Fjodor Michailowitsch Dostojewskij: "Der Großinquisitor"
Fjodor Dostojewskijs
"Der Großinquisitor" ist die fiktive Erzählung vom Elend menschlichen Freiheitsstrebens
und der allen Freiheitsanspruch relativierenden historischen Tatsache, vom oftmaligen
Versagen des zur Erkenntnis von Gut und Böse ermächtigten - also freien - Menschen.
Wobei es sich eigentlich nur um eine kurze Sequenz aus dem fünften Buch des epochalen
dostojewskijschen Romans "Die Brüder
Karamasow" handelt, die jedoch ihrer Sprachgewalt
und ihrer gedanklichen Tiefe wegen zum eigenständigen Klassiker der Literaturgeschichte
avancierte. Eigentlicher Handlungsinhalt ist ein Gespräch zwischen den Brüdern
Iwan und Aljoscha Karamasow, welchem wiederum, als Geschichte in der Geschichte,
die phantastische Idee einer Wiederkehr des gekreuzigten Jesus in das mittelalterliche
Spanien zugrunde liegt. Solcherweise treffen zwei existenzielle Grundauffassungen
von menschlicher Daseinsbestimmung aufeinander, als der schon greise Kardinal-Großinquisitor
von Sevilla, verantwortlich für den Flammentod hunderter vorgeblicher Häretiker,
seinen biblischen Herren sehr wohl erkennend, nicht davor zurückscheut diesen
sofort in Haft setzen zu lassen. Angeklagt ist Jesus des schwersten Verbrechens
aller Zeiten, nämlich des leichtfertigen Freiheitsversprechens an die Menschheit
wegen, das diese nicht zu realisieren imstande ist, worum der Gottessohn hätte
wissen müssen und deswegen er mit dem Flammentod zu bestrafen sei. Um dies dem
Wiedergekehrten zu verdeutlichen und um ihm seine baldige Hinrichtung am Scheiterhaufen
anzukündigen, begibt sich der Großinquisitor zu dem Inhaftierten ins Verlies,
wo er in Gegenwart des schweigenden Heilands über die Bitternis seines Daseins
als guter Hirte von zur Freiheit verhetzten wesenhaft Unfreien monologisiert.
Er, Jesus, hätte den Menschen zur Rebellion angestachelt, ihm die Mär von der
eigenen Souveränität verheißen, wo er doch gewusst hätte, dass die überwiegende
Mehrzahl der Gattung Mensch von unreifer Gemütsart sei, nie und nimmer dazu berufen,
das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen. Es sei nun die heilige Aufgabe der
römischen Kirche, aus Liebe zum Menschen und im Namen Jesu, die dem Menschen einzig
dienliche (hierarchische) Ordnung wieder herzustellen und hinkünftig mit - wenn
nötig - drakonischen Methoden vor rebellischer Erschütterung zu bewahren.
Man
merkt die Absicht, man ist erstaunt, denn der Großinquisitor rechtfertigt mit
leidenschaftlicher Rede die Gräuel des Hexenwahns, das tausendfache Morden zum
höheren Ruhme Gottes, einzig mit der vorgeblichen Liebe zum Menschen und er, der
Betreiber zahlloser grausamer Hinrichtungen, ausgerechnet er bezichtigt Jesus,
seinen Herren, der eigentlichen Verantwortung für die Verbrechen der Heiligen
Inquisition. Ein - angesichts geschichtlicher Fakten - gleichermaßen empörender
wie faszinierender Gedanke, dessen Gefährlichkeit jedoch darin liegt, kriminelle
Taten mittels ethischer Rationalisierung nachträglich zur Menschenliebe zu verklären
und solcherart eine wohl völlig ungerechtfertigte Entkriminalisierung inquisitorischer
Machtpolitik einzuleiten, der es tatsächlich nie um
das Seelenheil der ihr anvertrauten Völker als viel mehr um Herrschaft über diese
Völker gegangen ist, die es mit Methoden blanken Terrors zu stabilisieren galt.
Und man merkt, wie weit sich der reaktionäre Denker Dostojewskij mit diesem Gedanken
selbst von geltender christlicher Dogmatik und ihrem Primat der in der Person
Jesu begründeten Nächstenliebe entfremdet, sinniert er doch, wenn auch vermittels
der finsteren Romanfigur, über den rebellischen
Charakter Jesu, der sich gegen die göttliche Ordnung
seines himmlischen Vaters wendet, mit dem er doch in Dreieinheit verbunden sei.
