Steve Augarde: "Das Kleine Volk"
Auf zu Märchen, Moos und
Schöllkraut!
Die Sommerferien sind da. Für die zwölfjährige Midge
heißt das Urlaub vom Schulalltag. Sie fährt zu ihrem Onkel Brian aufs Land, um
im idyllischen West County auszuruhen. So beginnt alles, wie es in einem guten
englischen Märchen beginnen muss, doch von Ruhe kann keine Rede sein. Darüber
gleich mehr. Zuerst aber ein kleiner Hinweis für den richtigen Zugang an "Das
Kleine Volk". Wer nicht schon lange auf der Suche nach einem Mittel gegen
Schlafstörungen ist, sollte die ersten 48 Seiten rasch hinter sich (gelesen)
liegen lassen. Dann aber kann’s losgehen, auf Kindheitsmodus umschalten und
mitfiebern, zum Beispiel mit Pegs.
Wer ist Pegs? In Namen wie Statur eine
Bonsai-Version seines (?) antiken Vorfahren Pegasus. Ob Stute oder Hengst ist
dem Rezensenten nicht ganz klar. Soll es wohl auch nicht sein, schließlich haben
Zauberwesen ihre Geheimnisse. Auf alle Fälle liegt Pegs verletzt im Schober von
Onkel Brian, eine Schwinge eingeklemmt in den Metallscheren eines Heuwenders.
Und nun hat der Spott ein Ende, denn das Flügelpferd droht zu sterben. Käme da
nicht Midge zum Scheunentor herein. Telepathisch kommt es zur Kommunikation, und
das Mädchen befreit Pegs aus seiner (bleiben wir beim Hengst) lebensbedrohlichen
Lage. Nicht nur das, Midge pflegt den Pegasus auch einigermaßen
gesund.
Pegs stammt aus dem Königsforst (von den Menschen profan Howards
Hügel genannt). Er war aufgebrochen, für seine Königin in den Fernwald zu
fliegen, um die Lebenssituation dort zu erkunden. Über Menschengebiet ermüdete
der Kleine und stürzte förmlich ab. Moment: Für welche Königin? Victoria?
Elizabeth? Nein: Ba-betts! Die schmuddelige, rundliche Regentin ist etwa
kniehoch und trägt als Zeichen ihres royalen Prunks Regenstiefel aus Gummi
(Kindergröße, falls jemand an ein Staatsgeschenk denkt). Als ihre Sänfte halten
Gondlas her, Korbstühle mit Tragegriffen, die über Seilzüge von Ästen
herabgelassen werden. Von betörender Titania oder majestätischer Galadriel kann
also keine Rede sein. Ba-betts versteht sich aber auch gar nicht als eine Elfe
oder Elbe im uns vertrauten Sinne, sie zählt zum Kleinen Volk, zu den
Verschiedenartigen (engl. Originalbuchtitel: "The
Various").
Ba-betts und ihr flügelbewehrter General Maglin schicken einen Suchtrupp los,
um Pegs zu suchen und wenn es sein muss, aus Menschenhand zu befreien. Zusammenstellung
und Motto dieser Gemeinschaft mutiger Halblinge erinnern an Tolkiens
Ring-Epos. Maglin: "Wenn ihr als Gruppe erfolgreich sein wollt, müsst ihr
zuerst mal eine Gruppe sein wollen", eine Weisheit, welche aber auch aus
einem Betriebsführungsseminar stammen könnte. Wie auch immer. Jeder der fünf
verschiedenartigen Stämme schickt einen der Ihren ins Unbekannte. Bei den Naiad
ist es der Pferdezüchter Spindra, in dessen Herde Pegs vier Jahre zuvor hineingeboren
worden war. Die Wisp steuern Todd bei, einfach weil er noch Junggeselle ist
und wenig zu verlieren hat. Von den Troggel macht sich der Bergarbeiter Lumst
auf, von den Tinkler der Schmied Pank. Anführer der Truppe ist Grissel, ein
geflügelter Bogenschütze vom Volk der Ickri. Naiad und Wisp wohnen am Wasser,
Troggel und Tinkler leben in unterirdischen Bauen, während die Ickri auf Bäumen
hausen. Letztere sind Jäger und Krieger, sie dominieren das Kleine Volk, während
den beiden mit T beginnenden Stämmen sogar die Vertretung im gesetzgebenden
Ältestenrat verwehrt wird. Steve Augarde verpackt soziale und ethnische Probleme
sehr kindgerecht.
Der fünfköpfige und zweiflüglige
Stoßtrupp stößt beim Vorstoß ins Menschengebiet auf allerlei nichtmenschliche
Gefahren: ein buschiger Reineks kreuzt ihren Weg, ebenso ein stachliger
Igliwigli. Das Aufeinandertreffen mit dem Felix Tojo (dessen Vorfahren einst
Mäuse von den Pirrimiden fernhielten) kostet einem Verschiedenartigen das Leben.
Keine Sorge, der Rezensent tippt nicht unter dem hochprozentigen Einfluss der
Grünen Fee, er gibt nur die sprachlichen Eigenheiten von Ba-betts Untertanen
wieder. Apropos grün: die für Kinderfantasien wohl grusligste Figur in Augardes
Buch heißt Maven, ihres Zeichens Hexe. Besondere Kennzeichen: Gesicht und Hände
grün (vielleicht auch mehr), Körper efeuumrankt. Spricht wenig, vergiftet viel.
