Die große Tänzerin
Vielleicht sollte ich heute zum Arzt gehen. Oder nein, das ist mir zu viel Zeitverschwendung. Erst einmal zwei Stunden warten, in denen man vielleicht einkaufen kann, oder in denen man in einer dieser entsetzlich langweiligen Zeitschriften blättern kann, die einem weismachen wollen, dass man eine Menge von ihnen lernen kann, wenn man nur will, und nach deren Lektüre man genauso schlau wie vorher ist. Nein, dazu hab ich keine Lust, ich lege mir lieber mehr Eispakete auf meine Beine, das tut mir gut, das spüre ich, das hemmt die Entzündung, verdrängt sie, drückt sie nieder, entmannt sie.
Es ist aber nicht so, dass ich nicht tanzen kann. Meine Beine wollen nur nicht so wie ich. Ich könnte viel mehr schaffen, wäre bereits auf sämtlichen Bühnen hoch gefragt, wenn mir mein Körper nicht ständig Striche durch die Rechnungen ziehen würde. Ich bin eine großartige Tänzerin, viele haben mir das gesagt, und ich glaube es ihnen, denn warum sollten sie denn auch lügen? Ich wollte schon immer tanzen, das ist mir in die Wiege gelegt worden, wenn ich meinen Beinen nachgebe, dann begehe ich Verrat an mir selbst.
Es sieht gut aus im Spiegel. Ich tanze wieder in der ersten Reihe, die meisten haben sowieso kein Interesse daran, sich nach vorne zu stellen, weil sie die Choreographie nicht beherrschen, und mich zudem beobachten wollen, um richtig mitzukommen. Ich frage mich bei einigen von ihnen, warum die sich hier eigentlich täglich so viele Stunden abmühen, wenn sie doch so verbissen wirken und im Grunde gar kein Gefühl für ästhetische Bewegung haben.
Wenn die tanzen, dann wirken sie merkwürdig verbissen, dann knicken die ihre Mundwinkel so sehr nach unten, was nicht besonders enthusiastisch wirkt. Ich schaue mich im Spiegel an, mein Gesicht ist glaub ich um einiges freundlicher. Mir merkt man es doch an, dass mir die Tanzerei Spaß macht, oder?
Es kann nicht sein, warum denn gerade ich? Niemand vermag meine Schmerzen nachzufühlen. Es tut weh, es tut weh, scheiße noch mal, es tut weh! Zu viel Belastung heißt es. Zu viel Belastung. Aber wenn ich nicht vier Stunden am Tag tanze, dann bleibe ich im langweiligen Durchschnitt kleben, dann kann ich meine Karriere vergessen. Die Bühne ist hart, sie fragt nicht nach dummen, kleinen Wehwehchen, sie schweigt und brüllt zugleich und spiegelt die Absurdität Deiner Schrittfolge wieder, indem sie freundlich und zuvorkommend mitschwingt. Ich muss wieder zu diesem Arzt, er sieht mich jedes Mal so an, als wäre ich zu bemitleiden. Nun ja, vielleicht ist es ja gar nicht so schlecht. Jemand, der trotz der verschärften körperlichen Grenzen über den Durchschnitt springt, das sorgt für Furore! So ein wenig Mitleid ist dann vielleicht wie eine milde warme Dusche, die sich um einen schmiegt wie seichtes Fell.
Vier Spritzen pro Bein, mein Gott, als wäre ich drogensüchtig, so sieht es aus. Ich habe ein bisschen Wasser in den Beinen, was man glücklicherweise nicht erkennt, da meine Fesseln so schlank sind, und nun eben einfach nicht mehr ganz so dünn wirken. Wenn ich auf die Haut an dieser Stelle drücke, dann bleibt für ein paar Sekunden eine Delle, als wäre ich aus einem elastischen Gummimaterial gebaut.
