Viktor Pelewin: "Der Schreckenshelm"

Der Mythos von Theseus und dem Minotaurus


Moderator
Hallo, alle zusammen! Ein "Warnhinweis" vorweg: Das Nachstehende enthält Originalzitate aus dem Klappentext und dem Vorwort zu "Der Schreckenshelm" sowie Exzerpte aus Werken anderer Autoren.

Berlin Verlag
Gemeinsam mit 30 internationalen Verlagen ruft der Berlin Verlag ein einzigartiges Projekt ins Leben - die Buchreihe Die Mythen. Sie startet weltweit gleichzeitig als Auftakt zu einer verlegerischen Herkulestat. Renommierte Schriftsteller aus der ganzen Welt versammeln sich zu diesem großangelegten literarischen Unternehmen und schaffen mit ihren ganz eigenen Versionen mythischer Geschichten einen modernen Kanon klassischer Erzählkunst.

Leser
Verlegerische Herkulestat? Nanu, wo bin ich denn da hineingeraten?

Rezensent
Eine berechtigte Frage ...

Viktor Pelewin
Wenn man sich das menschliche Denken als einen Computer vorstellt, so sind die Mythen vielleicht ihre "shells": Programmroutinen, denen wir folgen beim "Berechnen" der Welt; mentale Matrizes, die wir auf komplexe Ereignisse projizieren, um sie mit Bedeutung zu füllen. Computerexperten behaupten, um gute Programme zu schreiben, müsse man jung sein. Diese Regel scheint für kulturelle Codes ebenso zu gelten. Unsere Programme wurden geschrieben, als die menschliche Rasse noch jung war - zu einem Zeitpunkt, der uns so obskur und entlegen erscheint, dass wir die Programmiersprache gar nicht mehr verstehen. Beziehungsweise noch fataler: Unser Verständnis ist so ausdifferenziert, so widersprüchlich, dass die Frage "Was bedeutet es?" jeden Sinn verliert.

Rezensent
Man dankt für die (hoffentlich) sinnstiftenden Worte zum Geleit.

Leser
Und was bedeutet es?

Viktor Pelewin
Warum hat der Minotaurus einen Stierkopf? Was geht darin vor? Ist sein Geist eine Funktion seines Körpers, oder ist sein Körper nur ein Bild in seinem Geist? Befindet sich Theseus im Labyrinth? Oder das Labyrinth in Theseus? Oder beides? Oder keines von beiden?

Georg Büchner
Das Volk ist ein Minotaurus, der wöchentlich seine Leichen haben muss, wenn er sie nicht auffressen soll. (Aus  "Dantons Tod")

Moderator
Herr Büchner, Sie befinden sich im falschen Forum!

Georg Büchner
Bin schon weg.

Rezensent
Geneigter Leser, Sie wundern sich vielleicht über die unkonventionelle Form dieser Besprechung. Zur Erklärung sei gesagt, dass hiermit vordergründig der Aufmachung des gegenständlich thematisierten Buchs entsprochen wird. Ich selbst staunte nicht wenig, als ich "Der Schreckenshelm" aufschlug, darüber, was Viktor Pelewin zusammengezimmert hat! Der Autor setzt nämlich neben wendiger gedanklicher Experimentierbereitschaft auch umfassende Kenntnisse der zentralen Mythenlandschaft voraus und sperrt seine virtuellen Protagonisten (so es sich denn um solche handeln sollte) ihrerseits in eine isolierte Versuchsanordnung, auf dass sie am eigenen Leib labyrinthische Erfahrungen sammeln, individuelle Bewältigungsstrategien an den Tag legen und darüber in einem abgeschlossenen Plauderforum, das dem "realen" Internet nachempfunden ist, diskutieren mögen. Im Unterschied zu den Gepflogenheiten im allgemein bekannten Internet zieht Pelewin eine auf Rechtschreibung und Streichung persönlicher Angaben bedachte schier allmächtige Moderatorenebene ein, die mit grundsätzlich pädagogischen Absichten das Ausdrucksniveau ebenso wie das Konzentrationsvermögen der (unfreiwilligen?) Plauderteilnehmer zu manipulieren bedacht ist, aber im Bedarfsfall keineswegs heftigere Machtdemonstrationen wie z.B. Zensurmaßnahmen oder Bestrafungen scheut. Welttheater im Kopf des Lesers. So ist Pelewins "Schreckenshelm" per se eine komplexe Gegenwartsherstellungsapparatur und ein Lektüreerlebnis, das dem Leser einigen guten Willen, sich mit dieser Art der Aufbereitung anzufreunden, abverlangt. Mag jedoch sein, dass sich eingefleischte Internetplauderer im Forenstil so wohl fühlen wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser ...

