrscht war, wenn sich eine Sekretärin in einem fremden Büro die Fingernägel lackierte, wenn er bei der Tür hereinkam, so verhielt es sich meist so, daß dieses Verhalten der einzige Anhaltspunkt war, auf seine vielleicht vorhandene Persönlichkeit zu schließen. Es gab nichts, das ihn demaskierten konnte. Möglicherweise stellt er jedoch gar nichts da, der Herr H. Vielleicht ist er ein Nichts, das sich irgendwo verirrt hat auf dieser Welt, und plötzlich mutwillig versucht, sich wichtig zu machen, wo es nichts verloren hat. Die Sekretärin, die H. vor Jahren zugeteilt worden ist, beschwerte sich nie über sein Verhalten. Selbst, daß er ihr manchmal auf den Hintern klopft, und dabei ein dämliches Grinsen markiert, war nie Anlaß zu einer besonderen Aufregung geworden. Der Sekretärin war es schleierhaft, warum H. ihr in den Tagen seines Urlaubs immer wieder schmeichelte, wie hübsch sie aussehe, und das er Lust hätte, mit ihr auszugehen. Sie schlug ihre blauen Augen nieder, und verriet ihm, daß sie schon eine Verabredung habe, aber H. winkte mit der Hand ab, als habe er nicht gehört, was soeben sein Gehirn registriert hatte. Also besuchte er am vierten Tag seines "Heimaturlaubes" ein schickes Restaurant, und lud seine Sekretärin auf ein schmackhaftes Essen ein. Er erwartete sich danach natürlich, daß das Fräulein seinen Taubenaufschlag aufsuchen würde, um sich ihm blind zu ergeben, aber so weit wollte und durfte sie nicht gehen. Die Folge davon war, daß er wutentbrannt das Restaurant verließ, und ihr mit einer Kündigung drohte.

Mayer machte, da er sich unbeobachtet fühlte, einfach einmal ein Mittagsschläfchen, als er eine Hand auf seinem Rücken spürte, die sich kalt und unnachgiebig anfühlte. "Nicht schlafen während der Arbeitszeit, und auch nicht während der Mittagspause. Was macht das für ein Bild vor den anderen Abteilungen." H., der doch eigentlich im Urlaub war, und sich vier Tage lang tadellos verhalten hatte, wenn auch seine Geschwätzigkeit davon ausgeklammert werden muß, verfiel in alte Traditionen zurück, da er die vernichtende Niederlage am Vorabend nicht verdauen konnte. "Aber Sie sind im Urlaub, Chef!", sagte Mayer. "Und wenn Sie im Urlaub sind, kann es Ihnen doch egal sein, was ich tue und lasse. Immerhin hielten Sie es in den letzten Tagen so, und alle Mitarbeiter wissen das."
H.´s Gesichtsfarbe wurde rot, und wenn wir ihn als Hauptfigur dieser Geschichte betrachten, so ist er sicher keine Hauptfigur, die wir beneiden könnten; er ist bloß eine Hauptfigur einer Geschichte, die sich plötzlich dreht und wendet, und andere Konturen annimmt, da sich eine Sekretärin geweigert hat, gefügig zu sein. Er ist kein Ahab, Pinoccio oder Fürst Myschkin.

Aber er wollte es nicht auf sich sitzen lassen, was Mayer ihm ins Gesicht gesagt hatte. Er beschloß, das Weite zu suchen, und mit dem Direktor zu reden.

Der Direktor war natürlich überrascht, als er H. zu Gesicht bekam. Kaum, daß er sich entsann, was da auf ihn zukommen möge, redete der Abteilungsleiter der Abteilung YZ unermüdlich auf ihn ein, und brachte ihm einigermaßen Kopfschmerzen bei. H. war nicht aufzuhalten. Er redete über dieses und jenes, und artikulierte so, als habe er einen Roman zu erzählen.

"Die Arbeit, wenn Sie verstehen, was ich meine, Herr Direktor! Die Arbeit muß getan werden. Natürlich bin ich auf Urlaub, und ich will Sie gar nicht weiter behelligen, aber was zuviel ist, ist zuviel. Wie soll der Mensch da noch friedlich sein können bei solchen Mitarbeitern. Vielleicht gilt es offiziell nicht, was ich während meines Urlaubs wahrnehme, aber ich bemerke eine schlechterdings grauenhafte Arbeitseinstellung. Was erlauben sich diese Burschen eigentlich! Nein, Herr Direktor; die Sache ist die, daß ich nicht argumentieren will, als hätte ich nichts anderes zu tun. Sie müssen verstehen, daß ich diesen Job über alles liebe, und so fallen Mißstände natürlich auf. Sie meinen, ich sei verrückt, Herr Direktor, nicht wahr; weil ich Sie damit behellige, was mich doch gar nichts angeht, nicht wahr, so sprach ja Mayer. Es geht mich also nichts an, was in meiner Abteilung passiert. Und wenn noch so viel schiefgeht, es geht mich nichts an..."

Ewig konnte der Direktor den seltsamen Reden nicht zuhören, und so entschied er, der Sache ein Ende zu machen, und sich auf Mittagspause zu begeben. "Sie haben nichts zu sagen", antwortete er bloß kurz auf den Wortschwall. "Wenn Sie glauben, daß Sie was zu sagen haben, dann fragen Sie Mayer. Er wird Ihnen sagen, wieso." H. mußte sich sozusagen aus dem Büro entfernen, und hatte keine Lust, Mayer irgendetwas zu fragen. Stattdessen zündete er sich eine Zigarette an, und setzte sich wieder einmal auf einen Treppenabsatz.

