Der jüngste Tag des edlen Cölestin
von Harald Schulz
Der Himmel über Cölestin spannte sich und knisterte in seiner Pein. Schon einen Sommertag lang quollen heiße Ströme himmlischer Lava auf die Erde herab. Es dörrten die Gräser, es zischten die Gewässer und es brannten die Geschöpfe. Wogen gleißenden Lichts schwappten über den Asphalt und schäumten hoch an Cölestins Beinkleidern. Früh morgens schon war er ins Freie gekrochen um seine kalten Glieder einen Tag lang zu wärmen. Nun war ihm wohlig zumute. Passanten wurden seiner beiläufig gewahr, doch nur beiläufig, denn nichts war an ihm, das ihre Aufmerksamkeit länger auf sich ziehen hätte können. Ein etwas knöchriger Gesichtsschädel, fürwahr, doch vermählt mit sinnlich gerundeten Lippen und einem entrückten Blick unter abgesenkten Lidern, verlieh seinem Antlitz den Charakter zärtlicher Askese, der schon so manches Weib entflammt hatte. Nein, schön sei er nicht, hatten die Weiber geurteilt, doch interessant sei dieser Mann, der ihnen noch in leidenschaftlichsten Momenten fremd und - ja! - unheimlich blieb. Und so flohen sie ihn, nicht ohne zu loben seine sittliche Größe, die ihn vor allen auszeichne, die ihn als Ausgeburt von Tugend und rechtem Maß erkenntlich mache. Sie hatten ihn handeln gesehen in Situationen von sittlicher Brisanz oder auch nur von alltäglicher Banalität und er hatte - so schien ihnen - dabei immer das fraglos Richtige getan. Nicht zu viel, noch zu wenig, sein Tun und Lassen war stets im Gleichmaß vollkommener Achtsamkeit, sodass er nie fehlte gegen den guten Geschmack. Er lebe schon langsam, irgendwie zögerlich, ja, fast gehemmt, sinnierten die Gespielinnen der Nächte, doch wenn er lebe, dann doch mit bezauberndem Charme im Verhältnis zu den Dingen, die ihn auch immer umgeben mögen. Und so gedachten die Frauen seiner mit Wehmut, denn seine Liebe zu ihnen war von vollendeter Zärtlichkeit gewesen. Was würden sie nicht alles geben, um noch einmal diesen Mann zu kosten, doch machte sie dieser Gedanke zugleich frierend. Da in Liebe erblindet, blieben ihnen ihre Empfindungen für den sonderbaren Mann rätselhaft.
Cölestin, wie immer um Unauffälligkeit bemüht, verharrte auf der Stelle und genoss das heiße Flimmern erhitzter Luft auf seiner Haut. Während der letzten Jahre war er vereinsamt. Selbst die Frauengeschichten - eine Neigung seines Geschlechts, nicht seines Gemüts - waren gerade noch welkende Erinnerungen aus früheren Tagen. Um eine Renaissance seines Liebeslebens war es ihm nicht zu tun. Immer schon hatte er mehr einem weltverschlossenen Käfer geglichen, der sich mit Artgenossen nur zwecks Paarung einfindet. Die Paarungszeit war längst vorbei und der Käfer krabbelte allein durch die starrende Weitläufigkeit des Daseins. Und das Dasein fing Flammen.
