Viktor Pelewin: "Der Schreckenshelm"
Der Mythos von Theseus und dem Minotaurus
Moderator
Hallo, alle zusammen! Ein "Warnhinweis" vorweg: Das Nachstehende enthält Originalzitate aus
dem Klappentext und dem Vorwort zu "Der Schreckenshelm" sowie Exzerpte aus Werken anderer Autoren.
Berlin Verlag
Gemeinsam mit 30 internationalen Verlagen ruft der Berlin Verlag ein
einzigartiges Projekt ins Leben - die Buchreihe Die Mythen. Sie startet
weltweit gleichzeitig als Auftakt zu einer verlegerischen Herkulestat.
Renommierte Schriftsteller aus der ganzen Welt versammeln sich zu diesem
großangelegten literarischen Unternehmen und schaffen mit ihren ganz eigenen
Versionen mythischer Geschichten einen modernen Kanon klassischer Erzählkunst.
Leser
Verlegerische Herkulestat?
Nanu, wo bin ich denn da hineingeraten?
Rezensent
Eine berechtigte Frage ...
Viktor Pelewin |
Der Minotaurus Die Mythe lehrt: von Theseus Hand Ward jenes Ungethüm bezwungen, Das, unersättlich, gierentbrannt, Die Opfer ohne Zahl verschlungen, Die in des Labyrinth's Verließ Athen, ihm zum Tribute, stieß. Wohl rang der götterstarke Held Im heißen Kampfe es zu Boden! Doch, ob zum Schein von ihm gefällt, Erstanden ist es von den Todten, Und fordert mit erneuter Wuth Den Zoll von unserm Fleisch und Blut. Im dunkeln Labyrinth nicht mehr, Es hauset jetzt in uns'rer Mitte! Sein Antlitz dräut, verderbenschwer, Entgegen uns auf jedem Schritte. Sein früh'rer Name nur entschwand, - Das Elend wird es heut genannt! Das Elend, der lebend'ge Tod, Sein Gift in jeden Tropfen mischend, Der Wangen jugendliches Roth, Der Augen heitern Glanz verwischend! Das Elend, grimm, erbarmungslos, Der Sünde tück'scher Bund'sgenoß! Dem Manne ruft es lockend zu: "Seh' Jeder selbst, was er erraffe!" Der Jungfrau: "Hold und schön bist du! Gebrauche deinen Reiz als Waffe!" O Gott, noch mehr! wie oft entweiht Die Unschuld es der Kinderzeit! Und ries'ger stets wächst es empor, Gleich einer Flamme lohem Wallen; Das Unthier ist's, dem nach wie vor Noch immer Hekatomben fallen! Der Minotaurus, wüthend blind, - Europa jetzt sein Labyrinth! Die ihr im Rath der Weisen sitzt, Und ihr, die Mächtigen, die Reichen, Gedenket ihrer Qual! beschützt Die Opfer, die verzweiflungsbleichen! Wähnt nicht schon Alles wohlbestellt, Sagt ihr: "Es ist der Lauf der Welt!" Wißt ihr, wohin der Lauf uns führt? Zum Kampf der Reichen und der Armen? Weh' euch, wenn diesen ihr erkürt! Kein Recht gilt da, wo kein Erbarmen. O zahlt, von milderm Geist erhellt, Für sie und euch das Lösegeld! (von Betty Paoli)
|
Leser
Informationen über den Minotaurus, bitte!
Viktor Pelewin
Sollten Sie dem Minotaurus begegnen, sagen Sie niemals Muh! Das gilt als
äußerst unkorrekt.
Leser
Muh!