Wie ist das, wenn produziert wird? An allen Ecken und Enden wird gearbeitet. Und doch geht nichts weiter, da es kein Ende gibt. Es wird immer mehr produziert, bis sich die erste Welt zu Tode produziert hat. Einstweilen aber zurück zu Herrn H.

Die Welt dreht sich weiter, aber H. nicht mehr mit ihr mit. Alles hätte er tun mögen, um rückgängig zu machen, was er dem Direktor gesagt hat. Möglicherweise hat er zuviel gesagt. Zu sehr das gesagt, was nicht gesagt gehört. Darüber machte er sich Gedanken. Aber das soll nicht weiter zur Debatte stehen.

Zur Debatte steht das, was folgt.

III

Als H. erfuhr, daß er seinen Posten als Abteilungsleiter der Abteilung YZ als verloren zu betrachten habe, hätte er in der Luft explodieren mögen. Was sich in seinem Inneren abspielte, ist nur mit einem Kriegszustand vergleichbar. Mayer sitzt mit hochgelagerten Füßen an s e i n e m Schreibtisch; am Schreibtisch, der H. viele Jahre als Arbeitsplatte zur Verfügung gestanden war. Mayer begrüßt H. mit einem schiefen Lächeln, als er eintritt; der Mann mit den vielen Gesichtern. "Hören Sie Mayer, ich weiß ja nicht, was Sie getan haben." Mayer wird ernst. "Was meinen der Herr?" Es ist eine Farce, was H. passiert, aber er versucht sich dagegen zu stemmen; keine weitere Niederlage zu kassieren. "Warum, Mayer, warum?" Es ist keine Woche her, daß H. in diesem Büro heimisch war, das nun Mayer als seinen Arbeitsplatz betrachtet.

Während der nächsten Tage ist H. meist im Wirtshaus auffindbar, das sich in unmittelbarer Nähe des Bürogebäudes befindet. Dort trinkt er ein Gläschen Wein nach dem anderen, und kommt dann gelegentlich betrunken in sein ehemaliges Büro zurück, um mit der Faust auf den Tisch zu trommeln. "So nicht, Mayer! So nicht!" Aber Mayer fühlt sich durch eine derartige Behandlung gestört. Während H. bald in fast verwahrlostem Zustand auf dem üblichen Treppenabsatz sitzt, und eine Flasche Wein in den Händen hält, aus der er ungeniert immer wieder mal trinkt, machen sich die oberen Etagen des Hauses darüber Gedanken, was mit H. passieren soll.

Es gibt Gegenwart und Zukunft und Vergangenheit. Es gibt ein ist, und ein war, und ein wird. Und es kann leicht fallen, die Ebenen zu verwechseln, besonders wenn man keine Zukunft mehr hat, und die Vergangenheit keinen Trost mehr spenden kann. Alles ist dann bittere Gegenwart, und diese bittere Gegenwart bekam H. zu spüren, als der Direktor herausfand, daß der besagte H., um den sich diese Geschichte dreht, auch nach seinem Urlaub so weitermachte, wie er seinen Urlaub zuende gebracht hatte. Mit Wein, Gesang, und zu seiner Enttäuschung ohne Weib. Also wurde ihm gekündigt, und Mayer im Büro mit seinen hochgelagerten Füßen auf dem Schreibtisch konnte schelmisch lachen.