Besagt das Trinitätsdogma denn nicht, dass Vater, Sohn und Heiliger Geist dreieinig
sind, und dass für die Menschwerdung Gottes, für Jesus, zentral die Erfüllung
des Willens Gottes in Liebe war? Der Großinquisitor jedoch konstruiert einen fundamentalen
Widerspruch zwischen Vater und Sohn, zwischen dem Heiligen Geist des Vaters und
dem rebellischen Geist des Sohnes. An den Heiligen Geist glauben heißt, an Gottes
wirksame Macht und Kraft in Mensch und Welt glauben. Der transzendente Gott, so
kann man sagen, ist dem Menschen nahe (näher als seine Halsschlagader), gegenwärtig
im Geist, durch den Geist, als Geist. Der Heilige Geist ist somit die Wirkmacht
Gottes im Menschen, die Immanenz des Transzendenten im Seienden. Doch Jesus tritt
gegen dieses Seiende an und verspricht ein anderes Sein, ein Sein in Freiheit,
basierend auf seiner Liebesbotschaft. Dass er dieses wider besseres Wissen gegebene
Versprechen nicht halten kann, somit jedoch Unruhe stiftet, eine Unruhe, welche
unendliches Elend zu Folge hat, ist nach Auffassung des Großinquisitors ein todeswürdiges
Vergehen, weil Tausende und Abertausende daran grausam zugrunde gehen. Ein unseriöses
Versprechen, das nur für eine kleine Elite von Befähigten taugen kann, jedoch
an alle gegeben wird, ist an sich schon kriminell, weil es zu selbstschädigendem
Verhalten anleitet und die gesellschaftliche Ordnung unterminiert.
Und
so zerstört der Inquisitor die Einheit von Gott-Vater und Gott-Sohn, säubert das
Bild himmlischer Herrschaft, die selbstherrlich Gnade gewährt oder auch nicht,
vom utopischen Liebesbegriff Jesu Christi, der gleichmäßig allen verzeiht, doch
dessen Liebe nach der Überzeugung des Kardinals als weltfernes Prinzip die Lebenswirklichkeit
des Menschen belastet. Handelte hingegen Jesus in Übereinstimmung mit dem Heiligen
Geist, so wendet sich die Anklage gegen Gott selbst und impliziert als solche
die atheistische Forderung nach dem Tod Gottes. Wie auch immer der Kardinal seine
Jesuskritik verstanden haben möchte, im Vordergrund steht sein Dienst am Menschen,
nicht an Gott. Dafür ist er selbst noch bereit ein Leben in Lüge zu führen.
Abgründe
tun sich auf, wenn man diesen Text liest, der gewiss als geharnischte Kritik des
Jesusbildes der
Evangelien zu deuten ist, da die freie Wahl zwischen
Gut und Böse, die Christus der Menschheit vermacht hat, für diese ein Fluch sei,
eine vererbte Last, die es mit autokratischen Methoden zu korrigieren gilt. Und
zwar hat diese notwendige Korrektur der christlichen Frohbotschaft durch die christlichen
Kirchen selbst zu erfolgen, indem sie das authentische Jesusbild verfälschen,
aus dem befreienden Jesus einen knechtenden Jesus machen, stellvertretend für
einen Gott, der nicht die Erhöhung sondern die Erniedrigung des Menschen um seiner
selbst Willen begehrt.
In einem Brief an Mme Fonvísina bekannte sich Dostojevskij
zu seinem unterschwelligen Nihilismus, wenn er zu seinen Romanen feststellte:
"Sogar Europa hat noch keinen so machtvollen Ausdruck des Atheismus gekannt ..."
Und zweifelsohne, aus der Idee zur Legende vom Großinquisitor ist ebenso eine
Absage an den liebenden Gott zu erkennen, wie eine kaum verhohlene Verachtung
des realen Menschen, die in das Bekenntnis zu einer autokratisch verfassten Gesellschaftsordnung
mündet, welche nicht einfach nur als bloße Prosa eines grollenden Misanthropen
verkannt werden sollte. Tatsächlich neigte gerade der alternde Dostojevskij zu
reaktionärer Gesinnung (der 1821 geborene und 1881 verstorbene Russe, verfasste
sein Alterswerk "Die Brüder Karamázov" während der Jahre 1878-1880). Über die
Hinwendung zu einem slavophilen Nationalismus sollte er schließlich eine Aussöhnung
mit dem Gesetz des Evangeliums Christi finden, wobei die damit verbundene Zuwendung
zur Religiosität russisch-orthodoxer Prägung zwar unter dem Titel der Menschenliebe
erfolgte, tatsächlich jedoch autokratischen Charakters war, was frappierend an
die ebenso autokratische Haltung des Großinquisitors erinnert. Es kann nicht als
gesichert gelten, dass sich Dostojevskij vollkommen mit der Position des Großinquisitors
identifizierte, denn, die Figur wird von Aljoscha und Ivan durchaus kontrovers
diskutiert und sein Gegenpart Jesus mag zwar zum Schweigen verdammt sein, doch
wer würde anzweifeln, dass es sich um einen prominenten Schweigenden handelt.