Der Minotaurus

Die Mythe lehrt: von Theseus Hand
Ward jenes Ungethüm bezwungen,
Das, unersättlich, gierentbrannt,
Die Opfer ohne Zahl verschlungen,
Die in des Labyrinth's Verließ
Athen, ihm zum Tribute, stieß.

Wohl rang der götterstarke Held
Im heißen Kampfe es zu Boden!
Doch, ob zum Schein von ihm gefällt,
Erstanden ist es von den Todten,
Und fordert mit erneuter Wuth
Den Zoll von unserm Fleisch und Blut.

Im dunkeln Labyrinth nicht mehr,
Es hauset jetzt in uns'rer Mitte!
Sein Antlitz dräut, verderbenschwer,
Entgegen uns auf jedem Schritte.
Sein früh'rer Name nur entschwand, -
Das Elend wird es heut genannt!

Das Elend, der lebend'ge Tod,
Sein Gift in jeden Tropfen mischend,
Der Wangen jugendliches Roth,
Der Augen heitern Glanz verwischend!
Das Elend, grimm, erbarmungslos,
Der Sünde tück'scher Bund'sgenoß!

Dem Manne ruft es lockend zu:
"Seh' Jeder selbst, was er erraffe!"
Der Jungfrau: "Hold und schön bist du!
Gebrauche deinen Reiz als Waffe!"
O Gott, noch mehr! wie oft entweiht
Die Unschuld es der Kinderzeit!

Und ries'ger stets wächst es empor,
Gleich einer Flamme lohem Wallen;
Das Unthier ist's, dem nach wie vor
Noch immer Hekatomben fallen!
Der Minotaurus, wüthend blind, -
Europa jetzt sein Labyrinth!

Die ihr im Rath der Weisen sitzt,
Und ihr, die Mächtigen, die Reichen,
Gedenket ihrer Qual! beschützt
Die Opfer, die verzweiflungsbleichen!
Wähnt nicht schon Alles wohlbestellt,
Sagt ihr: "Es ist der Lauf der Welt!"

Wißt ihr, wohin der Lauf uns führt?
Zum Kampf der Reichen und der Armen?
Weh' euch, wenn diesen ihr erkürt!
Kein Recht gilt da, wo kein Erbarmen.
O zahlt, von milderm Geist erhellt,
Für sie und euch das Lösegeld!

(von Betty Paoli)

 

 

 

Leser
Informationen über den Minotaurus, bitte!

Viktor Pelewin
Sollten Sie dem Minotaurus begegnen, sagen Sie niemals Muh! Das gilt als äußerst unkorrekt.

Leser
Muh!

Rezensent
Der Minotaurus ist eine Gestalt der griechischen Mythologie, Sohn eines aus Strafe für Missachtung der Opferriten vom Meeresgott Poseidon gesandten prachtvollen weißen Stiers und der Gattin des kretischen Königs Minos, Pasiphae, die sich gottgewollt in den Stier verliebte und vom erfinderischen Dädalus eine Kuhattrappe anfertigen ließ, um sich, in dieser verborgen, dem Stier hinzugeben. Die unglückselige Frucht dieser Vereinigung, der Minotaurus, hatte einen Stierkopf und einen menschlichen Körper. Er lebte in einem eigens für ihn angelegten Labyrinth, auch dies von Dädalus erdacht, der Sage nach in Knossos, und wurde mit Menschenopfern, die das mit göttlicher Unterstützung unterjochte Athen regelmäßig als Tribut zu entsenden hatte, ernährt.