IV


Von seiner Niederlage schwer getroffen, wagte es H. in den nächsten Wochen kaum, aus der Wohnung zu gehen. Der Gang zum Arbeitsamt, und die Vorsprache dort wurde ein Martyrium für ihn, der dergleichen nicht gewohnt war. Knapp zwei Monate nach seiner Entlassung entschloß er sich jedoch, tätig zu werden, und sprach die stets walkman-hörende Frau an, die er in den vergangenen Jahren, wenn er den Weg zu seiner Arbeit beschritt, häufig zu Gesicht bekommen hatte. Er klopfte ihr beiläufig auf die Schulter, als sie an ihm vorüberging, und als sie ihn leicht verschreckt ansah, deutete er ihr, daß sie den Walkman abnehmen solle. Aus dieser Situation heraus entstand eine große Liebe, die etwa zwölf Wochen lang währen würde.
H. traf sich am selben Abend mit ihr in einem kleinen Lokal, und es dauerte nicht lange, bis er die kleine Frau damit überraschte, mit seiner Hand unter ihr Kleid zu fahren, und durch ihren Slip hindurch ihre Schamhaare zu streicheln. Nur vier Stunden später kopulierten sie seltsam schwerfällig miteinander, und sie zog eine Woche später in seine Wohnung ein. Sie ging jeden Tag frühmorgens aus dem Haus, um ihrer Arbeit nachzugehen. H. fragte sie nie, welcher Beschäftigung sie nachginge, und es interessierte ihn auch wenig, solange sie sich als seine Frau betrachtete, und ihm zu Diensten sei. Er stand nie vor zwölf Uhr Mittags auf, und aß nie vor zwei Uhr nachmittags. Luise, so nannte sie sich, kam stets gegen vier Uhr nachmittags nach Hause, und wurde fast unmerklich von H. ins Schlafzimmer gezerrt, wo er mit ihr hastig, und selbstbezogen kopulierte. Nach dem Abendessen um sechs wurde jeweils zum zweiten Mal der Beischlaf vollzogen. Sie war in diesen wenigen Wochen nicht mehr als eine sexuelle Gespielin, die ihn dabei unterstützte, seiner selbstgefälligen sexuellen Betätigung nachzugehen. Daß sie ihn verließ hatte jedoch mit diesen Demütigungen erstaunlicherweise überhaupt nichts zu tun. Sie eröffnete ihm eines Tages, daß sie als Sozialarbeiterin in einer Wohngemeinschaft für geistig- und körperlich Behinderte tätig sei, und nunmehr eine Zeit komme, wo sie nachts auf ihre Schützlinge aufzupassen habe. H. wollte es nicht wahrhaben, daß sie in den nächsten zwei Wochen nur mehr tagsüber schlafen würde, um nachts auf ihre Schützlinge aufpassen zu können. Er ließ sie in den ersten vier Tagen kaum schlafen, da er ständig von ihr irgendwelche abstrusen Dinge forderte, und sie außerdem weiter sein sexuelles Verlangen stillen sollte. Was dazu führte, daß sie mit der Zeit immer griesgrämiger wurde, und es nicht mehr mit ihm aushielt. Sie stahl sich eines Tages davon, als er kurzfristig im Badezimmer alte Seemannslieder sang. Als er ihren Weggang bemerkte, drehte er durch, und zertrümmerte vor Wut drei Sessel sowie einige Spiegel. Er wußte ihre Adresse nicht, und ging schnellen Schrittes wutentbrannt durch die Straßen der Stadt, ohne ein Ziel zu haben. Er zog einfach dahin, und es war ein mittleres Wunder, daß er sie mit einem kleinen Köfferchen bepackt nur wenige Straßen von seinem Wohnhaus entfernt am Straßenrand stehen sah. Als sie seinen stechenden Blick auf sich ruhen fühlte, erschrak sie, und blickte in seine Richtung. Sie lief, so schnell sie konnte, vor ihm davon, aber er holte sie nach nur wenigen Metern ein, und riß ihr sogleich den Koffer aus der Hand. Er schlug ihr mit der Faust ins Gesicht, als zufällig ein Mann vorbeikam, der, was in Städten nicht unbedingt die Regel ist, die Frau vor H. schützen wollte, und gleich selbst schwere Prügel einstecken mußte. H. hatte Pech, als er einen Schlag spürte, der seinen Hinterkopf mit voller Wucht traf. Er sackte zu Boden, und einige Stunden später erwachte er in einer Gefängniszelle. Er begann sogleich zu randalieren, und es wurde ihm bald darauf mitgeteilt, daß er wegen schwerer Körperverletzung mit Todesfolge inhaftiert bliebe, da keine Kaution gestellt werden dürfe. H. wartete stumpfsinnig monatelang auf die Gerichtsverhandlung, und wurde schließlich zu vier Jahren Haft verurteilt.
Die Zelle war merkwürdig modern eingerichtet, und er konnte sogar fernsehen. Dennoch war er mürrisch, und kaum ansprechbar. Er teilte die Zelle mit fünf Mitgefangenen, und mußte unter anderem mitansehen, wie ein junger Mithäftling mißbraucht wurde. H. beteiligte sich nicht am Mißbrauch, sondern saß stets still in einer Ecke, und dachte darüber nach, was passieren würde, wenn diese schreckliche Zeit endlich vorbei wäre.

Nach zweieinhalb Jahren wurde er wegen guter Führung entlassen. Er bekam die Schwierigkeiten zu spüren, die einem Menschen bereitet werden, wenn er nach einer Gefängnisstrafe Arbeit sucht. Da er kaum Geld hatte, und sich kein noch so kleines Untermietzimmer leisten konnte, schlief er im Obdachlosenasyl. Er war meist betrunken, da er das meiste Geld, das er am Straßenrand erbettelte, für Spirituosen ausgab. Nur in den wenigen hellen Momenten, die er hatte, dachte er an die Zeiten zurück, als er einen Job gehabt, und in einer hübschen, kleinen Wohnung gelebt hatte. Er schlief auf Parkbänken, wenn er sich den geringen Betrag nicht leisten konnte, den er für das Obdachlosenasyl pro Nacht zu bezahlen hatte. Oder sonst irgendwo, wo es gerade ging.

Er wurde eines Tages von einem Sozialarbeiter angesprochen, der ihm in welcher Weise auch immer helfen wollte. Aber er hatte nur Hohn und Spott für diesen Menschen übrig, und dachte daran zurück, daß seine ehemalige Freundin ebenfalls Sozialarbeiterin gewesen war. "Ihr seid doch alle miteinander Arschlöcher", schrie er den Mann an. "Ihr könnt ja nicht einmal richtig ficken." Also vertrieb er den Mann, und dieser kam wohl nie mehr wieder zu ihm zurück.

Selbst in einer noch so aussichtslosen Situation hat der Mensch biologische Bedürfnisse, und so schloß H. sich einer Frau an, die mit Einkaufstaschen, in denen sie allerlei Kram verwahrte, in städtischen Parks ihre Runden zog. Selbst wenn er mit ihr schlief, kam es vor, daß er währenddessen Wein trank oder eine Zigarette rauchte, und es dauerte nur wenige Jahre, bis er nicht mehr fähig war, mit einer Frau zu schlafen. Zunächst aber zog er gemeinsam mit seiner Leidensgenossin durch die Parks, und half ihr, die Einkaufstaschen zu transportieren. Die Frau entpuppte sich als ehemalige Assistentin in einem technischen Labor, die von ihrem Mann in den Ruin gestoßen worden war. Während dieser längst ins Gras gebissen hatte, wie sie es ausdrückte, lungerte sie schon jahrelang in diesen Parks herum, und machte sich Notizen über den Zustand dieser Erholungsgebiete für Städter. Sie schrieb jede noch so lächerliche Kleinigkeit in ein Notizbuch, das sie in einem der Einkaufstaschen verwahrte. Jeden Tag kritzelte sie mindestens eine Stunde lang in dieses Büchlein hinein, und es schien sich für sie um mehr als einen Zeitvertreib zu handeln.

