"101 Reykjavik"
R: Baltasar Kormákur
D: Hilmir Snaer Guethnason, Victoria Abril, Hanna Maria
Karlsdóttir, Baltasar Kormakur.
Island 2000. 93 Minuten; OmU.
Die unerträgliche Leichtigkeit des
isländischen Seins
Bislang
galt Island, was das Filmschaffen betrifft, als terra
incognita. Selbst hartgesottene Cineasten taten sich schwer,
auch nur eine Leinwanderzählung anzuführen -
lediglich Sängerin Björk, die ihre
ätherische Stimme zeitweise in den Dienste von Soundtracks
stellt, ist hinlänglich bekannt. Mit "101 Reykjavik"
hat Frau Gudmundstóttir allerdings nichts zu schaffen.
Verantwortlich für den Film zeichnet Baltasar
Kormákur, der einen Roman seines Landsmannes
Hallgrímur Helgason für das Kinopublikum
aufbereitete. Skandinavische Schützenhilfe zur Realisierung
des Streifens kam aus Dänemark und Norwegen. Eher
überraschend ist das Mitwirken einer Spanierin in "101
Reykjavik", nicht nur irgendeiner, sondern von Victoria
Abril, bekannt aus zahlreichen Filmen von Regisseur Pedro
Almodóvar ("Atamé!", "Kika").
101 ist die Postleitzahl für das Stadtzentrum Reykjaviks, den
ältesten Teil der isländischen Hauptstadt, wo die so
genannte "kulturelle
Elite" beheimatet ist. Auch Hlynur, Bohemien und zentrale Figur des
Filmes, wohnt dort; bei seiner Mutter wohlgemerkt. Dreißig
Jahre hat der Langzeitarbeitslose auf dem Buckel. Seine Tage beginnen
mit Selbstbefriedigung und enden wenn nicht mit selbiger, dann mit
einem schnellen sexuellen Vergnügen zu Lasten seiner
gefühlsmäßig ausgezehrten Freundin
Hófí. Zwischendurch surft er durchs Internet,
konsumiert gelangweilt Pornos oder zieht mit Kumpanen von Theke zu
Theke. Seine alleinstehende Mutter macht Hlynurs Heim so behaglich wie
möglich. Vater gibt es auch, in Form eines gebrochenen
Quartalsäufers, der dem Sohn schon mal über den
Schnee gesäumten Weg läuft - bzw. auf diesem liegt.
Mitten ins alteingespielte tägliche Ritual der Trostlosigkeit
platzt Lola (Victoria Abril), eine spanische Flamencolehrerin, bei der
Hlynurs Mutter Kurse belegt hat. Das iberische Energiebündel
erregt nach dem Einzug in die Mutter-Sohn-Wohnung nicht nur die
ungeteilte hormonelle Aufmerksamkeit des unterkühlten
Nordländers, sondern sorgt ungewollt für die seit
langem notwendige Wende in dessen Leben. Hlynur entdeckt einen Sinn,
wenn dieser vorerst auch nur darin besteht, das Interesse seiner
exzentrischen Angebeten zu wecken. Als die Mutter über
Silvester zu Verwandten reist, werden die Tagträume des Sohnes
Realität. Nach reichlichem Alkoholkonsum kommt es zur
stürmischen Kopulation mit Lola. Liebesnacht wäre
wohl der verfehlte Ausdruck.
Kaum ist die Mutter zurück, eröffnet sie Hlynur mit
tränenumflorten Augen, dass sie seit langem lesbisch sei, Lola
liebe und mit dieser das weitere Leben verbringen möchte. Mit
dem gleichgeschlechtlichen Outing hat Hlynur kein Problem, im
Gegenteil, er bestärkt das verunsicherte Mutterherz. Weit mehr
Kopfzerbrechen bereitet ihm die Tatsache, selbst in Lola verliebt
zu sein, zumal in deren Bauch auch noch ein Kind heranwächst,
von dem seine Mutter keine Ahnung hat, dass er der "Samenspender" war.
Nun geht es Schlag auf Schlag, Dauerflamme Hófí
findet einen neuen Freund; Lola weist ihn emotional wie
körperlich ab. Hlynur verlässt erbost das traute
Heim, wandert ziellos durch Reykjavik und versucht sich durch
Einschneien lassen ins Jenseits zu befördern. Als selbst das
misslingt, setzt die Katharsis gleichsam mit dem Schmelzwasser ein.
Hlynurs Lebensweg ändert die Richtung, und der Film ist dort
angelangt, wo er von Anfang an hinwollte.
Prädikate wie "Kultfilm" oder "Insidertipp" werden oft
inflationär verteilt. "101 Reykjavik" verdient beide. Er
trieft vor sarkastischem Humor und arbeitet bewusst mit
Überzeichnungen von Charakteren und Situationen. Regie und
Drehbuch gelang es, aus den verqueren Lebenssituationen der
Protagonisten eine Quintessenz herauszufiltern, die nicht
erdrückt, sondern zum Schmunzeln anregt. Ein psychologisch
kluger Kniff, durch den der Zuseher animiert wird, über
tiefgreifende soziale Probleme nachzudenken, ohne bereits
vorab mit diversen Moralkeulen malträtiert zu werden. Ihr
eruptives schauspielerisches Naturtalent beweist Victoria Abril:
absolut in eine Reihe zu stellen mit Islands Vulkanen, Geysiren, .......
(lostlobo; 09/2004)
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Das
Buch:
Hallgrímur Helgason: "101 Reykjavik"
Hallgrímur Helgason erzählt mit einem trockenen,
bissigen Humor von einer Jugendszene, die genausogut in London, Paris
oder Berlin sein könnte. (Klett-Cotta)
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