(...) Hier an der Pfort' Androgeos Tod; und die Bürger des Cecrops,
Duldend die traurige Straf', als jährigen Zins zu entrichten
Sieben gelosete Söhn'; auch steht die Urne der Ziehung.
Dort entgegen erhebt sich im Meer das gnosische Eiland:
Wo die gräßliche Liebe des Stiers, und Pasiphae, heimlich
Zugeführt, und das Zwittergeschlecht, und der doppelte Sprößling
Minotaurus erscheint, ein Denkmal schmählicher Buhlschaft.
Dort das gekünstelte Haus, und der unauswirrbare Irrgang;
Aber er sah mit Erbarmen die liebende Königestochter,
Dädalus, und selbst löst' er den irrenden Trug des Verschlosses,
Da das Gewirr sein Faden enträtselte. (...)
(Aus Vergils "Äneis", übersetzt von Johann Heinrich Voß)

Theseus, Sohn des Regenten von Athen, wollte der grausigen Verpflichtung ein Ende setzen und begab sich freiwillig mit anderen Todgeweihten nach Kreta, wo Minos' Tochter Ariadne in Liebe zu ihm entflammte und Theseus darob den allseits bekannten Faden überreichte, mit dessen Hilfe der Unerschrockene schließlich, nachdem er dem Minotaurus den Garaus gemacht hatte, den Weg aus dem Labyrinth fand. Übrigens hatte Dädalus auch hierbei seine Finger im Spiel, weshalb er samt seinem Sohn Ikarus vom erzürnten Minos im Labyrinth eingekerkert wurde. Dies wäre eine Kurzfassung.
Der Minotaurus war und ist verständlicherweise ein beliebtes Motiv der bildenden Kunst. Viktor Pelewin zeigt den Mythos von Theseus und dem Minotaurus gewissermaßen beinahe in Echtzeit und im Echtbetrieb, wobei er sich einmal mehr als geistreicher Autor und raffinierter Entwickler nur scheinbar schlichter Szenarien erweist. Ob bzw. inwieweit "Der Schreckenshelm" tatsächlich einem vom Berlin Verlag so genannten "modernen Kanon klassischer Erzählkunst" angehören wird, bleibt jedoch abzuwarten.
Pelewin ist jedenfalls in seinem Labyrinth - pardon, Element.

Clemens Brentano
Nimm hin den Faden durch das Labyrinth,
Das schrecklicher als jenes alte ist,
In dessen ausweglosem Pfadgewind
Ein scheußlich Ungeheu'r den Wandrer frißt,
Denn hier mein Freund! schreckt dich kein greulich Tier,
Hier trägt der Drache menschliche Gestalt;
Hier ist die Schlange Weib, der Teufel Kavalier;
Hier tut dir Glanz und Tanz und Farb' und Duft Gewalt,
Hier ist die Sitte Kuppler, Freundschaft Seelverkäufer;
Die Treu Falschmünzer und die Unschuld Werber;
Der Busenfreund Spion, die Ehre Überläufer;
Die Lilie trägt am Hut hier der Verderber,
Mit Rosen deckt sich hier schamlose Schande,
Von Veilchen duftet hier die feile Pest.
Der sichre Weg streift hier am Höllenrande
Und überm Abgrund schwebet hier der Tugend Nest.
Du wagst dich hin! Gott stärke dich zum Helden
Und mach' für Sünd dich taub und blind und lahm;
Auf daß dies Blatt er möge Lügen schelten,
Wenn besser er hinwegzieht als er kam.

