Rachel van Kooij: "Nora aus dem Baumhaus"
Ein
lustiges Spiel der Kinder- und Freundesgruppe bringt es an den Tag:
Nora hat keine Großeltern. Traurig kehrt sie heim und fragt
ihre Eltern. Die sind über Noras Fragen nach den nicht
vorhandenen Großeltern zunächst bestürzt,
doch dann erzählen sie erleichtert und lüften etliche
bislang streng gehütete Familiengeheimnisse. Die Mutter von
Noras Vater ist kaum nach Noras Geburt an Krebs gestorben, und der
dazugehörige Mann ist verschwunden, als Noras Oma mit ihrem
Papa schwanger war.
Die Geschichte, die Noras Mutter erzählt, ist noch trauriger,
und Nora erinnert sich jetzt genau, da die Mutter erzählt:
"Sie war noch in den Kindergarten gegangen, und trotzdem hatte
sie es nicht vergessen. Mama hatte sie weinend abgeholt. Weinend, weil
Oma und Opa auf dem Weg zu ihnen auf der Autobahn verunglückt
waren. Ein schleudernder Lastwagen hatte das kleine Auto an die
Leitschiene gedrückt. Wie eine Ziehharmonika hatte er es
gefaltet, und Oma und Opa hatten keine Chance gehabt."
Und dann erzählt Noras Mutter von der Uroma, die sie in den
ersten Lebensjahren Noras immer gemeinsam im Altersheim besuchten,
diese Besuche aber aufgaben, als die kleine Nora sich vor der
demenzkranken Uroma zu fürchten begann.
Plötzlich hat Nora eine Uroma! Und sie lässt nicht
locker, bis sie zusammen mit ihrer Mutter das Altersheim besucht. Sie
lässt sich weder vom deprimierenden Anblick und Zustand ihrer
Uroma noch vom rigiden Regiment der Schwestern im Heim irritieren. Sie
hat eine Uroma und sie will sie nicht verlieren, bevor sie sie nicht
kennen gelernt hat.
Und nun erzählt Rachel van Kooij eine spannende und bewegende
Geschichte, wie Nora, zunächst ohne das Wissen ihrer Eltern,
dafür aber mit zunehmender Unterstützung ihrer
Freunde, die sie keck in ihr Unternehmen einspannt, zuerst
wöchentlich und am Ende täglich die Uroma besucht und
sie langsam aus ihrem Dämmerzustand aufweckt. Es gelingt
ihnen, in dem sie sich selbst, die Uroma und zunehmend auch die
Räumlichkeiten in einen Zustand versetzen, wie er gewesen sein
könnte, als die Uroma ein zehnjähriges Kind war.
Daran kann sie sich nämlich noch genau so gut erinnern wie die
anderen demenzkranken Bewohner der Station, die zunehmend in der
Geschichte lebendig werden. Die Kinder haben großen
Widerstand vor allem von Schwester Karin zu überwinden, finden
aber auch heimliche Unterstützung beim übrigen
Personal.
Nora verwandelt sich in "Nora aus dem Baumhaus", eine einstige Freundin
der Uroma, und gewinnt so bei jedem Besuch wieder neuen Zugang zu ihr.
Ein großes Fest wird geplant, so wie früher ...
Rachel van Kooij hat ein wunderbares Buch geschrieben, das Kindern auf
sensible Weise die Demenz alter Menschen nahe bringt, ein Buch, das mit
viel Fantasie und Abenteuerlust entstanden und deshalb Buben und
Mädchen gleichermaßen anzusprechen in der Lage ist.
Ein Buch mit einem traurigen Thema, das aber zeigt, dass man nie die
Hoffnung aufgeben darf und dass es sich lohnt, alte Menschen nicht
aufzugeben.
Als die sich zehnjährig wähnende Uroma Traudi gegen
Ende des Festes folgende Sätze zu ihrer Enkelin Nora sagt, in
der sie die gleichaltrige Freundin sieht, da spürt man den
bewegenden Sinn und die Absicht dieses
außergewöhnlichen Jugendbuches:
"Ich wünsche mir, dass ich viele, viele Jahre
später, wenn ich tatsächlich alt bin, eine Enkelin
habe, die so ist wie du. Eine, mit der ich zusammen auf einer Bank
sitzen kann. Eine, mit der ich mich gut verstehe wie mit einer
Freundin. Eine, der ich all meine Geschichten erzählen kann."
Ein absolut gelungener und anspruchsvoller Versuch, junge Menschen
etwas von ihrer eigenen möglichen Zukunft spüren zu
lassen und ihnen gleichzeitig die Angst davor zu nehmen und die
Möglichkeiten eines fantasievollen und liebevollen Handelns
aufzuzeigen.
Mögen Großeltern und Enkel jedoch die Zeit vor einer
möglichen Demenz nutzen, um sich zu begegnen und sich
gegenseitig zu bereichern.
Eines der schönsten Jugendbücher seit langem.
(Winfried Stanzick; 04/2007)
Rachel
van Kooij: "Nora aus dem Baumhaus"
Jungbrunnen, 2007. 159 Seiten. (Ab 10 J.)
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Rachel van Kooij wurde 1968 in Wageningen in den Niederlanden geboren. Im Alter von zehn Jahren übersiedelte sie nach Österreich. Nach der Matura studierte sie Pädagogik und Heil- und Sonderpädagogik an der Universität Wien. Rachel van Kooij lebt in Klosterneuburg und arbeitet als Behindertenbetreuerin.