Früher haben mir alle gesagt, meine Sehnen wären aus Gummi, das könne nicht normal sein. Ich musste noch nicht einmal trainieren, um mich in den Spagat zu setzen!
Es ist jetzt besser, die Spritzen helfen Gott sei Dank. Wir haben die Choreographie beinahe beendet, jetzt sieht es schon wahrlich stattlich aus, wir bewegen uns symmetrisch, wie künstlich produzierte Wellen in einem dieser hitzigen Hallenbäder. Mit Kostümen wird das alles besonders strahlend wirken, wir werden sicherlich viel Beifall ernten. Mami wäre sicher sehr stolz auf mich, wenn sie mich so sehen könnte. Sie würde mir jeden Abend einen kühlen Umschlag für die Beine machen und mir Matetee zubereiten, damit es mir gut geht. sie würde in der ersten Reihe sitzen und klatschen bis ihre Hände rau werden und anfangen zu brennen. Sie würde...
Ich möchte
schreien, schreien, ich halte es nicht aus. Dieser Schmerz, es brennt, piekt,
sticht, pocht, hämmert. Das kann kein normal Sterblicher aushalten, ich muss Pause
machen, ich setze mich an die Seite, besser ich ruhe mich jetzt aus als wenn das
bei der Aufführung passiert. Ich muss meine Knöchel massieren, wovon ich genau
weiß, dass es überhaupt nichts bringt. Die Massage bei der Krankengymnastik kann
nicht wirklich gut für mich sein, ich glaube nicht, dass es normal ist, wenn meine
Beine hinterher noch mehr schmerzen und sie am nächsten Tag von blauen Flecken
übersät sind. Mit einem Holzhammer massieren? Was glauben die, was ich hab? Gut,
manchmal möchte ich meine Beine auch einfach weghauen. Aber bitte, dann tu ich
es selbst. Vielleicht bringt es etwas, wenn ich mit viel Druck meine Waden umschließe.
Dann den Druck erhöhen, den Schmerz aushalten, auf die Schienbeine pressen, sodass
es wie unter einem offenen Feuer brennt. Wenn der Schmerz Überhand nimmt, meine
Sinne entschärft und meinen Kopf verdreht, wenn ich mit meiner Wahrnehmung den
dröhnenden Knochen untertan bin, dann werde ich ihn vielleicht bezwingen können...
Verflixte Scheiße, kann ich nicht einfach zwei neue Beine bekommen? Diese hier
taugen nichts, das sind nicht meine, die sind mir angeschraubt worden, es kann
nicht sein, dass ich ein Leben lang auf sie angewiesen bin. Man will doch niemals
auf jemanden bauen, der nicht verlässlich ist! Warum muss ich es dann tun!?
Hilfe, warum hilft mir denn keiner, warum versteht es keiner. Glauben die alle,
dass es mir nichts ausmacht? Sie springen einfach weiter, und wahrscheinlich noch
höher als sonst, und es tut ihnen nicht weh, es ist, als wären sie auf einem Trampolin,
das sie von ganz alleine wieder hoch in die Lüfte schwingt! Himmel noch mal, diese
Schmerzen sind nicht auszuhalten, ich brauche wieder Spritzen, dann kann ich wiederkommen
und Trampolin springen. Vielleicht hat es alles seinen Sinn, vielleicht soll ich
diese Hindernisse überwinden, um dann wirklich den Durchbruch zu bringen, zu gewinnen
und aus allen Registern ziehen zu können. Vielleicht ist es genau das, was mein
Leben ausmacht. Je größer das Hindernis, desto größer der Erfolg, das Glück, die
Seeligkeit. Ist es die Seeligkeit, die mich dahinter erwartet?
Ich weiß nicht.
Darüber
muss ich nachdenken.
Vielleicht sollte ich mir noch einen zweiten Arzt holen, damit es nicht auffällig wird. Ich kann ja nicht viermal die Woche zu ein und demselben, um mir jedes Mal ein paar Spritzen verpassen zu lassen. Ich sollte darüber nachdenken.
