Katja Hildebrand: "Zwischen uns die Mauer"
Lebendig erzählte Zeitgeschichte
Als die Jugendlichen, die heute 13 oder
14 Jahre alt sind, geboren wurden, da war sie schon gefallen als Ergebnis eines
schleichenden Erosionsprozesses des gesamten Warschauer Paktes: die Berliner
Mauer. Eine Grenze, die seit der Abriegelung am 13. August 1961 ein Symbol
war für den Ost-West-Konflikt, für die - aus heutiger Sicht - Alternative
zwischen einem freiheitlich-demokratischen System und einem letztlich
unterdrückerischen Staat, der seine Bürger bespitzelte und sie gewaltsam und mit
Stacheldrahtzäunen zu ihrem angeblich sozialistischen Glück zwingen
wollte.
Es ist gut, dass die heutigen Jugendlichen ohne diese Grenze
aufwachsen können, auch wenn sich gerade ihre Situation und ihre
Zukunftsperspektiven seit den 1990er Jahren nicht unbedingt verbessert
haben.
Aber es wäre schlecht, würden Jugendliche heutzutage quasi
geschichtsvergessen aufwachsen und bekämen keine Kenntnis von den Zuständen und
dem Lebensgefühl der Menschen diesseits und jenseits der ehemaligen Mauer- und
Stacheldrahtgrenze. Ob die Schulen hier die jüngste Geschichte Deutschlands
schon angemessen und ausführlich genug darstellen und vermitteln (können),
entzieht sich meiner Kenntnis. Ich bezweifle es aber. Umso notwendiger sind
wieder einmal die Bücher; Bücher, die Kindern und Jugendlichen etwas vermitteln
von der Gewordenheit der Welt und der Gesellschaft, in der sie leben, Bücher,
die Einblick verschaffen in die Wurzeln gesellschaftlicher und politischer
Entwicklungen. Es müssen Bücher sein, die das nicht trocken und mit
schulisch-pädagogischem Zugang versuchen, sondern die eingebunden sind in
Geschichten, wahre oder erdachte, mit denen sich Jugendliche identifizieren
können, weil es dort neben der Vermittlung der gesellschaftlichen Fakten immer
auch um ihre eigenen entwicklungsspezifischen Themen gehen muss.
Katja
Hildebrand ist mit ihrem autobiografischen Roman "Zwischen uns die Mauer" dieses
Vorhaben auf das Hervorragendste geglückt. Vielleicht auch deshalb, weil man auf
jeder Seite spürt, dass das Beschriebene existenziell entscheidend war und ist
für die Autorin.
Wir schreiben das Jahr 1984.
Die Friedensbewegung schwächelt und flackert doch noch stark in viele
Klassenzimmer und vor allem in die kirchlichen Jugendgruppen hinein. In eine
solche Jugendgruppe geht auch Katja, 16 Jahre alt. Sie ist in der 11. Klasse des
örtlichen Gymnasiums einer westdeutschen Kleinstadt, wo sie mit ihren Eltern und
ihren beiden viel jüngeren Geschwistern lebt.
Es ist Herbst, die Ferien
stehen vor der Tür, und Katja hat keine besonderen Pläne für diese Zeit. Da
fällt ihr die Einladung zu einer deutsch-deutschen Jugendbegegnung in
West-Berlin in die Hände. Besichtigungen in West-Berlin und Begegnungen mit
ostdeutschen Jugendlichen in Ost-Berlin stehen auf dem preisgünstigen
Programm.
Katja meldet sich an, fährt nach Berlin und lernt dort den
Ost-Berliner Markus kennen. Sie verlieben sich, trauen sich in ihren ersten
Briefen, die sie sich nach dieser Begegnung schreiben und die Katja Hildebrand
im Original dokumentiert, ihre Liebe erst langsam zu gestehen. Sie ist ja
auch zu schwierig. "Zwischen uns die Mauer". Und so hangeln sie sich von Besuch
zu Besuch. Markus schmiedet abstruse Fluchtpläne und hält doch fest an seinem
Studienwunsch als Mediziner. Man spürt mit jeder Seite mehr: so wird diese Liebe
verdorren. Die Mauer ist zu stark und die Hoffnung auf Veränderung zu
klein.
Katja und Markus ringen um ihre junge Liebe. Hier sind die
entscheidenden Stellen des Buches, wo es der Autorin mit ihren Originaltexten
gelingt, den heutigen jungen Lesern einen Eindruck zu vermitteln nicht nur vom
Lebensgefühl der damaligen jungen Generation, sondern auch von der politisch
festgefahrenen Situation, deren dann doch schnelle Veränderung niemand wirklich
erwartet hatte.