Rezensent |
(...) Hier an der Pfort'
Androgeos Tod; und die Bürger des Cecrops, Duldend die traurige Straf', als jährigen Zins zu entrichten Sieben gelosete Söhn'; auch steht die Urne der Ziehung. Dort entgegen erhebt sich im Meer das gnosische Eiland: Wo die gräßliche Liebe des Stiers, und Pasiphae, heimlich Zugeführt, und das Zwittergeschlecht, und der doppelte Sprößling Minotaurus erscheint, ein Denkmal schmählicher Buhlschaft. Dort das gekünstelte Haus, und der unauswirrbare Irrgang; Aber er sah mit Erbarmen die liebende Königestochter, Dädalus, und selbst löst' er den irrenden Trug des Verschlosses, Da das Gewirr sein Faden enträtselte. (...) (Aus Vergils "Äneis", übersetzt von Johann Heinrich Voß) |
Theseus, Sohn des Regenten von
Athen, wollte der grausigen Verpflichtung ein Ende setzen und begab sich
freiwillig mit anderen Todgeweihten nach Kreta, wo Minos'
Tochter Ariadne in Liebe zu ihm entflammte und Theseus darob den allseits
bekannten Faden
überreichte, mit dessen Hilfe der Unerschrockene schließlich, nachdem er dem
Minotaurus den Garaus gemacht hatte, den Weg aus dem Labyrinth fand. Übrigens
hatte Dädalus auch hierbei seine Finger im Spiel, weshalb er samt seinem Sohn
Ikarus vom erzürnten Minos im Labyrinth eingekerkert wurde. Dies wäre eine
Kurzfassung.
Der Minotaurus war und ist verständlicherweise ein
beliebtes Motiv der bildenden Kunst. Viktor Pelewin zeigt den Mythos von Theseus
und dem Minotaurus gewissermaßen beinahe in Echtzeit und im Echtbetrieb, wobei er
sich einmal
mehr als geistreicher Autor und raffinierter Entwickler nur scheinbar schlichter
Szenarien erweist. Ob bzw. inwieweit "Der Schreckenshelm" tatsächlich einem
vom Berlin Verlag so genannten "modernen Kanon klassischer Erzählkunst"
angehören wird, bleibt jedoch abzuwarten.
Pelewin ist jedenfalls in seinem Labyrinth - pardon, Element.
Clemens Brentano
Nimm hin den Faden durch das Labyrinth,
Das schrecklicher als jenes alte ist,
In dessen ausweglosem Pfadgewind
Ein scheußlich Ungeheu'r den Wandrer frißt,
Denn hier mein Freund! schreckt dich kein greulich Tier,
Hier trägt der Drache menschliche Gestalt;
Hier ist die Schlange Weib, der Teufel Kavalier;
Hier tut dir Glanz und Tanz und Farb' und Duft Gewalt,
Hier ist die Sitte Kuppler, Freundschaft Seelverkäufer;
Die Treu Falschmünzer und die Unschuld Werber;
Der Busenfreund Spion, die Ehre Überläufer;
Die Lilie trägt am Hut hier der Verderber,
Mit Rosen deckt sich hier schamlose Schande,
Von Veilchen duftet hier die feile Pest.
Der sichre Weg streift hier am Höllenrande
Und überm Abgrund schwebet hier der Tugend Nest.
Du wagst dich hin! Gott stärke dich zum Helden
Und mach' für Sünd dich taub und blind und lahm;
Auf daß dies Blatt er möge Lügen schelten,
Wenn besser er hinwegzieht als er kam.
Moderator
Herrn Brentanos Beitrag bleibt aufgrund der Jenseitigkeit des Autors
hinsichtlich Rechtschreibung unverändert.
Leser |
Zwölfter Gesang Rauhfelsig war der Steig am Strand hernieder, Ob des, was sonst dort war, der Schauer groß, Und jedem Auge drum der Ort zuwider. Dem Bergsturz gleich bei Trento - in den Schoß Der Etsch ist seitwärts Trümmerschutt geschmissen, Durch Unterwühlung oder Erdenstoß - Wo von dem Gipfel, dem er sich entrissen, Der Fels so schräg ist, daß zum ebnen Land, Die oben sind, den Steg nicht ganz vermissen; So dieses Abgrunds Hang, und dort am Rand War's, wo von Felsentrümmern überhangen Sich ausgestreckt die Schande Kretas fand, Einst von dem Scheinbild einer Kuh empfangen. Sich selber biß er, als er uns erblickt, Wie innerlich von wildem Grimm befangen. Mein Meister rief: "Bist du vom Wahn bestrickt. Als sähst du hier den Theseus vor dir stehen, Der dich von dort zur HöIl' herabgeschickt? Fort, Untier, fort! Den Weg, auf dem wir gehen, Nicht deine Schwester hat ihn uns gelehrt, Doch dieser kommt, um eure Qual zu sehen." So wie der Stier, vom Todesstreich versehrt, Sich losreißt und nicht gehen kann, nur springen. Und Satz um Satz hierhin und dorthin fährt; So sahen wir den Minotaurus ringen, Drum rief Virgil: "Itzt weiter ohne Rast; Indes er tobt, ist's gut, hinabzudringen." (...) (Aus dem Abschnitt
"Die Hölle" aus "Die Göttliche Komödie" |
Moderator
Herr Altenberg, bitte nicht schon wieder.