Natascha ist glaub ich neidisch. Was bewegt sie sonst dazu, mir zu erzählen, ich hätte zu wenig Spannung? Sie hat ein Problem. Sie ist eben nur Tanzlehrerin geworden, hat den Sprung zur Bühne nicht geschafft. Vielleicht sollte sie sich mal überlegen, woher das kommt. Aber wahrscheinlich ist sie über den Punkt schon hinweg, hat alles verdrängt und stürzt sich jetzt auf ihre stupide Arbeit, pflegt ihre Waden, nimmt Fußbäder und beschaut jeden Tag die Muskeln an ihrem Rücken, die noch um einiges stärker und fester sein könnten, hätte sie den Sprung, diesen gewissen Sprung, den entscheidenden, geschafft.
Es
ist wunderbar. Der zweite Arzt macht mir ebenfalls keine Unannehmlichkeiten, ich
bleibe am Ball, jeden Tag kann ich jetzt kommen, und es tut nur abends im Bett
weh. Ich lege meine Beine so oft wie nur möglich hoch, damit ich ihnen nicht schade.
Mami würde das für sehr vernünftig halten. Vielleicht tanze ich ja das Solo, das
wäre fantastisch.
Ich unterhalte mich mit den Leuten aus den oberen Semestern,
gerne würde ich bei ihnen hineinschnuppern, das würde mir mit Sicherheit einiges
bringen. Aber vielleicht hat Raoul ja Recht, vielleicht bin ich eigentlich vom
Training her auch schon so weit. Ich könnte auch überspringen, ja das könnte ich,
ich werde Corinne fragen. Ich mag Corinne nicht. Aber vielleicht kann ich gleich
so tun als ob.
Jetzt stellt mir nicht nur mein Bein ein Bein, sondern auch Corinne. Wie kommt sie darauf, dass ich noch nicht so weit bin? Hat sie mit Natascha geredet? Edgar hat auch nichts eingewendet. Ah, jetzt weiß ich's, es ist das Geld. Die bekommen ein paar Tausender weniger, wenn ich die Klasse überspringe. So billig und einfach können Lösungen manchmal sein. Aber ist es ihnen zu verübeln? Sie sind drauf angewiesen! Ich kann es durchschauen und drüber lachen. Meinetwegen, ich hab den Laden sowieso nicht für die nächsten zwei Jahre nötig, ich bekomme schon vorher Engagements.
Ich glaube, jetzt hab ich fast alle soweit. Die meisten scheinen doch einzusehen, dass ich tanzen muss. Sie können das nicht weiter ignorieren. Vielleicht werden sie sich wundern, wenn ich so viel Erfolg habe. Und dann werden sie ganz stolz auf mich sein. Aber dann werde ich ihnen einfach den Rücken zudrehen, und ihnen sagen, dass sie nichts damit zu tun haben, dass nur ich stolz auf mich sein kann, dass nur ich mir den Rücken gestärkt hab. Sie werden enttäuscht sein, und das ist gut so. Sie werden sehen, was in mir steckt und dann trete ich sie alle in den Arsch, dann lache ich sie aus, und frage, ob sie zufrieden sind mit dem, was sie machen. Ich werde zufrieden sein. sie werden sich noch wundern.
Ich komme total aus dem Training. So geht es nicht weiter. Wenn ich fortan vom Unterricht entfernt bleibe, dann kann ich es vergessen. Oder ich fange wieder von vorne an. Oh, ich hab so oft von vorne angefangen, ich hab es satt, das will ich nicht mehr. Ich bin Tänzerin, das kann doch nicht so schwer sein. Wieso schaffe ich es nicht? Ich habe bald mehr Physiotherapie als Training. Die wissen dort alle, dass ich Tänzerin bin. Vielleicht wundern die sich darüber, denn sie glauben wahrscheinlich, dass ich gar nicht trainiere. Wann auch?