Moderator
Herrn Brentanos Beitrag bleibt aufgrund der Jenseitigkeit des Autors hinsichtlich Rechtschreibung unverändert.

Leser
In Friedrich Dürrenmatts 1985 herausgegebener Ballade "Minotaurus" erscheint das Mischwesen in anderem Licht, keineswegs als bösartiges Ungeheuer! Übrigens kommt dem Motiv des Labyrinths in mehreren Werken Dürrenmatts eine bedeutende Rolle zu. Die gedankliche Ausgangspositionierung Pelewins ist meines Erachtens jedoch ähnlich: Das Labyrinth als Gleichnis des Lebens, als zeitloses Symbol totaler Ausweglosigkeit; sämtliche Fluchtwege werden letztlich als Illusionen enttarnt, Lösungen existieren nicht, lediglich individuelle Irrwege in ineinander verschachtelten Gefängnissen und Versuche, Gegenwelten zu schaffen. Das Labyrinth als Mikrokosmos, im Zentrum leerer Raum!
Bei Dürrenmatt wird wohl die Frage nach der Einsamkeit des Einzelnen und nach der Würde des Andersartigen hervorgehoben. Sein vereinsamter Minotaurus befindet sich inmitten eines Spiegellabyrinths und freut sich über vermeintliche Gesellschaft, wird allerdings von Theseus, der sich als Minotaurus verkleidet hat, im Verlauf eines Tanzes getötet. Wer ist der Täter, wer das Opfer?
Auch die im Jahr 2002 verstorbene Schriftstellerin Undine Gruenter hat mehrmals das Labyrinth als Motiv für ihre Romane auserkoren.
Den roten Ariadne-Faden der Überlieferung könnte jemand unter Umständen sogar als "Nabelschnur" sehen ...

Peter Altenberg
Jemand?! Der Mann ist es, das männliche Geschlecht, das ganze Männertum! Die Welt "Mann" hat sich verbeugt, Reverenz gemacht, den Hut tief abgezogen vor dieser Welt "Weib" .... Der Minotaurus "Mann" hat eine Jungfrau verschlungen!! (Aus "Locale Chronik")



Zwölfter Gesang

Rauhfelsig war der Steig am Strand hernieder,
Ob des, was sonst dort war, der Schauer groß,
Und jedem Auge drum der Ort zuwider.
Dem Bergsturz gleich bei Trento - in den Schoß
Der Etsch ist seitwärts Trümmerschutt geschmissen,
Durch Unterwühlung oder Erdenstoß -
Wo von dem Gipfel, dem er sich entrissen,
Der Fels so schräg ist, daß zum ebnen Land,
Die oben sind, den Steg nicht ganz vermissen;
So dieses Abgrunds Hang, und dort am Rand
War's, wo von Felsentrümmern überhangen
Sich ausgestreckt die Schande Kretas fand,
Einst von dem Scheinbild einer Kuh empfangen.
Sich selber biß er, als er uns erblickt,
Wie innerlich von wildem Grimm befangen.
Mein Meister rief: "Bist du vom Wahn bestrickt.
Als sähst du hier den Theseus vor dir stehen,
Der dich von dort zur HöIl' herabgeschickt?
Fort, Untier, fort! Den Weg, auf dem wir gehen,
Nicht deine Schwester hat ihn uns gelehrt,
Doch dieser kommt, um eure Qual zu sehen."
So wie der Stier, vom Todesstreich versehrt,
Sich losreißt und nicht gehen kann, nur springen.
Und Satz um Satz hierhin und dorthin fährt;
So sahen wir den Minotaurus ringen,
Drum rief Virgil: "Itzt weiter ohne Rast;
Indes er tobt, ist's gut, hinabzudringen." (...)

(Aus dem Abschnitt "Die Hölle" aus "Die Göttliche Komödie"
von Dante Alighieri, übersetzt von Karl Steckfuß)

Moderator
Herr Altenberg, bitte nicht schon wieder.