 

"Es fängt damit an, daß es keine Arbeit mehr gibt für einen, der gewillt ist, eine bestimmte Arbeit zu verrichten. Und so strandet man. Es geht weiter damit, daß es keine Kategorien gibt, in die der Mensch einteilbar ist, die erschreckender wären, als die Minimierung zum arbeitenden Subjekt. Vom sozialen Status hängt alles ab. Arbeitet einer viel, und redlich, so sagt man es allgemeinhin, dann kann er sich Haus, Hund, Familie und Urlaub leisten. Arbeitet einer in normalen Maßen, dann kann er sich immerhin Wohnung, Meerschweinchen, Familie und Urlaub leisten. Natürlich Urlaub in bescheidenerem Ausmaß. Arbeitet einer mäßig, dann kann er sich maximal Wohnung und Alleinurlaub leisten. Arbeitet einer nicht, dann kann er froh sein, jeden Tag etwas zu fressen in den Magen zu bekommen. Die, die viel arbeiten, bekümmern sich wenig darum, was sie arbeiten. Es geht ihnen um Profit, also arbeiten sie, was das Zeug hält, und es spielt keine Rolle, was sie letztlich tun. Die, die in normalen Maßen arbeiten, tun, was sie als statthaft empfinden, und es spielt letztlich auch keine allzugroße Rolle, was für eine Arbeit das sein mag. Sie sind keine Manager, Vertreter und dergleichen, aber sie sind immerhin arbeitendes Volk, wie es die Politiker so gern sagen. Die, die nur mäßig arbeiten, wollen eigentlich gar nicht arbeiten, aber sie sind dazu gezwungen, weil es unser System nicht erlaubt, nicht zu arbeiten, ohne vor die Hunde zu gehen. Die, die nichts arbeiten, arbeiten nichts, und damit hat es sich. Sie sind manchmal willig zu arbeiten, und werden abgeschmettert; das ist Einerlei. Es geht für sie nur darum, halbwegs über die Runden zu kommen. Die sogenannten Sozialfälle, zu denen wir Obdachlose ja eigentlich gar nicht zählen, da wir wohl kaum mit staatlicher Unterstützung zu rechnen haben, sind das rote Tuch für die, die in normalen Maßen arbeiten, und unbedeutendes, arbeitsscheues Gesindel für die, die groß abräumen, und sich Mercedes Benz leisten können. So entsteht eine Kluft, und den Abhang hinuntergestürzt sind wir, die Obdachlosen, die um einen Schilling betteln, als würde er die Welt für uns bedeuten. Und er ist ja wohl die Welt, da wir ihn brauchen, um unsere dringendsten Bedürfnisse zu stillen. Aber wir existieren immerhin, und manche von uns können sich genug leisten, um schon mal so richtig auf den Putz hauen zu können. Ha, ha! Das ist ja alles schrecklich behämmert!"

So sprach seine Herzdame Tag für Tag. Sie variierte die Worte kaum, die sie sprach. H. konnte diesem Vortrag anfangs nur wenig abgewinnen. Er hörte nur mit halbem Ohr zu, während er aus einer Weinflasche trank, oder in die Büsche pinkelte. Nachdem er die Geschichte zehn oder zwölfmal gehört hatte, ging ihm aber auf, daß sie recht hatte, und daß dies wohl auch der Grund sei, warum er seinerzeit entlassen worden war, was sich ja als Anfang vom Ende erwiesen hatte. Da gab es diese Menschen, die Typen wie ihn nicht brauchen konnten, obzwar sie selbst nicht weniger eigenbrötlerisch und selbstsüchtig sind. Die mit dem Finger auf ihn zeigen, als sei er irgendein kostümierter Clown, der wie ein Witz aus der Klamottenkiste in irgendeiner Ecke schläft, und einen Hut vor sich plaziert hat. H. stopfte sich sein Gehirn mit Gedanken voll, die einzig nur das Ziel hatten, die reichen Arschlöcher, wie er sie für sich, und manchmal auch öffentlich bezeichnete, wenn sie ihm keinen Groschen in den Hut warfen, und außerdem noch einen Blick aufsetzten, der sein Blut zum Kochen brachte, in sein persönliches Sumpfloch zu werfen, um sie dort krepieren zu sehen. Das imaginierte er sich mit einem seltsamen Glücksgefühl im Bauch. Für seine Gefährtin gab es nur die Geschichte von der ehemaligen Assistentin, die von ihrem Mann ruiniert worden war, und die Geschichte von den Menschen, die auf ihren Rang als soziale Nutzbringer minimiert werden. Ansonsten sprach sie kaum.

V

H. begann dem Wahnsinn zu verfallen. Es fing damit an, daß er auf der Straße vor sich hinsang, und mit imaginären Gesprächspartnern Dialoge führte. Kaum ein Passant nahm davon Kenntnis. Allerdings wurden die Dialoge mit der Zeit immer schärfer. Er sprach über sexuelle Rollenspiele, die Unsinnigkeit der Arbeit an sich, die Lustlosigkeit der heutigen Jugend, die Sparsamkeit der Politiker, die Studienbeihilfen usw.

