GUSTAV

EINE KURZGESCHICHTE

VON

ALEXANDER

ROMAN

VARGA

1997

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Gustav stand am Straßenrand und starrte auf die herabfallenden Schneeflocken. Die vorüberfahrenden Autos schienen in einem gewissen Sinne seine Lebenssituation widerzuspiegeln: Alles schien sich zu verändern, auf eine eigene Art weiterzuentwickeln, nur er selber war für eine lange Zeit an einem Ort stehen geblieben, der bis vor einiger Zeit zu den wertvollsten Dingen seines Lebens zählte, nun jedoch beinahe bedeutungslos geworden war.

Wenn er so darüber nachdachte, empfand er es geradezu als grotesk, was er alles über sich ergehen hatte lassen, wie er bereit gewesen war sein Leben und sich selber so zu verändern, nur aus einem einzigen Grund – Liebe.

Spät, beinahe zu spät hatte er es aber dann doch noch geschafft, den schweren Schritt zu wagen, vielleicht den schwersten Schritt seines bisherigen Lebens – er hatte sich von seiner Freundin getrennt, obwohl er sie liebte und dennoch war die damalige Situation untragbar geworden. Ab einer gewissen Zeit in der Beziehung hatte er die Rolle übernommen ständig nachzugeben, zu akzeptieren und zu tun, was seine Liebste wollte – und es war eine Rolle in der er sich nie wohlfühlte, die er aber doch stets einnahm, aus Liebe zu ihr.

Im Nachhinein kam es ihm vor, als hätte er sich prostituiert, auf irgendeine Art bewusst zwar, aber das Schlimmste an alle dem war, dass er gerade wegen ihr beinahe diese Situation akzeptiert hätte, er wäre um ein Haar dabei gewesen sich damit abzufinden und gleichermaßen hätte Gustav dabei auf seine eigene Identität verzichtet.

Er hasste sich selber dafür, dass er es so weit hatte kommen lassen und seine Freundin dafür, dass sie ihn bewusst manipuliert und auf eine Art ausgenützt hatte. Ironisch an der Sache war nur, dass er die Beziehung beendet hatte, oder besser das Ergebnis dessen, was auf dieser Erkenntnis passierte. Er führte einen Bruch herbei und beendete die Beziehung und nun fühlte er anstelle eines Hochgefühls der Befreiung ganz im Gegenteil dazu eine tiefe Bedrückung.

Genau gesagt, er fühlte sich als das Opfer und nicht als der Täter.

Gustav litt gewissermaßen Schmerzen des Verlustes dessen, was er sich selbst genommen hatte – und obwohl er mit Sicherheit wusste, es war die richtige Entscheidung gewesen – trotzdem waren die letzten Wochen und Monate zur schlimmsten Zeit seines Lebens geworden.

Die Schmerzen der Liebe, Gefühle des Hasses – was war es, was er wirklich empfand? – er wusste es nicht. Eigentlich hasste er seine Freundin für das, was sie ihm angetan hatte, obwohl er selber daran Schuld war, dass er es über sich hatte ergehen lassen und er hasste sich selbst, dass er seine Freundin, die inzwischen ja schon nicht mehr seine Freundin war, jemals geliebt hatte und damit gewissermaßen auf seine eigenen Gefühle hereingefallen war.

Und das ließ seine Welt zusammenbrechen – denn wem konnte er demnach noch vertrauen? Anderen Menschen (?), die das Vertrauen sowieso schamlos missbrauchen? – Nein. Und sich selber ?- nach so einem kapitalen Irrtum, nach einer derartigen Enttäuschung ? –Nein, auch sich selber nicht!

-2-

Gustav sah sich vor einer großen Verzweiflung, aus der es keinen Ausweg zu geben schien.

Ein Leben voller Schmerz war alles, was ihm noch geblieben war und nun war der Moment gekommen, da er dieses Schmerzes überdrüssig geworden war.