Bei einem Spielplatz verharrte Cölestin, gierend nach dem jungen Fleisch schattenloser Kinder, deren wachsame Mütter den fremden Mann ins Visier ihrer Blicke nahmen. War es denn möglich, dass das Insekt in ihm schon durch die äußere Hülle seiner zur Schau getragenen Anständigkeit kroch? Freundlich wollte er den Müttern zulächeln, doch fletschten sich nur seine Zähne. Und so wandte er sich von ihnen ab, als seine Augen schon funkelten und der Geifer aus seinen Mundwinkeln floss. Aus innersten Tiefen sprach die schwache Stimme des Gewissens zu ihm, die ihm sein Menschsein gewahrte. Nie hatte er ihre Worte begriffen, doch war er immer bemüht gewesen ihren Anforderungen zu entsprechen. Er war das wohl dressierte Tier und sie sein Dompteur. Ja, und er würde wieder gehorsam sein. Aus seinen Poren trat kalter Schweiß, als er sich den Müttern wieder zuwandte, jetzt in der Inszenierung als netter Onkel und sie mochten in sofort, ihn, den Mann, der ihre Kinder mochte. Und sie flirteten mit ihm, diese, deren Männer sich längst verlaufen hatten. Ihre welken Blüten fassten Saft in Gegenwart des Mannes, der ihr kokettes Wesen schätzte. Seine Worte kamen langsam und klangen ganz anders, doch war sein Leib neben ihren Leibern ganz da und blieb doch für sich und griff nicht über. Er hielt sich korrekt und so spielten die Frauen ihr liebstes Spiel mit ihm und lockten und versagten sich. Derweil sammelte sich schon der Frauen Brut um das animalische Wesen des Cölestin, der nur noch schwieg. Es mischte sich die junge Brunft der Kinderschar mit der reifen- aber umso wilderen - Brunft der Mütter und es roch nach Leben und Cölestin war inmitten dieser Lebensfülle und blieb sauber und blieb rein. Als ihn zu sehr bangte, er könnte sich vergessen, bedankte er sich für die nette Bekanntschaft und verabschiedete sich von Müttern und Kindern, deren Sehnsucht noch kurz seinen Leib klammerte. Noch einmal hatte er Haltung gewahrt. Wieder einmal hatte er in allen Gesten bestanden und die anfängliche Bedrohlichkeit in seinem Auftreten virtuos revidiert. Wie lange würde ihm die Praxis der Selbstzügelung noch gelingen? Kaum gelang es ihm noch den alltäglichen Erwartungshaltungen seiner allernächsten Bezugspersonen zu entsprechen und ihre - ihnen selbstverständliche - Sittenordnung war ihm innerlich schon völlig entfremdet. Seine gar so auffällige Korrektheit, war in der Tat Produkt einer übermenschlichen Anstrengung, die für jede Situation in gewissenhaftester Manier stets auf ein Neues die richtige Verhaltensstrategie erwägen musste. Ermaß er doch kaum die Schuld, die einer
Schandtat anhaftete, noch das Heil in Verbindung mit wohltätiger Liebe. Cölestin spürte gar wohl, dass sein ganzes Handeln nicht gewohnheitsmäßig war, sondern immerzu nur improvisiert. Und so entwickelte er im Laufe der Zeit einen Sensor für die sittlichen Empfindungen seiner Mitmenschen, die er kopierte und sodann dem ahnungslosen Publikum darbrachte, in dessen Augen er der Ehrenmann war, der nie überzogen und nie teilnahmslos reagierte, der gab, wenn es statthaft war zu geben, und der nicht nahm, wenn nicht genommen werden durfte. In diesem Zusammenhang muss betont werden: Cölestin handelte nicht entsprechend üblicher Verhaltensmuster, sondern, Verhaltensmaxime war ihm der Kodex hoher Ansprüche, den seine Mitmenschen als ihre Gesinnungsethik im Munde führten; sozusagen der göttliche Wille in ihrer Rede. Allein diese Praxis maximalethischer Anpassung machte ihn zu dem, was er in den Augen vieler seiner Beobachter war: Ein edler Ritter unserer Tage. Anpassung an idealistische Mehrheitsmeinungen und nicht eine sorgsam gelebte Verantwortungsethik, so und nicht anders war seine opportunistische Lebenspraxis geartet. Darin