Viktor Pelewin
Schon viele behaupteten steif und fest, die Wahrheit zu kennen. Doch bislang hat
keiner aus dem Labyrinth herausgefunden. Also: Hals- und Beinbruch!
Rezensent
So viel vorab zur Versuchsanordnung in den vielleicht vorgetäuschten Köpfen von
Ariadne, IsoldA, Nutscracker, Monstradamus,
(kre; 10/2005)
Viktor Pelewin: "Der Schreckenshelm"
Aus dem Russischen von Andreas Tretner.
Gebundene Ausgabe:
Berlin Verlag, 2005. 187 Seiten.
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Taschenbuch:
dtv, 2007.
Buch
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Ein weiteres Buch des Autors:
"Das heilige Buch der Werwölfe"
Die Prostituierte Ahuli wird von ihrer erlesenen Kundschaft hochgeschätzt. Gibt
es doch nichts, über das sie nicht kenntnisreich zu parlieren weiß. Ihre
Freier ahnen nicht, dass Ahuli nur auswendig gelernt hat, was die Anderen ihr
erzählten. Und sie ahnen nicht, dass die anschließenden wilden Liebesspiele
mit ihr nur in ihrer Fantasie stattfinden. Denn Ahuli ist eine Werfüchsin, die
die Kunst der Hypnose beherrscht und ihre Energie aus den wüsten Träumen ihrer
Kunden bezieht.
Eines Tages aber trifft sie auf einen Mann, der sich nicht
hypnotisieren lässt. Es ist Alexander, Generalleutnant der Staatssicherheit und
seinerseits ein Werwolf. Obwohl die Anarchistin Ahuli und der wackere Patriot
Alexander in ihren An- und Aussichten weit auseinander liegen, verlieben sie sich
ineinander. Aber sie streiten sich über den Erlöser-Werwolf, den die alten
Prophezeiungen versprechen. Ist er ideologischer Humbug,
wie Ahuli meint? Oder ist es gar Alexander selbst - wie Alexander meint?
Arbeiten im Vorstand von Gasprom nur Werwölfe? War der wilde Sex
vorgestern nur krude Täuschung?
Erneut hat Viktor Pelewin eine ganz spezielle, typische Mischung aus exakter
Fantasie und anarchistischer Analyse geschaffen, die sich köstlich liest. (btb)
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Zwei weitere
Titel aus der "Mythen-Reihe" des Berlin Verlags:
Jeanette Winterson: "Die Last der
Welt. Der Mythos von Atlas und Herkules"
"Als ich gebeten wurde, einen Mythos auszuwählen und darüber zu schreiben, erkannte
ich, dass die Entscheidung schon feststand. Das Telefonat war noch nicht zu
Ende, da schwebte mir bereits die Geschichte von Atlas vor, der die Welt auf
den Schultern trägt. Ohne den Anruf hätte ich die Geschichte womöglich nie geschrieben,
aber als er kam, wartete genau diese Geschichte darauf, erzählt zu werden. Der
Leitspruch von 'Die Last der Welt' heißt: 'Ich will die Geschichte von neuem
erzählen.'
'Die Last der Welt' bewegt sich weg von der einfachen Geschichte der
Strafe des Atlas und der vorübergehenden Erleichterung, die er erfährt, als
Herakles ihm die Welt von den Schultern nimmt. Ich wollte Einsamkeit, Isolation,
Verantwortung, Bürde und schließlich auch die Freiheit erforschen, denn meine
Version hat einen besonderen Schluss, der sonst nirgends zu finden ist."