Viktor Pelewin

Schon viele behaupteten steif und fest, die Wahrheit zu kennen. Doch bislang hat keiner aus dem Labyrinth herausgefunden. Also: Hals- und Beinbruch!

Rezensent
So viel vorab zur Versuchsanordnung in den vielleicht vorgetäuschten Köpfen von Ariadne, IsoldA, Nutscracker, Monstradamus, Organizm(-:, Romeo-y-Cohiba, Sartrik und UGLI 666. In weiteren Rollen: Theseus und TheZeus. Mehr über Träume und Tätowierungen, Asterisk, Äxte usw. usf. finden Sie im "Schreckenshelm", der sich seinerseits natürlich wiederum im "Schreckenshelm" befindet ...

(kre; 10/2005)


Viktor Pelewin: "Der Schreckenshelm"
Aus dem Russischen von Andreas Tretner.
Gebundene Ausgabe:
Berlin Verlag, 2005. 187 Seiten.
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Taschenbuch:
dtv, 2007.
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Ein weiteres Buch des Autors:

"Das heilige Buch der Werwölfe"

Die Prostituierte Ahuli wird von ihrer erlesenen Kundschaft hochgeschätzt. Gibt es doch nichts, über das sie nicht kenntnisreich zu parlieren weiß. Ihre Freier ahnen nicht, dass Ahuli nur auswendig gelernt hat, was die Anderen ihr erzählten. Und sie ahnen nicht, dass die anschließenden wilden Liebesspiele mit ihr nur in ihrer Fantasie stattfinden. Denn Ahuli ist eine Werfüchsin, die die Kunst der Hypnose beherrscht und ihre Energie aus den wüsten Träumen ihrer Kunden bezieht.
Eines Tages aber trifft sie auf einen Mann, der sich nicht hypnotisieren lässt. Es ist Alexander, Generalleutnant der Staatssicherheit und seinerseits ein Werwolf. Obwohl die Anarchistin Ahuli und der wackere Patriot Alexander in ihren An- und Aussichten weit auseinander liegen, verlieben sie sich ineinander. Aber sie streiten sich über den Erlöser-Werwolf, den die alten Prophezeiungen versprechen. Ist er ideologischer Humbug, wie Ahuli meint? Oder ist es gar Alexander selbst - wie Alexander meint?
Arbeiten im Vorstand von Gasprom nur Werwölfe? War der wilde Sex vorgestern nur krude Täuschung?
Erneut hat Viktor Pelewin eine ganz spezielle, typische Mischung aus exakter Fantasie und anarchistischer Analyse geschaffen, die sich köstlich liest. (btb)
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Zwei weitere Titel aus der "Mythen-Reihe" des Berlin Verlags:

Jeanette Winterson: "Die Last der Welt. Der Mythos von Atlas und Herkules"

"Als ich gebeten wurde, einen Mythos auszuwählen und darüber zu schreiben, erkannte ich, dass die Entscheidung schon feststand. Das Telefonat war noch nicht zu Ende, da schwebte mir bereits die Geschichte von Atlas vor, der die Welt auf den Schultern trägt. Ohne den Anruf hätte ich die Geschichte womöglich nie geschrieben, aber als er kam, wartete genau diese Geschichte darauf, erzählt zu werden. Der Leitspruch von 'Die Last der Welt' heißt: 'Ich will die Geschichte von neuem erzählen.'
'Die Last der Welt' bewegt sich weg von der einfachen Geschichte der Strafe des Atlas und der vorübergehenden Erleichterung, die er erfährt, als Herakles ihm die Welt von den Schultern nimmt. Ich wollte Einsamkeit, Isolation, Verantwortung, Bürde und schließlich auch die Freiheit erforschen, denn meine Version hat einen besonderen Schluss, der sonst nirgends zu finden ist." Jeanette Winterson
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Margaret Atwood: "Die Penelopiade. Der Mythos von Penelope und Odysseus"
"Ich habe mich entschieden, Penelope und ihre zwölf gehängten Mägde die Geschichte erzählen zu lassen. Die Mägde bilden einen Chor, der sich zwei Fragen widmet, die sich nach einer genauen Lektüre der "Odyssee" zwangsläufig auftun: Wie kam es zur Erhängung der Mägde und was führte Penelope im Schilde? Die Geschichte, wie sie in der "Odyssee" erzählt wird, ist nicht wasserdicht - sie birgt zu viele Widersprüche. Schon immer hat mich die Sache mit den gehängten Mägden verfolgt, und nicht anders ergeht es Penelope in "Die Penelopiade." Margaret Atwood
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Weitere Buchtipps:

Friedrich Dürrenmatt: "Minotaurus"

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René Girard: "Die verkannte Stimme des Realen. Eine Theorie archaischer und moderner Mythen"
So unterschiedlich Theorien über Kulturen auch ausgefallen sind, eines hatten sie oft gemeinsam: das Misstrauen gegenüber dem Begriff des Realen. Girard war es immer unbegreiflich, wie leichtfertig eine solch zentrale Kategorie preisgegeben werden konnte. In einer Reihe von Aufsätzen, die sich mit Nietzsche, der Bibel, Richard Wagner oder Dostojewskij beschäftigen, führt er vor, wie Theorie sich überhaupt erst aus dem Bezug auf das Reale entwickeln kann. Ein gelehrter Außenseiter meldet sich da zu Wort, der der Wirklichkeit gegen die Flüchtigkeit modischer Theorien zu ihrem Recht verhilft. (Hanser)
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Theseus bei Minos

Die erste Tat, die Theseus verrichtete, seitdem er als Königssohn und Erbe des attischen Throns an seines Vaters Seite lebte, war die Aufreibung der fünfzig Söhne seines Oheims Pallas, welche früher gehofft hatten, den Thron zu erlangen, wenn Aigeus ohne Kinder stürbe, und welche ergrimmt waren, daß jetzt nicht bloß ein angenommener Sohn des Pandion, wie Aigeus war, König der Athener sei, sondern daß auch in Zukunft ein hergelaufener Fremdling die Herrschaft über sie und das Land führen sollte. Sie griffen daher zu den Waffen und legten dem Ankömmling einen Hinterhalt. Aber der Herold, den sie mit sich führten und der ein fremder Mann war, verriet diesen Plan dem Theseus, der nun plötzlich ihr Versteck überfiel und alle fünfzig niedermachte. Um durch diese blutige Notwehr die Gemüter des Volkes nicht von sich abzukehren, zog hierauf Theseus auf ein gemeinnütziges Wagestück aus, bezwang den marathonischen Stier, der den Bewohnern vier attischer Gemeinden nicht wenig Not verursacht hatte, führte ihn zur Schau durch Athen und opferte ihn endlich dem Apollo.