Die Wunden schienen unaufhaltsam zu bluten, sodass er am liebsten alles hingeworfen hätte. Würden diese tiefen Verletzungen jemals wieder heilen? – Er zweifelte daran.

 

Und plötzlich holte ihn ein Gedankenblitz aus der Erstarrung.

War es möglich, dass er der Lösung seiner Probleme näher war, als je zuvor? Konnte es wirklich so sein? Ja! Eine Lösung war zum Greifen nah! Es mochte vielleicht nicht der beste Weg, aber ein Weg den er wenigstens gehen könnte. Nur ein kleiner Schritt war es, der ihn trennte von der Erlösung, von dem Ende allen seiner Leiden, dem Ende aller Schmerzen.

Ein Schritt und er würde Frieden finden, für immer

 

Die Autos fuhren vorüber und Gustav stand am Straßenrand . Er starrte auf die Schneeflocken und beobachtete sie, wie sie zärtlich sacht die Fahrbahn berührten und ein Fahrzeug nach dem anderen über sie hinwegfuhr. Was wäre, wenn er nun anstelle einer dieser Schneeflocken dort liegen würde, befreit, erlöst. Niemand, der ihm jemals wieder wehtun könnte. Wahrhaftig, keine Menschenseele, die auch nur im geringsten die Chance hätte ihm weitere seelische Schmerzen zuzufügen. Sollte er alldem ein Ende, das Ende setzen? – Tief in seinem Inneren rief es geradezu danach: Ja, spring! Beende diese unsagbare Qual, erspare Dir die Fortsetzung eines Lebens voll von Schmerz und Leid! Ziehe einen entgültigen Schlussstrich hinter diese jämmerliche Existenz und du wirst Frieden finden, Frieden, Frieden. Keine zerfressenden Gedanken mehr, keine Tränen der Scham in durchwachten Nächten mehr. Tu es jetzt und sei einmal in deinem Leben stark.

 

Gustav hob das rechte Bein, es schien so als hätte er seine Entscheidung getroffen. Er setzte an, es konnte sich nur noch um Augenblicke handeln, ehe er diesen entgültigen Weg beschreiten würde. Noch ein letzter tiefer Atemzug und dann.........

-3-

........erstarrte er inmitten der Bewegung und öffnete die kurz zuvor geschlossenen Augen.

Er ging einen Schritt zurück.

 

So weit war es also gekommen. Beinahe hätte er es getan. Ein kleiner Schritt und doch groß genug, um ihn nicht auszuführen. Aber er hatte zumindest die Wahl gehabt und sich entschieden, entschieden für das Leben, aus Angst, weil er zu feige war, weil er einfach nicht genug Mut hatte eine so folgenschwere Entscheidung zu treffen.

Doch in Wahrheit, und das wusste er, hatte er mit dieser Entscheidung gegen das Ende seiner Schmerzen eigentlich mehr Mut bewiesen als wenn er gesprungen wäre. Und auf eine Art gab ihm das Hoffnung. Es war Gustav bewusst, dass er noch lange Zeit Schmerzen spüren würde, Schmerzen der Verletzung, Schmerzen der Liebe, Schmerzen der Enttäuschung und dennoch wählte er diesen Weg, denn er wusste, dass mit diesem Weg eine Metamorphose verbunden war, die ihn für immer zu einem anderen Menschen machen würde. Und dann würde alles anders sein – Langsam wurde ihm klar, dass die Zukunft begann, noch ehe er daran gedacht hatte.

Die Fußgängerampel schaltete auf grün und Gustav überquerte, gemeinsam mit den anderen Wartenden, die Straße. Und je näher er der gegenüberliegenden Bordsteinkante kam, desto stärker wurde sein Lebenswille, so schien es jedenfalls, und gleichermaßen schien die Vergangenheit am hinter ihm liegenden Straßenrand liegen zu bleiben.



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