Jeanette Winterson
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Margaret Atwood: "Die
Penelopiade. Der Mythos von Penelope und Odysseus"
"Ich habe mich entschieden, Penelope und ihre zwölf gehängten Mägde
die Geschichte erzählen zu lassen. Die Mägde
bilden einen Chor, der sich zwei Fragen widmet, die sich nach einer genauen Lektüre
der "Odyssee" zwangsläufig auftun:
Wie kam es zur Erhängung der Mägde
und was führte Penelope im Schilde? Die
Geschichte, wie sie in der "Odyssee" erzählt
wird, ist nicht wasserdicht - sie birgt zu viele Widersprüche.
Schon immer hat mich die Sache mit den gehängten
Mägden verfolgt, und nicht anders ergeht es
Penelope in "Die Penelopiade." Margaret Atwood
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Weitere Buchtipps:
Friedrich Dürrenmatt: "Minotaurus"
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René Girard: "Die verkannte Stimme des Realen. Eine
Theorie archaischer und moderner Mythen"
So unterschiedlich Theorien über Kulturen auch ausgefallen sind, eines
hatten sie oft gemeinsam: das Misstrauen gegenüber dem Begriff des Realen.
Girard war es immer unbegreiflich, wie leichtfertig eine solch zentrale
Kategorie preisgegeben werden konnte. In einer Reihe von Aufsätzen, die sich
mit Nietzsche, der Bibel, Richard Wagner oder Dostojewskij beschäftigen, führt
er vor, wie Theorie sich überhaupt erst aus dem Bezug auf das Reale entwickeln
kann. Ein gelehrter Außenseiter meldet sich da zu Wort, der der Wirklichkeit
gegen die Flüchtigkeit modischer Theorien zu ihrem Recht verhilft. (Hanser)
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Theseus bei Minos
Die erste Tat, die Theseus verrichtete, seitdem er als Königssohn und Erbe des
attischen Throns an seines Vaters Seite lebte, war die Aufreibung der fünfzig
Söhne seines Oheims Pallas, welche früher gehofft hatten, den Thron zu erlangen,
wenn Aigeus ohne Kinder stürbe, und welche ergrimmt waren, daß jetzt nicht bloß
ein angenommener Sohn des Pandion, wie Aigeus war, König der Athener sei, sondern
daß auch in Zukunft ein hergelaufener Fremdling die Herrschaft über sie und
das Land führen sollte. Sie griffen daher zu den Waffen und legten dem Ankömmling
einen Hinterhalt. Aber der Herold, den sie mit sich führten und der ein fremder
Mann war, verriet diesen Plan dem Theseus, der nun plötzlich ihr Versteck überfiel
und alle fünfzig niedermachte. Um durch diese blutige Notwehr die Gemüter des
Volkes nicht von sich abzukehren, zog hierauf Theseus auf ein gemeinnütziges
Wagestück aus, bezwang den marathonischen Stier, der den Bewohnern vier attischer
Gemeinden nicht wenig Not verursacht hatte, führte ihn zur Schau durch Athen
und opferte ihn endlich dem Apollo.