Um diese Zeit kamen von der Insel Kreta zum drittenmal Abgeordnete des Königs Minos, um den gebräuchlichen Tribut abzuholen. Mit demselben verhielt es sich also: Der Sohn des Minos, Androgeos, war, wie die Sage ging, im attischen Gebiete durch Hinterlist getötet worden. Dafür hatte sein Vater die Einwohner mit einem verderblichen Kriege heimgesucht, und die Götter selbst hatten das Land durch Dürre und Seuchen verwüstet. Da tat das Orakel Apollos den Spruch, der Zorn der Götter und die Leiden der Athener würden aufhören, wenn sie den Minos besänftigten und seine Verzeihung erlangen könnten. Hierauf hatten sich die Athener mit Bitten an ihn gewendet und Frieden erhalten unter der Bedingung, daß sie alle neun Jahre sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen als Tribut nach Kreta zu schicken hätten. Diese sollen nun von Minos in sein berühmtes Labyrinth eingeschlossen worden sein, und dort habe sie, erzählt man, der gräßliche Minotauros, ein zwitterhaftes Geschöpf, das halb Mensch und halb Stier war, getötet, oder man habe sie verschmachten lassen. Als nun die Zeit des dritten Tributes herbeigekommen war und die Väter, welche unverheiratete Söhne und Töchter hatten, diese dem entsetzlichen Lose unterwerfen mußten, da erneuerte sich der Unwille der Bürger gegen Aigeus, und sie fingen an, darüber zu murren, daß er, der Urheber des ganzen Unheils, allein seinen Teil an der Strafe nicht zu leiden habe, und nachdem er einen hergelaufenen Bastard zum Nachfolger ernannt, gleichgültig zusehe, wie ihnen ihre rechtmäßigen Kinder entrissen würden. Den Theseus, der sich schon gewöhnt hatte, das Geschick seiner Mitbürger nicht als ein fremdes zu betrachten, schmerzten diese Klagen. Er stand in der Volksversammlung auf und erklärte, sich selbst ohne Los hinzugeben. Alles Volk bewunderte seinen Edelmut und aufopfernden Bürgersinn; auch blieb sein Entschluß, obgleich sein Vater ihn mit den dringendsten Bitten bestürmte, daß er ihn des unerwarteten Glückes, einen Sohn und Erben zu besitzen, doch nicht so bald wieder berauben solle, unerschütterlich fest. Seinen Vater aber beruhigte er durch die zuversichtliche Versicherung, daß er mit den herausgelosten Jünglingen und Jungfrauen nicht in das Verderben gehe, sondern den Minotauros bezwingen werde. Bisher nun war das Schiff, das die unglücklichen Opfer nach Kreta hinüberführte, zum Zeichen ihrer Rettungslosigkeit mit schwarzem Segel abgesendet worden. Jetzt aber, als Aigeus seinen Sohn mit so kühnem Stolze sprechen hörte, rüstete er zwar das Schiff noch auf dieselbe Weise aus, doch gab er dem Steuermann ein anderes Segel von weißer Farbe mit und befahl ihm, wenn Theseus gerettet zurückkehre, dieses auszuspannen; wo nicht, mit dem schwarzen zurückzukehren und so das Unglück zum voraus anzukündigen. Als nun das Los gezogen war, führte der junge Theseus die Knaben und Mädchen, die es getroffen hatte, zuerst in den Tempel des Apollo und brachte dem Gott in ihrem Namen den mit weißer Wolle umwundenen Ölzweig, das Weihgeschenk der Schutzflehenden, dar. Nachdem das feierliche Gebet gesprochen war, ging er von allem Volk begleitet mit den auserlesenen Jünglingen und Jungfrauen ans Meeresufer hinab und bestieg das Trauerschiff.

