Mirjam Pressler: "Golem stiller Bruder"


Das Werk Mirjam Presslers ist beeindruckend. Nicht nur verdanken wir ihr die Übersetzung Hunderter wichtiger Bücher aus dem Hebräischen, Niederländischen und Flämischen, sondern sie hat auch selbst zahlreiche Kinder- und Jugendromane veröffentlicht, von denen nicht wenige ausgezeichnet wurden.

Nun hat sie mit "Golem stiller Bruder" einen Roman geschrieben, der nicht nur die historische Golemlegende mit einer genialen Schilderung des jüdischen Lebens in Prag um das Jahr 1600 verbindet, sondern auch als Einführung in das religiöse Alltagsleben der Juden in einer mittelalterlichen Stadt mit zahllosen Hinweisen und Informationen zur jüdischen Religion gelten kann.

Immer wieder wird, wenn die Rede auf den Golem kommt, jener berühmte Rabbi Löw aus Prag genannt. Dieser heilige Mann soll um das Jahr 1600 einen sogenannten Lehmmenschen geschaffen haben.
Mirjam Pressler erfindet nun ihre Geschichte um den historischen Rabbi Löw in der großen Prager jüdischen Gemeinde, der damals größten in Europa. Diese profitierte von der Haltung des damaligen Kaisers Rudolf, der die Juden Prags unter seinen ausgesprochenen Schutz stellte.

Der 15-jährige Jankel und seine kleine Schwester Rochele habe das Dorf Mořina verlassen, wo sie, mehrere Tagesreisen von der Hauptstadt Prag entfernt, bei ihrer Tante Scheijndl gelebt hatten, die all die Jahre für ihr Wohl gesorgt hatte, wenn der Vater der Kinder, ein Bücherhändler, oft wochenlang unterwegs war. Die Mutter ist bei der Rocheles Geburt gestorben, und als der Vater ewig lange von einer Reise nicht nach Hause zurückkehrt und es keine Nachricht von ihm gibt, die Tante selbst auch immer hinfälliger wird, schickt sie die beiden Kinder nach Prag zu ihrem Onkel, dem Hohen Rabbi Löw.

Unter vielen Abenteuern treffen die beiden Kinder dort ein, Rochele kommt bei Jente, einer Schwester des Rabbis, unter und wird in deren Familie schnell heimisch, Jankel wird vom Rabbi in dessen Haus aufgenommen und beginnt bei einem jüdischen Bäcker in der Judenstadt zu arbeiten. Dort lernt er auch Schmulik kennen, den Sohn Jentes, und wird dessen bester Freund. Schmulik erzählt Jankel von seinem Onkel, dem Rabbi, der Jankel die erste Zeit seines Aufenthaltes in dessen Haus sehr fremd bleibt. Vor allem seit Jankel mit Josef zusammengetroffen ist, einem großen, grobschlächtigen Menschen, den der Rabbi jeden Abend nach oben in dessen Dachstuhlkammer begleitet.

Eines Tages schleicht sich Jankel nachts auf den Boden und sieht Josef regungslos auf der Erde liegen. Er denkt, Josef sei tot, doch Schmulik klärt ihn endlich über das Geheimnis des Golem auf. Der Hohe Rabbi Löw hat ihn vor einiger Zeit an den Ufern der Moldau aus Lehm geschaffen, damit der Golem helfe, die bedrohten Juden in Prag zu beschützen. Dafür und nur dafür durfte er nach Gottes Willen und mit seiner Unterstützung geschaffen werden.
Und das ist auch bitter nötig. Obwohl Kaiser Rudolf den Juden Schutz versprochen hat, gibt es erste Pogrome, und ein Mönch namens Thaddäus tut sich mit judenfeindlicher Hetze auf den öffentlichen Plätzen Prags ganz besonders hervor.

Der Hohe Rabbi Löw, der Onkel Jankels, der diesem mit der Zeit immer näher kommt, trifft sich in solchen schweren Zeiten der Bedrohung mit einem Doktor Balthasar, der den Juden wohl gesonnen und ein aufgeklärter Mann ist und den Juden schon oft vermittelnd helfen konnte. Jankel und Schmulik werden vom Rabbi des öfteren mit Botendiensten, aber auch mit besonderen politischen Botschaften betraut, die sie aus der Judenstadt herausbringen müssen.

Und so erfährt der jugendliche Leser über die beiden Jugendlichen Jankel und Schmulik, die die allerbesten Freunde geworden sind und ihre Beziehung oft mit der von David und Jonathan aus der Bibel vergleichen, eine ganze Menge über die brisante Situation in der Stadt und die Judenfeindlichkeit weiter Teile der Bevölkerung.

Es soll von der spannenden Handlung nicht zu viel verraten werden. Besonders erwähnen muss man aber das absolute literarische Geschick, mit dem Mirjam Pressler nicht nur eine spannende Geschichte erzählt, sondern dem Leser jüdische Religion, rabbinisches Leben, jüdische Weisheit und Lehren der Kabbala näher bringt.
Indem sie etwa alle drei bis vier Seiten die Erzählungsperspektive wechselt, bringt sie eine eigene Authentizität in die Geschichte, die fortlaufend erzählt wird, im Wechsel mit dem Erzähler aber immer wieder Jankel selbst mit seinen persönlichen Eindrücken und Gefühlen zu Wort kommen lässt.

So ist ein außergewöhnliches Jugendbuch entstanden, das auch allen Erwachsenen empfohlen werden kann, die etwas über das jüdische Leben in Prag um 1600 lernen und erfahren wollen, wie diese Menschen angesichts drohender Pogrome und Verfolgung ihr Leben bewältigten.
Ein Glossar am Ende des Buches erklärt jiddische und hebräische Begriffe. Was dem Buch noch gut getan hätte, wären am Ende einige Seiten Erklärung und Hilfen für die bei der Lektüre zwangsläufig aufbrechende Frage, warum die Juden durch die Geschichte immer wieder verfolgt wurden. Denn dass die Argumentation des Mönches Thaddäus, sie seien die Christusmörder und würden Christenblut für ihren Ritus brauchen, nur vorgeschoben ist, versteht jeder Leser sofort. Wie kommt es über die Jahrhunderte immer wieder zu Antisemitismus, bis hin zu der industriellen Massenvernichtung des Holocaust?

Auch einige weiterführende Literaturhinweise hätte ich begrüßt. Aber auch ohne diese Ergänzungen ist dieses Buch Mirjam Presslers der erneute Beweis dafür, dass wir es hier mit einer Schriftstellerin und Übersetzerin zu tun haben, die in Deutschland einzigartig ist.

Es müsste sich einmal jemand die Mühe machen, alle eigenen Werke und die übersetzten Bücher von Frau Pressler aufzulisten. Diese Bibliothek könnte sich sehen lassen.

(Winfried Stanzick; 09/2007)


Mirjam Pressler: "Golem stiller Bruder"
Beltz & Gelberg, 2007. 373 Seiten. (Ab 12 J.)
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