Um diese Zeit kamen von der Insel Kreta zum drittenmal Abgeordnete des Königs
Minos, um den gebräuchlichen Tribut abzuholen. Mit demselben verhielt es sich
also: Der Sohn des Minos, Androgeos, war, wie die Sage ging, im attischen
Gebiete durch Hinterlist getötet worden. Dafür hatte sein Vater die Einwohner
mit einem verderblichen Kriege heimgesucht, und die Götter selbst hatten das
Land durch Dürre und Seuchen verwüstet. Da tat das Orakel Apollos den Spruch,
der Zorn der Götter und die Leiden der Athener würden aufhören, wenn sie den
Minos besänftigten und seine Verzeihung erlangen könnten. Hierauf hatten sich
die Athener mit Bitten an ihn gewendet und Frieden erhalten unter der Bedingung,
daß sie alle neun Jahre sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen als Tribut nach
Kreta zu schicken hätten. Diese sollen nun von Minos in sein berühmtes
Labyrinth eingeschlossen worden sein, und dort habe sie, erzählt man, der gräßliche
Minotauros, ein zwitterhaftes Geschöpf, das halb Mensch und halb Stier war, getötet,
oder man habe sie verschmachten lassen. Als nun die Zeit des dritten Tributes
herbeigekommen war und die Väter, welche unverheiratete Söhne und Töchter
hatten, diese dem entsetzlichen Lose unterwerfen mußten, da erneuerte sich der
Unwille der Bürger gegen Aigeus, und sie fingen an, darüber zu murren, daß
er, der Urheber des ganzen Unheils, allein seinen Teil an der Strafe nicht zu
leiden habe, und nachdem er einen hergelaufenen Bastard zum Nachfolger ernannt,
gleichgültig zusehe, wie ihnen ihre rechtmäßigen Kinder entrissen würden.
Den Theseus, der sich schon gewöhnt hatte, das Geschick seiner Mitbürger nicht
als ein fremdes zu betrachten, schmerzten diese Klagen. Er stand in der
Volksversammlung auf und erklärte, sich selbst ohne Los hinzugeben. Alles Volk
bewunderte seinen Edelmut und aufopfernden Bürgersinn; auch blieb sein Entschluß,
obgleich sein Vater ihn mit den dringendsten Bitten bestürmte, daß er ihn des
unerwarteten Glückes, einen Sohn und Erben zu besitzen, doch nicht so bald
wieder berauben solle, unerschütterlich fest. Seinen Vater aber beruhigte er
durch die zuversichtliche Versicherung, daß er mit den herausgelosten Jünglingen
und Jungfrauen nicht in das Verderben gehe, sondern den Minotauros bezwingen
werde. Bisher nun war das Schiff, das die unglücklichen Opfer nach Kreta hinüberführte,
zum Zeichen ihrer Rettungslosigkeit mit schwarzem Segel abgesendet worden. Jetzt
aber, als Aigeus seinen Sohn mit so kühnem Stolze sprechen hörte, rüstete er
zwar das Schiff noch auf dieselbe Weise aus, doch gab er dem Steuermann ein
anderes Segel von weißer Farbe mit und befahl ihm, wenn Theseus gerettet zurückkehre,
dieses auszuspannen; wo nicht, mit dem schwarzen zurückzukehren und so das Unglück
zum voraus anzukündigen. Als nun das Los gezogen war, führte der junge Theseus
die Knaben und Mädchen, die es getroffen hatte, zuerst in den Tempel des Apollo
und brachte dem Gott in ihrem Namen den mit weißer Wolle umwundenen Ölzweig,
das Weihgeschenk der Schutzflehenden, dar. Nachdem das feierliche Gebet
gesprochen war, ging er von allem Volk begleitet mit den auserlesenen Jünglingen
und Jungfrauen ans Meeresufer hinab und bestieg das Trauerschiff.