Das Orakel zu Delphi hatte ihm geraten, er solle die Göttin der Liebe zur Führerin wählen und ihr Geleite sich erbitten. Theseus verstand diesen Spruch nicht, brachte jedoch der Aphrodite ein Opfer dar. Der Erfolg aber gab der Weissagung ihren guten Sinn. Denn als Theseus auf Kreta gelandet und vor dem Könige Minos erschienen war, zog seine Schönheit und Heldenjugend die Augen der reizenden Königstochter Ariadne auf sich. Sie gestand ihm ihre Zuneigung in einer geheimen Unterredung und händigte ihm einen Knäuel Faden ein, dessen Ende er am Eingange des Labyrinthes festknüpfen und den er während des Hinschreitens durch die verwirrenden Irrgänge in der Hand ablaufen lassen sollte, bis er an die Stelle gelangt wäre, wo der Minotauros seine gräßliche Wache hielt. Zugleich übergab sie ihm ein gefeites Schwert, womit er dieses Ungeheuer töten könnte. Theseus ward mit allen seinen Gefährten von Minos in das Labyrinth geschickt, machte den Führer seiner Genossen, erlegte mit seiner Zauberwaffe den Minotauros und wand sich mit allen, die bei ihm waren, durch Hilfe des abgespulten Zwirns aus den Höhlengängen des Labyrinthes glücklich heraus. Jetzt entfloh Theseus samt allen seinen Gefährten mit Hilfe und in Begleitung Ariadnes, die der junge Held, beglückt durch den lieblichen Kampfpreis, den er unerwartet errungen, mit sich führte. Auf ihren Rat hatte er auch den Boden der kretischen Schiffe zerhauen und so ihrem Vater das Nachsetzen unmöglich gemacht. Schon glaubte er seine holde Beute ganz in Sicherheit und kehrte mit Ariadne sorglos auf der Insel Dia ein, die später Naxos genannt wurde. Da erschien ihm der Gott Bakchos im Traum, erklärte, daß Ariadne die ihm selbst vom Schicksal bestimmte Braut sei, und drohte ihm alles Unheil, wenn Theseus die Geliebte nicht ihm überlassen würde. Theseus war von seinem Großvater in Götterfurcht erzogen worden; er scheute den Zorn des Gottes, ließ die wehklagende, verzagende Königstochter auf der einsamen Insel zurück und schiffte weiter. In der Nacht erschien Ariadnes rechter Bräutigam, Bakchos, und entführte sie auf den Berg Drios; dort verschwand zuerst der Gott, bald darauf ward auch Ariadne unsichtbar. Theseus und seine Gefährten waren über den Raub der Jungfrau sehr betrübt. In ihrer Traurigkeit vergaßen sie, daß ihr Schiff noch die schwarzen Segel aufgezogen hatte, mit welchen es die attische Küste verlassen; sie unterließen, dem Befehle des Aigeus zufolge die weißen Tücher aufzuspannen, und das Schiff flog in seiner schwarzen Trauertracht der Heimatküste entgegen. Aigeus befand sich eben an der Küste, als das Schiff herangesegelt kam, und genoß von einem Felsenvorsprunge die Aussicht auf die offene See. Aus der schwarzen Farbe der Segel schloß er, daß sein Sohn tot sei. Da erhub er sich von dem Felsen, auf dem er saß, und im unbegrenzten Schmerze des Lebens überdrüssig, stürzte er sich in die jähe Tiefe; zu seinem Andenken nannte man von da an dies Meer das Ägäische. - Indessen war Theseus gelandet, und nachdem er im Hafen die Opfer dargebracht hatte, die er bei der Abfahrt den Göttern gelobt, schickte er einen Herold in die Stadt, die Rettung der sieben Jünglinge und Jungfrauen und seine eigene zu verkündigen. Der Bote wußte nicht, was er von dem Empfange denken sollte, der ihm in der Stadt zuteil ward. Während die einen ihn voll Freude bewillkommten und als den Überbringer froher Botschaft bekränzten, fand er andere in tiefe Trauer versenkt, die seinen fröhlichen Worten gar kein Gehör schenkten. Endlich löste sich ihm das Rätsel durch die erst allmählich sich verbreitende Nachricht vom Tode des Königes Aigeus. Der Herold nahm nun zwar die Kränze in Empfang, schmückte aber damit nicht seine Stirne, sondern nur den Heroldsstab und kehrte so zum Gestade zurück. Hier fand er den Theseus noch im Tempel mit der Darbringung des Dankopfers beschäftigt; er blieb daher vor der Türe des Tempels stehen, damit die heilige Handlung nicht durch die Trauernachricht gestört würde. Sobald das Brandopfer ausgegossen war, meldete er des Aigeus Ende. Theseus warf sich, vom Schmerz wie vom Blitze getroffen, zur Erde, und als er sich wieder aufgerafft hatte, eilten alle, nicht unter Freudenjubel, wie sie es sich gedacht hatten, sondern unter Wehgeschrei und Klageruf in die Stadt.

Aus "Sagen des klassischen Altertums" von Gustav Schwab.

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