Alter: über die Erinnerung hinaus. Charakter: so gut wie der einer Hexe nun mal
sein kann. Taucht immer im rechten Moment auf, gewissermaßen eine wicca ex
machina.
Zurück zur Handlung: Midge gibt nicht nur ihr Bestes, um
Pegs in den Königsforst zurück zu bringen, sondern auch, um Onkel Brian davon
abzubringen, dieses ihm gehörende Waldstück an eine Immobiliengesellschaft zu
verkaufen. Das hieße Kahlschlag und Ende für Ba-betts und ihr Reich. Doch nicht
alle Verschiedenartige mögen das - ihren Begriffen nach - Riesenmädchen. Ein
menschenhassender Rebellentrupp unter dem Ickri-Jäger Scurl trachtet Midge gar
nach dem Leben. Aller Probleme Lösung könnte der so genannte Prüfstein bringen,
ein kugelförmiger, roter, magischer Gegenstand, der, zusammengeführt mit dem
metallnen Orbis, in dem er einst befestigt war, Macht über Luft und Elemente
gebietet. Ba-betts besitzt zwar den Stein, doch der Orbis wurde einst von
Celandine entwendet, heißt es, und blieb verschollen, glaubt man. Diese
Celandine, eine legendäre Gestalt, von der niemand im Kleinen Volk sagen kann,
ob sie denn je existierte, war die letzte "Riesin" vor Midge, die den
Königsforst betreten hatte. Mithilfe von Pegs und Maven wird das Geheimnis von
Celandine (nicht Celestine, wohlgemerkt!) mehr und mehr gelüftet.
Ein
sympathischer wie witziger schriftstellerischer Kniff von Steve Augarde, die
legendäre Heldin nicht nach ins Auge stechenden Rosen, Gladiolen oder
Granatäpfeln zu benennen, sondern nach dem am Waldesrand unbestaunt
dahinwachsenden Schöllkraut (Celandine). Erdig und zum Kleinen Volk passend.
Übrigens: die Verschiedenartigen bezeichnen uns Menschen als Gorji. Augarde
lässt die Wortbedeutung unerklärt, der Begriff erinnert dennoch ans bekannte
"gojim" oder "gadjes", "Nicht-Juden" bzw. "Nicht-Roma". Stichwort
Namensursprung: Maven mag den ihren wohl in "Queen Mab" haben, einer
Verschiedenartigen, derer sich mit Shakespeare oder Shelley schon zwei andere
englische Autoren dichterisch bedienten.
Mit einer auf weichem Moos
geborenen Liebesgeschichte unter Wichteln, nämlich der zwischen dem Ickri Marten
junior und dem Tinkler-Mädel Henty, erweitert Augarde den potenziellen Kreis der
Leser auf alle Pubertierenden - und: das stammesübergreifende Techtelmechtel
gibt Hoffnung auf Einheit und Fortbestand der Verschiedenartigen. Recht so! Wenn
Midge auf Seite 449 erstmals mit ihrem vollen Namen, Margaret Walters,
angesprochen wird, heißt das wohl, dass die junge Dame aufgrund ihrer
bestandenen Abenteuer ins Reich der Erwachsenen aufzusteigen beginnt. Alles in
allem hat Steve Augarde ein schönes Märchen voller gut gesetzter Zwischentöne in
Buchform gebannt.
(lostlobo; 02/2006)
Steve Augarde: "Das Kleine Volk"
(Originaltitel "The Various")
Übersetzt von Ursula
Höfker.
Arena Verlag, 2005. 453 Seiten. (Ab 10 J.)
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Ein weiteres Buch des
Autors:
"Der Elfenwald"
Wie friedlich könnte es auf der Mill Farm sein, wäre da nicht Miss Bell, die
einem das Leben zur Hölle macht! Eigensinnig wie sie nun einmal ist, nutzt Celandine
jede Gelegenheit, um der strengen Hauslehrerin zu entfliehen - auch an jenem
Sommertag, als sie sich vom Familienpicknick auf dem Howardshügel fortschleicht
... An diesem Tag sieht sie zum ersten Mal einen vom Kleinen Volk. Seitdem halten
einige Celandine für verrückt, und oft spürt sie auch selbst, dass sie anders
ist: Sie kann Krankheiten riechen und sieht Dinge, die nicht da sind - doch
die Kleinen Leute hat sie sich nicht eingebildet! Wieder und wieder versucht
Celandine, Kontakt aufzunehmen, und mit unendlicher Geduld gewinnt sie schließlich
das Vertrauen der Elfen.
Als plötzlich der Krieg auf schreckliche Weise in ihr Leben einbricht, findet
sie Zuflucht bei den Kleinen Leuten und teilt fortan ihre Geheimnisse. Doch
auch im undurchdringlichen Zauberwald auf dem Howardshügel tobt bald ein lebensgefährlicher
Krieg: Die Elfenvölker kämpfen um den Besitz des magischen Prüfsteins! Celandine
kann nicht bleiben ... (Arena Verlag. Ab 10 J.)
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