Das Orakel zu Delphi hatte ihm geraten, er solle die Göttin der Liebe zur Führerin
wählen und ihr Geleite sich erbitten. Theseus verstand diesen Spruch nicht,
brachte jedoch der Aphrodite ein Opfer dar. Der Erfolg aber gab der Weissagung
ihren guten Sinn. Denn als Theseus auf Kreta gelandet und vor dem Könige Minos
erschienen war, zog seine Schönheit und Heldenjugend die Augen der reizenden
Königstochter Ariadne auf sich. Sie gestand ihm ihre Zuneigung in einer geheimen
Unterredung und händigte ihm einen Knäuel Faden ein, dessen Ende er am Eingange
des Labyrinthes festknüpfen und den er während des Hinschreitens durch die verwirrenden
Irrgänge in der Hand ablaufen lassen sollte, bis er an die Stelle gelangt wäre,
wo der Minotauros seine gräßliche Wache hielt. Zugleich übergab sie ihm ein
gefeites Schwert, womit er dieses Ungeheuer töten könnte. Theseus ward mit allen
seinen Gefährten von Minos in das Labyrinth geschickt, machte den Führer seiner
Genossen, erlegte mit seiner Zauberwaffe den Minotauros und wand sich mit allen,
die bei ihm waren, durch Hilfe des abgespulten Zwirns aus den Höhlengängen des
Labyrinthes glücklich heraus. Jetzt entfloh Theseus samt allen seinen Gefährten
mit Hilfe und in Begleitung Ariadnes, die der junge Held, beglückt durch den
lieblichen Kampfpreis, den er unerwartet errungen, mit sich führte. Auf ihren
Rat hatte er auch den Boden der kretischen Schiffe zerhauen und so ihrem Vater
das Nachsetzen unmöglich gemacht. Schon glaubte er seine holde Beute ganz in
Sicherheit und kehrte mit Ariadne sorglos auf der Insel Dia ein, die später
Naxos genannt wurde. Da erschien ihm der Gott Bakchos
im Traum, erklärte, daß Ariadne die ihm selbst vom Schicksal bestimmte Braut
sei, und drohte ihm alles Unheil, wenn Theseus die Geliebte nicht ihm überlassen
würde. Theseus war von seinem Großvater in Götterfurcht erzogen worden; er scheute
den Zorn des Gottes, ließ die wehklagende, verzagende Königstochter auf der
einsamen Insel zurück und schiffte weiter. In der Nacht erschien Ariadnes rechter
Bräutigam, Bakchos, und entführte sie auf den Berg Drios; dort verschwand zuerst
der Gott, bald darauf ward auch Ariadne unsichtbar. Theseus und seine Gefährten
waren über den Raub der Jungfrau sehr betrübt. In ihrer Traurigkeit vergaßen
sie, daß ihr Schiff noch die schwarzen Segel aufgezogen hatte, mit welchen es
die attische Küste verlassen; sie unterließen, dem Befehle des Aigeus zufolge
die weißen Tücher aufzuspannen, und das Schiff flog in seiner schwarzen Trauertracht
der Heimatküste entgegen. Aigeus befand sich eben an der Küste, als das Schiff
herangesegelt kam, und genoß von einem Felsenvorsprunge die Aussicht auf die
offene See. Aus der schwarzen Farbe der Segel schloß er, daß sein Sohn tot sei.
Da erhub er sich von dem Felsen, auf dem er saß, und im unbegrenzten Schmerze
des Lebens überdrüssig, stürzte er sich in die jähe Tiefe; zu seinem Andenken
nannte man von da an dies Meer das Ägäische. - Indessen war Theseus gelandet,
und nachdem er im Hafen die Opfer dargebracht hatte, die er bei der Abfahrt
den Göttern gelobt, schickte er einen Herold in die Stadt, die Rettung der sieben
Jünglinge und Jungfrauen und seine eigene zu verkündigen. Der Bote wußte nicht,
was er von dem Empfange denken sollte, der ihm in der Stadt zuteil ward. Während
die einen ihn voll Freude bewillkommten und als den Überbringer froher Botschaft
bekränzten, fand er andere in tiefe Trauer versenkt, die seinen fröhlichen Worten
gar kein Gehör schenkten. Endlich löste sich ihm das Rätsel durch die erst allmählich
sich verbreitende Nachricht vom Tode des Königes Aigeus. Der Herold nahm nun
zwar die Kränze in Empfang, schmückte aber damit nicht seine Stirne, sondern
nur den Heroldsstab und kehrte so zum Gestade zurück. Hier fand er den Theseus
noch im Tempel mit der Darbringung des Dankopfers beschäftigt; er blieb daher
vor der Türe des Tempels stehen, damit die heilige Handlung nicht durch die
Trauernachricht gestört würde. Sobald das Brandopfer ausgegossen war, meldete
er des Aigeus Ende. Theseus warf sich, vom Schmerz wie vom Blitze getroffen,
zur Erde, und als er sich wieder aufgerafft hatte, eilten alle, nicht unter
Freudenjubel, wie sie es sich gedacht hatten, sondern unter Wehgeschrei und
Klageruf in die Stadt.
Aus "Sagen des klassischen Altertums" von Gustav Schwab.