H. hatte das typische Aussehen eines verwahrlosten Obdachlosen angenommen. Seine Haare waren verfilzt, und standen vor Dreck in die Höhe, seine Schuhe waren abgetreten und schmutzig, sein einziges Hemd wies dutzende Spuren von Essensresten und Rotweinspuren auf; seine Fingernägel waren schwarzumrändert und überlang, sein Bart wucherte wild vor sich hin, seine Hose war fleckig, blutig und löchrig, seine Baseballmütze, die er aus nicht bekannten Gründen trug, war zerbeult und teilweise eingerissen. Er hatte stets eine Flasche Wein bei sich, und bettelte nachmittags um ein paar Schilling, um sich eine weitere Flasche Wein leisten zu können. Er aß fast nichts. Abends trieb er sich in der Stadt herum, und hörte den Straßenkünstlern zu, die Lieder sangen, und mit Keulen jonglierten. Wenn er ein Lied kannte, dann sang er mit, und bot den Interpreten an, aus seiner Flasche zu trinken, was diese meist dankend ablehnten. Es wäre ewig so weitergegangen, und möglicherweise hätte er bei seiner Nachlässigkeit den Winter nicht überstanden, wenn ihm nicht Mayer über den Weg gelaufen wäre. Sein ehemaliger Untergebener, der nunmehr seinen Platz an vorderster Front einnahm, kam eines Nachmittags an H.´s Bettelplatz vorbei, und warf ihm eine Fünf-Schilling-Münze in den viel zu kleinen Becher. Als er kurz in seine Augen sah, erkannte er offensichtlich H. nicht, während H. sofort aufsprang, und Mayer auf die Schulter klopfte. "Dich kenn´ ich doch, nicht wahr. Von einem früheren Leben vielleicht, oder noch von der Zeit, als die Welt voller Geigen hing. Du bist doch der, der nie parierte, wenn es zu parieren galt. In längst verstrichenen Zeiten hast du dir immer in die Hosen geschißen, wenn ich dir einen Auftrag gab." Mayer tat so, als spräche der Obdachlose nicht mit ihm, und machte sich daran, aus den Fängen des ehemaligen Vorgesetzten zu entfliehen. "Hierbleiben, Mayer", hielt H. ihn mit schmutzigen Händen zurück. "Lassen Sie meine Schultern los, Mann", sagte Mayer, und ereiferte sich, die Polizei zu holen, insofern H. ihn nicht in Ruhe ließe. "Ist doch nichts dabei, wenn wir uns unterhalten, Freund", sagte H. und nahm einen Schluck aus der Flasche Wein. "In alten Zeiten warst du nicht so knausrig, wenn es um deine Ehre ging." Mayer war offensichtlich unschlüssig, denn er stieg von einem Fuß auf den anderen, und setzte immer wieder an, etwas zu entgegnen, ohne je das Wort herauszubringen, das es auszusprechen galt. "Sprich´ doch, Freundchen Mayer", sagte H. und versuchte Mayer Mut zuzusprechen, indem er ihm auf die Schulter klopfte. "Ich kenne Sie nicht", sagte Mayer dezent. "Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen. Ich habe Sie nie zuvor in meinem Leben gesehen." H. jaulte richtiggehend auf wie ein Hund. "Ach, Mayerchen, du kennst mich also nichtmehr, aber deinen Namen weißt du wohl noch, oder. Mayer; so heißt du doch? Aber wer scheißt sich was darum? Ich bin dir also unbekannt, was, altes Haus? In diesen wunderbaren Gewändern, und mit diesem herrlichen Duft, den ich verströme, was? Bin ich nicht ein liebenswerter Kumpan! Aber nein, ich vergaß; du bist ja jetzt ein hohes Tier so wie ich anno dazumal, nicht wahr, Mayerchen! Für mich wird´s einmal gewesen sein, aber du lebst wie ein König auf meine Kosten. Ich hab´ den Job verloren, und du hast ihn bekommen, und eine Gehaltserhöhung dazu; das ist ganz angenehm, Mayerchen, was?" Mayer sah ihn die ganze Zeit nicht an, sondern hypnotisierte den Boden mit seinem Blick. "Du brauchst gar nicht so unbeteiligt zu tun, Mayerchen! Du warst´s doch, der mich vom Thron gestoßen hat; aber was soll´s; ich hab´s längst vergessen. Will nur mit dir anstoßen darauf. Du lädst mich in ein schickes Lokal ein, und wir trinken Wein, und essen dazu irgendwas bekömmliches. Ganz nette Idee, was Mayerchen? Eine Kleinigkeit im Vergleich zu den Annehmlichkeiten, die du an meiner Stelle genießen kannst..." Mayer begann endlich seine Sprache wieder zu finden. "Ich weiß ja, was Sie fühlen, H. Ich verstehe das vollkommen! Aber es ändert nichts daran, daß Sie sich haben herunterkommen lassen! Schauen Sie sich einmal in den Spiegel. Es hilft nichts, mit mir Ihren Spott zu treiben. Sie haben sich Ihre jetzige Lage selbst zuzuschreiben. Daran führt kein Weg vorbei. Mich können Sie dafür nicht verantwortlich machen. Sie sind durchgedreht damals; haben "Urlaub im Büro"gemacht, und sind dann nicht mehr in Ihrer Verrücktheit zu bremsen gewesen. Wenn Sie mir versprechen, daß Sie dann eine Ruhe geben, können wir ja irgendwohin gehen, um uns zu unterhalten..." "Schon besser", erwiderte H. "Zwar gibst du dich äußerlich äußerst dezent, aber du kannst mir nicht weismachen, daß du nicht in den Komplott integriert warst, der dazu geführt hat, daß ich entlassen worden bin. Alle haben sich doch gegen mich verschworen gehabt. Da kannst du noch so billige Ausreden suchen. Ich bin heruntergekommen; das hast du gut erkannt, aber alles hat einmal einen Anfang genommen..." So hätten sie ewig weitersprechen können, aber schließlich fanden sie sich in einem Lokal wieder, wo alles erst so richtig begann.