Ich
weiß, dass ich das Zeug habe, eine große Tänzerin zu werden. Wenn die Sache mit
dem Bein nicht wäre, dann wäre ich heute bereits eine wirklich bekannte Tänzerin.
Dann würde ich Soli tanzen. Warum nur? Es war doch klar, und das schon so lange,
dass ich diesen Beruf erlernen würde, dass ich in dieser Hinsicht wirklich wachsen
würde. Warum müssen die Hindernisse so hoch sein? Ich schaffe sie nicht mehr,
ich kann nicht mehr springen. Meine Muskeln werden irgendwie anders, ich weiß
nicht, nicht mehr so straff, meine Oberschenkel sind wabbeliger geworden, alles
lässt nach.
Noch mal von vorne anfangen, wenn alles gut ist? Aber wann ist
alles gut? Wenn die Schmerzen weg sind? Und was ist, wenn sie wiederkommen?
Chronisch, chronisch, dauerhaft, kratzend, enervierend, konstant, pulsierend, stechend, pochend, langwierig, chronisch, alles chronisch, immer chronisch, fortwährend, kaltschnäuzig, impertinent. Das sind nicht meine Beine, es kann nicht sein, dass mich dieser Gott mit solchen Beinen in die Welt geschickt hat. Er kann mich nicht hierher kommen lassen, um zu verlieren, um einzustecken, um einen Traum zerplatzen zu setzen, um mit ihm selbst in tausende und abertausende Stücke zerrissen zu werden und in der dichten Luft zu zergehen. Nein, das kann und will ich nicht glauben. Mein Gott ist gut, mein Gott ist Vernunft. Mein Gott weiß, dass ich tanzen kann. Und der Gott der anderen? Ist es derselbe? Dann müsste er es ihnen doch mitgeteilt haben, oder? Nein, es kann nicht derselbe sein.
Der
Teufel kann es nicht sein, der da in meinem Bein herumlungert. Es gibt den Teufel
nicht, es gibt nur das Sinnlose. Ich bin zu alt, um an so etwas wie den Teufel
zu glauben. Vielleicht bin ich auch alt. Mein Bein zumindest. Es ist uralt. Und
es lässt mich im Stich. Einen Sinn? Ob es den gibt? Ich weiß nicht, Gott wird
es wohl wissen, vielleicht ist es eine Strafe.
Herrgott, so ein Quatsch. Es
ist einfach ein kaputtes Bein, nein, es sind zwei kaputte Beine, und ich kann
froh sein, dass ich die Kosten für die nächsten zwei Jahre Tanzausbildung erstattet
bekomme, ich hatte ja alles im Voraus bezahlt, das gab mir so eine Sicherheit,
so eine Zuversicht, dass ich es schaffen würde.
Wenn Du jetzt da wärst, würdest Du es verstehen? Würdest Du mir neue Beine schenken, Mami? Vielleicht ist es ganz gut, dass Du verschwunden bist, vielleicht weißt Du nun mehr. Nein, es ist nicht so gemeint, ich vermisse Dich immer noch, wirklich sehr. Aber vielleicht wären meine Beine heute noch schlimmer zugerichtet. Weißt Du wie ich es meine? Vielleicht ahnst Du es zu diesem Zeitpunkt. Was soll ich denn nun anfangen? Meine Freunde sagen immer nur "die Tänzerin" zu mir. Was sollen sie denn nach all diesem zu mir sagen? Ich ruhe mich jetzt aus, ich werde lange atmen, und ich werde mich gar nicht mehr bewegen. Ich brauche mich nicht mehr zu bewegen. Ein Schaukelstuhl. Aus Holz, ohne Verzierung, ganz funktional. Ja, ein Schaukelstuhl muss her. Ich werde mir morgen einen kaufen.
(Katja Langer)