Man würde also vorschnell handeln, das Denken des Autors mit dem Denken seines
literarischen Geschöpfs in Eins zu setzen, doch sprechen insbesondere biographische
Fakten für eine weitgehende Übereinstimmung Dostojevskijs mit der Gedankenwelt
des Kardinal-Großinquisitors. So lehnte er den faustischen Impuls des Westens,
seinen mit der demokratischen Idee verbundenen Liberalismus genauso ab wie die
allgemeine kapitalistische Entwicklung und emanzipatives Streben der Einzelnen.
Dem hielt er die Erdverbundenheit und demütige Religiosität des russischen Menschenschlags
entgegen, dessen Sendung es sei "... endgültige Versöhnung in die europäischen
Widersprüche zu bringen, der europäischen Sehnsucht den Ausweg zu zeigen in der
russischen Seele, der allmenschlichen und allvereinenden, ..." Entschiedener kann
man tatsächliche gesellschaftliche Widersprüche und soziale Missstände nicht mehr
ausblenden. Und dieser russische Mensch, an dessen Wesen die Welt genesen soll,
entspricht er nicht genau des Großinquisitors Menschenideal? Und - um es noch
schärfer zu formulieren - vertrat nicht der Klerikalfaschismus des 20. Jahrhunderts
ein sehr ähnliches Menschen- und Gesellschaftsbild?
Bei aller - freilich
immer perspektivischen - Kritik am Geist (man ist geneigt "Ungeist" zu sagen),
der aus der Legende vom Großinquisitor spricht, handelt es sich doch um einen
brillant verfassten und mutig gedachten Text, dessen tiefgründiges Verständnis
christlicher Liebesmystik und kirchlicher Wirklichkeit einfach faszinieren muss
und als analytische Wirklichkeitsbeschreibung religiöser wie schlechthin menschlicher
Tatsachen jedenfalls ernst zu nehmen ist. Der Monolog des Kardinal-Großinquisitors
führt wahrlich zu einem tieferen Verständnis christlicher Glaubensproblematik,
und ist daher geeignet, bis in unsere Tage fortgesetztes, feindseliges Lagerdenken
innerhalb der christlichen Kirchen aus der Erhellung widersprüchlicher Vorstellungen
von christlicher Nächstenliebe zu begreifen. Für den literarisch Gebildeten sollte
"Der Großinquisitor" sowieso obligatorischer Bestandteil seiner kulturellen Ausstattung
sein, vorausgesetztes Bildungswissen, zumal es sich ja um rasch gelesene Kurzprosa
handelt, für die jedermann einmal knappe zwei Stunden der Lektüre erübrigt haben
sollte.
Es ist eine Freude, dass dieses große Werk der Weltliteratur auch auf Musikkassette
in ungekürzter Fassung als Lesung vorliegt, als sogenanntes sprechendes Buch,
womit auch abstinenten Lesemuffeln geholfen sein mag. Eine wunderbar gelungene
Lesung übrigens, gehalten von Klaus-Dieter König, der seine Begabung zur vortragenden
Lesung dem Texterleben unterordnet und solcherart dem Hörer ein ungestörtes,
doch recht bequemes Erfahren von Literatur ermöglicht. Wer nun nach einem anstrengenden
Arbeitstag keine Muße findet sich auch noch, nach vielleicht stundenlangem Aktenstudium,
mit schon ermüdeten Augen ein Buch anzutun, der möge sich in der Badewanne entspannen,
zur Lesung der Legende vom Großinquisitor. Es ist selbst noch kein Frevel, sich
ein Buch beiläufig während der Autofahrt oder wie auch immer zu erhören, vor
allem wenn es so meisterlich vorgelesen wird. Wesentlich ist viel mehr, dass
man diesen absoluten Klassiker
der Weltliteratur erfahren hat, nicht um der literarischen Selbstbereicherung
wegen, sondern wegen des gleichermaßen tiefen wie ebenso widerborstigen Erkenntnisreichtums,
welcher in dieser Legende um Freiheit und Liebe enthalten ist.
(Harald Schulz; 17. Juni 2002)
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