VI

Das Lokal war gut besucht, und es gab etliche Besucher, die sich nach dem Pärchen umdrehten, das an einem der Ecktische saß und miteinander sprach. "Nicht auf die Leute achten, Mayerchen", sagte H., der die Unruhe in Mayer´s Gesicht leicht lesen konnte. "Was kümmert´s uns; es ist schließlich unser Geschäft." "Wovon reden Sie, H.? Sind Sie total verrückt geworden; haben Sie vor, mich zu bestechen. Da werden Sie schneller die Polizei auf dem Hals haben, als Sie schauen können." "Nur die Ruhe; mit was sollte ich dich bestechen, Hallodri, frage ich dich? Damit, daß du dir nunmehr auf meine Kosten ein schönes Leben machst? Da bist du ja nicht der Einzige. Nein, nein, Mayerchen, ich verlange nur, was mir zusteht. Du sollst mir soviel von deinem Lohn geben, das ich davon wieder anfangen kann, meine Existenz aufzubauen." Plötzlich begann H. zu singen, und der Kellner forderte ihn nach einiger Zeit auf, ruhig zu sein, und das Singen zu unterlassen. "Nur die Ruhe, Pinguin", versuchte H. den Kellner zu beruhigen. "Ist ja nichts passiert. Bin ja nur fröhlich. Habe bald mit einer Stange Geld zu rechnen." Mayer deutete dem Zahlkellner nur wenige Augenblicke später, daß er zahlen wolle. "Wir sind noch nicht fertig, Mayerchen, nein, wahrhaftig nicht", sagte H. diesmal mit besonders lauter Stimme, die wieder einige Blicke auf sie richten ließ. "Es geht noch ans Eingemachte. Du solltest Gott dankbar sein, daß ich dir nicht deine Frau abspenstig mache." Mayer versuchte, H. eine Ohrfeige auf die rechte Wange zu versetzen, aber H. kam dem zuvor, und versetzte Mayer einen Faustschlag genau auf die Nase, die ein kurzes Knacken von sich gab. "Du hast mir die Nase gebrochen, du Schwein", sagte bzw. schrie Mayer und hielt sich die Nase, die einen Blutverlust offenbarte. "Nur die Ruhe, Mayerchen; du wolltest mich ohrfeigen, und ich habe deine Absicht auf meine Weise vereitelt. Die Sterne könnten besser um dich stehen." Keine zehn Sekunden später stand ein elegant gekleideter Herr vor den beiden Kontrahenten und ersuchte sie beide, das Lokal zu verlassen, da ansonsten ein Anruf bei der Polizei nicht vermieden werden könnte. "Schon gut, Oberpinguin", sagte H., und zerrte Mayer an dessen linkem Ohr aus dem Lokal, wobei weder Personal noch Gäste auch nur einen Ton der Entrüstung von sich gaben. Die Leute glaubten wohl, daß es nur recht sei, was hier vor ihren Augen geschähe. Draußen angekommen, wo sich bereits die Dunkelheit ausgebreitet hatte, und nur Laternen das Szenario deutlich machten, schleppte H. Mayer in eine Seitengasse, wo sich anscheinend kein Mensch die Füße vertreten wollte. H. versetzte Mayer einen üblen Faustschlag in den Magen, und danach einen Fußtritt in eine besonders schmerzempfindliche Region, worauf Mayer zusammenbrach, und sich auf dem Boden kauernd einer Übelkeit nicht erwehren konnte. "Es wird Zeit, daß du mir endlich antwortest, Mayer. Meinetwegen sollst du ja nicht deine Familie zugrunde richten. Mach´ mir einen Vorschlag, was du mir abzugeben gedenkst. Bilde dir aber ja nicht ein, du könntest dir erlauben, unter vierzig Prozent für mich zu verhandeln." "Du bist ja vollkommen verrückt, du Schwein", brachte Mayer mühsam heraus, ehe er wieder kotzen mußte. "Kotz´ dich ruhig aus, ehe du Antwort gibst. Es ist ja nicht so, daß ich dich unter Druck setzen will. Ich will bloß, daß die Gerechtigkeit siegt." Mayer wand sich auf dem Boden wie ein Wurm. Nach einigen Minuten stand er mühsam auf, und schien geschlagen. "Du willst also vierzig Prozent meines Lohnes als Abgeltung dafür, daß ich dich seinerzeit als Leiter der Abteilung abgelöst habe, weil du in deiner Verrücktheit deinen Job sausen hast lassen. Du glaubst also wirklich, ich würde auf solch ein Angebot eingehen. Du bist ja vollkommen verrückt. Und wie kommt es, daß du mir das erst jetzt sagst. Es ist ja mittlerweile gute zwei Jahre her, daß ich dich nicht gesehen habe. Keine Ahnung, wo du dich die ganze Zeit herumgetrieben hast. Mittlerweile ist unser zweiter Sohn auf die Welt gekommen, und der erste geht schon in die Schule." H. steckte seine Hände in die Hosentaschen, und lachte laut auf. "Ach wie niedlich, Mayerchen. Was bist du nur für ein liebenswerter Familienvater; da könnte ich ja fast neidisch werden. Und deiner Frau besorgst du´s also auch jeden Tag, was!" H. wurde langsam wieder wütend. "Was hältst du hier Vorträge über dein Familienleben, anstatt mir endlich ein Angebot zu machen. Was interessiert mich, was du so treibst? Mach´ doch, was du willst. Steck´ dir eine Bohne in den Arsch, und fliege zum Mond, aber zuerst will ich eine Antwort von dir hören." Mayer ging langsam mit erhobenen Fäusten auf H. zu. Es war ein unmögliches Unterfangen, H. auch nur in die Nähe zu kommen, ohne auf der Hut sein zu müssen. "Ich rate dir davon ab, schon wieder den starken Mann spielen zu wollen, Mayerchen. Wenn du nicht willst, daß ich Hackfleisch aus dir mache, dann mach´ mir endlich ein faires Angebot." "Willst du mit mir ein dummes Spielchen spielen oder was", sagte Mayer, und ließ seine kleinen Fäuste sinken. "Du hast ja gestottert wie ein kleiner Hosenscheißer, als du in den Betrieb kamst. Hast mit keinem gesprochen und die Hosen voll gehabt", entgegnete H. und räusperte sich geräuschvoll. "Von mir aus kannst du diese zweitausend Schilling haben, die ich hier bei mir habe, wenn du mich dafür in Ruhe läßt. Nimm´ sie, und alles, was heute passiert ist, ist vergessen. Das ist mein Angebot." Mayer hielt H. die Geldscheine hin, aber der sah es gar nicht an, sondern schüttelte verständnislos den Kopf. "Was soll das für ein Angebot sein, kleiner Mann? Soll ich davon meine Socken stopfen, und eine Gummipuppe kaufen? Das Geld kannst du dir zu deiner Bohne in den Arsch schieben. Damit kann nichts vergolten werden." Mayer steckte die Brieftasche wieder ein, und verschränkte die Arme. "Ich werde jetzt einfach gehen", sagte Mayer, und schickte sich an, mit schnellem Schritt das Weite zu suchen, aber H. erwischte ihn am Hemdkragen, und hielt ihn wie einen Schuljungen fest, der einen Sack Äpfel gestohlen hat, und es verdient, den Hintern versohlt zu bekommen. Er nahm ihn jedoch mit schnellem Griff mit der einen Hand am Hals, um ihm mit der anderen Hand einen Faustschlag in die Magengegend zu versetzen. Diesmal hielt H. ihn fest, sodaß er nicht zu Boden fallen, und sich winden konnte. "Ich glaube, du hast noch immer nicht verstanden, Mayerchen. Verhandle endlich mit mir, du Hampelmann!" H. ließ Mayer los, und der sagte, nachdem er sich von dem Faustschlag in den Magen erholt hatte, daß er H. fünfundvierzig Prozent bieten würde, worauf sich weitere Verhandlungsrunden ergaben.