Und so kommt es, dass sie sich als Liebespaar trennen und
Freunde bleiben. Doch weil es offenbar eine wirklich große erste Liebe war,
verlöscht das Feuer nicht in den Herzen von Katharina und Markus.
Als
sich im Laufe des Herbstes 1989, Katharina studiert mittlerweile, und Markus ist
bei der NVA, die Lage zuspitzt, ist sie natürlich mit ihren Gedanken immer bei
ihrem Freund. Sie schreibt ihm eine Karte, schlägt ein Treffen vor. Als er lange
nicht antwortet, ist sie enttäuscht. Doch dann kommt sein Brief, sie treffen
sich und "diesmal hatten wir eine Chance".
"Als Markus und ich uns im
März 1990 wiedersahen, wussten wir schon nach ein paar Stunden, dass wir es noch
einmal miteinander versuchen wollten. Das ist jetzt mehr als vierzehn Jahre her.
Seitdem sind wir zusammen. Ein gutes Jahr nach unserem Wiedersehen (die DDR
hatte inzwischen aufgehört zu existieren, war Teil der Bundesrepublik geworden)
wurde unsere erste Tochter Tabea geboren.
Für Tabea und Milena (und alle
Anderen, die in ihrem Alter oder jünger sind) ist das geteilte Deutschland vor
dem Mauerfall eine fremde, unbekannte Welt. Deshalb habe ich diese Geschichte
für sie aufgeschrieben, damit sie verstehen, wie das früher war, damals, als wir
die Regenbögen auf die Briefe malten."
Ein wunderbares Buch, das man
Jugendlichen nur empfehlen kann. Aber auch für den mittlerweile über 50-jährigen
Rezensenten war die Lektüre eine nötige, immer wieder nötige Vergewisserung von
Geschichte, einer Geschichte, in die jeder von uns eingebunden ist.
(Winfried Stanzick; 03/2006)
Katja Hildebrand: "Zwischen uns die
Mauer"
Thienemann Verlag, 2006. 252 Seiten. (Ab 13 J.)
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Berlin, den 5. November 1984
Liebe Katja,
ich wollte dir
sagen, dass es schön ist, dass es dich gibt. Und: Gut, dass du mich besucht
hast. Eben hab ich noch den letzten Rest Spaghetti gemacht: Öl, Zwiebeln,
Kräuter, Gewürze, Käse. Tomatenmark hatte ich nicht mehr.
Mensch, du. Du
fehlst. Mir ist richtig heulig. Scheiße. Gestern bin ich an der Mauer
langgegangen. Looking at the wall ... Sehr interessant. Hab über den Seiltrick
nachgedacht. Fast unmöglich. Weil Befestigung des Seils zu auffällig.
Na ja,
Sonnabend hatte ich's noch nicht geschnallt. Ging zu schnell. DA - WEG. DA war
ganz, ganz schön. WEG kaum zu begreifen und nun schlimm. Der Sonnabend wiegt den
Frust auf, oder nicht. I don't know. Ich hoffe auf unseren Regenbogen. Dann freu
ich mich auf Rumänien. Wir kennen ja Leute dort, vielleicht können wir uns bei
denen treffen. Na ja. Das ist aber noch so lang. Merde.
Schade, dass Sprache
so eng ist. Nur drei abgegriffene Worte. Trotzdem: Ich liebe dich. Mir wird's
jetzt langsam klar. Ganz doll.
Dein Markus
Als der Brief am Samstagmorgen (genau
eine Woche nach meinem Besuch) in unseren Flur plumpste, hatte sich zumindest
äußerlich schon wieder Normalität breit gemacht: Schule, die üblichen Termine,
der ganze Alltagssumpf. Hinter der Fassade tobte allerdings das Gefühlschaos in
mir. Markus' Brief, über den ich mich selbstverständlich riesig freute,
verstärkte letztlich den leise nagenden Schmerz; auch mir war wegen der
fehlenden Perspektive für uns zeitweise zum Heulen zumute. Aber wie hieß es noch
in einem Gedicht von
Erich Fried? Es ist, was es ist.
Ich hatte das komplette Gedicht für
Markus abgeschrieben und dem (ebenfalls halb hoffnungsvollen und halb
gefrusteten) Brief beigefügt, den ich vor zwei Tagen in den Kasten geworfen
hatte. Es ist, was es ist ... und ich wusste, dass ich dieses Gefühl nicht
unterdrücken wollte.