glich er auch einer Vielzahl seiner Zeitgenossen, allerdings mit dem beachtlichen Unterschied, dass, was bei anderen als frevelsinniges Prinzip einer bequemen wie gleichsam wirtschaftlichen Lebensführung zu erkennen war, bei ihm - der bar jeder sittlichen Prägung existierte - ein kräftezehrender Akt der Selbsterhaltung sein musste. Cölestin wurde es mehr und mehr bewusst, dass dieses sein Leben nicht sein Leben sein konnte. Sein Leben äußerte sich als permanente Versagung der eigenen fleischlichen Wirklichkeit - der großen Vernunft seines Leibes -, war sittlicher Notstand, der ihm in der Konsequenz jede ganzheitliche Selbstfindung verunmöglichte und, anstelle einer entschiedenen selbstbestimmten Lebensprogrammatik, die bloße Ausrichtung am gehobenen Mittelmaß empfahl. Sohin hatte er für sich nichts erreicht, als Ehrerbietung der Anderen. Dass sich dabei sein Blut wässerte und seine Haut fahl wurde, peinigte, doch ertrug er sein Schicksal um der Praxis und der Ehre willen. Kultur ist Triebverzicht, hat schon der große Siegmund Freud festgestellt. Warum sollte es bei Cölestin anders sein? Seine Kultur war wenigstens eine nobel geartete, wie man ihm noch allemal zugestand. Nach seiner inneren Anteilnahme an dieser noblen Kultur, fragte kein Mensch.Cölestin war in eine rußige Häuserschlucht nebst dem Spielplatz entwichen. Noch vernahm er aus der Ferne die hellen Stimmen der Kinder, doch konnte er ihr Fleisch nicht mehr sehen. Aus den Behausungen zu seinen Seiten entwand sich sterbendes Getier in Menschengestalt. Schwarze Vögel segelten an den bröckelnden Gemäuern entlang. Ein Mädchen trat vor Cölestin hin und spitzte seine purpurnen Lippen. Ihr Haar flammte lichterloh, war schwarz wie Asche. Ihr Kuss brannte auf seinen Lippen und ihre Lippen bluteten von seinem Biss. In seinen Armen war sie ganz Tier und er erschrak und floh von ihr in Panik. Dass er ihr nicht stand gehalten hatte, beschämte ihn als Mann. Eine melancholische Stimmung ergriff sein Gemüt und lenkte seine Schritte zum Portal eines der Gotteshäuser, worin schwarz gewandete Asketen ihrem toten Gotte Leib und Seele zum Opfer darbrachten. Die Kraft der Sonne zerriss den Asphalt unter Cölestins Füßen, die Stadt verkohlte. Es regnete Funken und es tönte aus Posaunen, doch die Menschen schienen nicht beirrt. Ein Drache kroch zu auf Cölestin, dieser in das Gotteshaus entwich. Die kalte Stille darin kühlte ihm sein kochendes Gemüt. Erregt und erniedrigt suchte er Trost beim blassen Leibe des gekreuzigten Heilands. Nie war er christlich gewesen, doch hatte er immer geahnt, wessen Stimme ihm die Regeln sittlicher Lebensart gebietet. Es genügt Abendländer zu sein, um Christ zu sein. Dass er ihm nun, im Moment der Beklemmung, zu Füßen kroch, war nur konsequent. Der starre Leib des toten Gottessohnes schwieg Cölestin an und sprach zu ihm über die Dialektik von Gut und Böse. Bring mir deinen Leib zum Opfer dar und Du bist gut. Mehr war nicht zu sagen. Cölestin dankte dem toten Gott, lobpreiste ihn und wollte schon gehen, da stellte sich das Mädchen mit dem flammenden Haar an seine Seite. Sie schwieg, ganz so wie der tote irdische Körper des dreifaltigen Gottes, und sie sprach zu ihm über die Dialektik von Gut und Böse. Bring mir deinen Leib zum Opfer dar und Du bist gut. Mehr war nicht zu sagen. Cölestin brüllte gequält auf und in Angesicht Gottes wie des Mädchens zerbrachen sein Leib und seine Seele. Danach kehrte wieder Stille ein und der heiße Leichnam des Cölestin lag zu Füssen des Mädchens und von Gott. Gott rührte sich nicht. Das Mädchen aber nahm den zerbrochenen Leib an sich, ging und ließ die tote Seele bei dem Gott zurück, der tot am Kreuze hing. So nahmen beide, was das ihre war. Gott die Seele und ... .