VII

Der Wahnsinn eskalierte, als sich H. über die Leiche Mayer´s beugte, und diese mit einer Miene ansah, als sei der Anblick einer Leiche eine Selbstverständlichkeit. "Jetzt rührst du dich also nicht, Mayerchen", sagte H. zu der Leiche, und spielte mit deren Gliedmaßen als sei es eine Gummipuppe. "Du glaubtest doch nicht, damit durchkommen zu können; mit deinem fadenscheinigen Angebot. Immerhin hast du einen Mann vor dir, der einst eine große Rolle im Betrieb spielte; an dessen Fähigkeiten du nie herankommen wirst. Da kannst du noch so stumm daliegen, und dich schlafend stellen."

H.wußte zu diesem Zeitpunkt nicht, was in den nächsten zwanzig Jahren auf ihn wartete. Er schwebte in einem Moment der Ahnungslosigkeit, da er den Tod Mayer´s nicht zur Kenntnis nahm. Die wenigen Stunden, die er hatte, ehe das Verbrechen bemerkt werden würde, saß er still auf dem kalten Asphalt neben der Leiche, und sah alle möglichen Dinge durch sich hindurchrinnen. Ja; es war keine gedankliche Auseinandersetzung; vielmehr eine visuelle Lebensschau, als stünde der Mörder selbst kurz vor dem Tode (wo er doch in Wirklichkeit noch einiges vor sich hatte). Er sah sich als kleinen Knaben, der in der Schulklasse sitzend der Lehrerin Grimassen schneidet, und dafür in die Ecke gestellt wird; er sah sich als besten Torschützen der Schülerliga, der jedes Tor so bejubelte, als habe er soeben seiner Mannschaft den Weltmeisterschaftstitel gesichert; er sah, wie er ein kleines Mädchen auf den Mund küßte, und ihr dabei auf die kleinen Brüste griff; er sah, wie er sich mit Rosalie im Schlamm wälzte; er sah, wie die Pferde aus den Stall ausbrachen, der in Flammen stand; er sah sich umringt von einer Bande Rabauken, die ihn schmählich beschimpfte; er sah sich, wie er angewidert auf einen Teller Spinat starrt, und seine Mutter ihn zwingt, diesen zusammenzuessen; er sah, wie er zu seiner schlafenden Tante ins Bett kraxelt (er mochte gute zehn Jahre alt sein), unter das Laken kriecht, und ihr Geschlecht gierig betastet und küßt; er sah, wie er an einem Morgen zu spät zur Schule kommt, und der Lehrerin die Ausrede auftischt, daß er in eine Schlägerei verwickelt worden sei; er sah, wie er beinahe von einem Auto überfahren worden wäre, wenn er nicht rechtzeitig einen Schritt nach vorn gewagt hätte; er sah, wie sein kleiner Hund von einem Auto überfahren wurde, und er tagelang nicht ansprechbar gewesen war, da der Hund sein ein und alles bedeutet hatte; er sah, wie er heimlich die Tür aufmachte, hinter der seine Schwester Lucia (die damals gerade dreizehn Jahre alt gewesen war, während er knapp elf gewesen sein mochte) seinen Onkel Ludwig offensichtlich aufblies, und sein Onkel seltsame Geräusche machte; er sah, wie er im Prater unbedingt mit der Geisterbahn fahren wollte, und ständig schrie, als sich seine Eltern dazu erweichen ließen, daß er fahren dürfe; er sah (und mittlerweile war er bereits ein Jüngling von fünfzehn oder sechzehn), wie er mit einem Mädchen ins Kino ging, und diese sich während des Films herunterbeugte, und das machte, das er damals seine Schwester bei Onkel Ludwig hatte tun sehen; er sah, wie er einen Baum hochkletterte, und dann heruntersprang, als wolle er Selbstmord begehen, und sich doch nur Prellungen und eine Gehirnerschütterung zuzog; er sah, wie er kaltblütig einen Schulkollegen fast totschlug, weil dieser seine Schwester beleidigte, die mittlerweile Onkel Ludwig angezeigt hatte, der sie immer wieder gezwungen hatte, abartige Sachen mitzumachen; er sah, daß er die Geduld verlor (er war mittlerweile achtzehn), weil sein erster Job nur darin bestand, Holzkisten einzupacken, und in einen Lastwagen zu schmeißen; er sah, wie er immer wieder zu Huren ging, da Eva sich nicht mehr blicken ließ, nachdem er ihr zu stark ins Ohrläppchen gebissen hatte; er sah, wie er die Matura bestand, fast ohne dafür zu lernen, und die Lehrer bei der Abschlußfeier im Vollrausch beschimpfte, und dafür von Fräulein Rehbein eine Ohrfeige bekam, worauf er ihr in die Bluse griff, und ihre Brüste begierig betastete, und er darauf ersucht wurde, sich schleunigst zu entfernen; er sah, wie er während seiner Zeit als Zivildiener mit einer ihm anvertrauten achtzigjährigen Uroma schlief, da er schon seit Monaten keine Gelegenheit mehr dazu gehabt hatte, und diese Uroma dabei wie ein Brett dalag, und in einer Tour stumm schrie, da sie taubstumm war; er sah, wie er mutig einen Arbeitskollegen verteidigte, nachdem dieser vom Chef zusammengeschrien worden war, und dafür höchstselbst gefeuert wurde; er sah (und mittlerweile war er über fünfundzwanzig), wie er seinen Job antrat, und von seinen Arbeitskollegen sehr geschätzt wurde; er sah, wie er eine Zeitlang mit einer Kollegin nach Büroschluß zu einem Stelldichein in seine Wohnung ging, bis es sich aufhörte, da sie davon gehört hatte, daß er mit seiner eigenen Tante geschlafen hatte; er sah, wie er Abteilungsleiter wurde, und mit einer seltsamen Begeisterung dazu beitrug, daß das Betriebsklima besser und besser wurde, bis er sich zum Despoten entwickelte; er sah, wie er sich Urlaub im Büro nahm (und er war mittlerweile bereits weit über dreißig), es übertrieb, und daraufhin gekündigt wurde; er sah, wie er einen Mann ohne besondere Absicht totschlug, und bald darauf im Gefängnis saß; er sah, wie er nach dem Gefängnis langsam herunterkam, und das Gesicht eines Obdachlosen Streuners annahm; er sah, wie er seine Potenz verlor; er sah, wie er einen Mann umbrachte, der einmal sein Untergebener gewesen war; und er sah sich selbst, wie er neben einer Leiche auf dem Boden saß, und vor sich hinträumte, als wäre sein Leben ein Traum gewesen.

Als er in der Gefängniszelle saß, und überhaupt nicht mitbekam, daß er für unzurechnungsfähig erklärt worden war, und in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingeliefert werden würde, sprach er laut mit sich selbst, als bete er sich selbst an. Das einzige Familienmitglied, das ihn im Laufe der Jahre in der Anstalt besuchte, war seine Schwester, die ihm jeweils einen Obstkorb mitbrachte, und mit ihm zu sprechen versuchte. Meist war er wie weggetreten, aber manchmal sah er sie an, als wisse er, warum er in dieser Anstalt säße; als wisse er kurzum alles. Aber es war nur ein Flackern, und bald darauf saß er wieder stumm da, und vernahm die Worte seiner Schwester nicht. Eines Tages kam seine Schwester nicht mehr, da sie sich das Leben genommen hatte. Ihren Onkel hatte sie zuvor mit zweiundzwanzig Messerstichen buchstäblich hingerichtet. H. siechte dahin, ohne irgendetwas mitzubekommen. Kein Wort war aus ihm herauszubekommen. Er wurde nur hie und dabei beobachtet, wie er sich in irgendeiner Ecke die Hand vor die Augen hielt, und sich dabei im Kreis drehte. Die Ärzte hatten ihn bereits aufgegeben, als er sich eines Tages während des Mittagstisches aufrichtete, und mit lauter Stimme verkündet, daß der Tag komme, wo die Rache alle treffen würde, die sein Leben auf schändlichste Weise zerstört hätten. Er schlug mit der Faust auf den Tisch, und warf danach mit Papptellern in der Gegend herum, als gälte dies als Bestätigung seiner Aussage. Kurz danach starb er im Alter von sechsundfünfzig Jahren an einer Fischgräte, die ihn gnädig ersticken ließ. Zu seinem Begräbnis kamen gezählte vier Leute; zwei Schwestern und der Oberarzt vom psychiatrischen Krankenhaus sowie sein ehemaliger Schulkamerad Hans, der zwischenzeitlich ein angesehener Kriminalbeamter geworden war, und in Notwehr einen Raubmörder erschossen hatte. Das Begräbnis endete damit, daß der Sarg, indem er einlag, einige Schaufeln Erde hinaufgeworfen bekam; danach war Ruhe um ihn; sein Grab wurde liebevoll von einer der beiden Schwestern gepflegt, die, wie man munkelte, eine Zeitlang ein intimes Verhältnis mit dem ihr anvertrauten Patienten unterhalten hatte, was jedoch stets von ihr dementiert wurde.

Und alles hatte damit angefangen, daß er sich einen Urlaub im Büro genehmigt hatte...

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