Stefan Zweig:
"Menschen und Schicksale"

Tolstoi als religiöser und sozialer Denker

Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren, lebte von 1919 bis 1935 in Salzburg, emigrierte dann nach England und 1940 nach Brasilien. Sein episches Werk machte ihn ebenso berühmt wie seine historischen Miniaturen und die biografischen Arbeiten. Im Februar 1942 schied er in Petropolis, Brasilien, freiwillig aus dem Leben. Seine bekanntesten Werke sind: "Ungeduld des Herzens" und "Die Schachnovelle".

"Menschen und Schicksale" enthält eine Galerie biografischer Sequenzen in Essayform zu Personen wie Amerigo Vespucci (nach dem der Kontinent Amerika benannt ist), Lord Byron, Marcel Proust, Friedrich Nietzsche, Gustav Mahler, Sigmund Freud, Lev Tolstoi und noch einigen anderen prominenten Größen abendländischer Geistesgeschichte. Das Allzumenschliche steht im Zentrum der Betrachtung, entkleidet von ideologischen Entstellungen und monumentalen Verklärungen.

Zwecks demonstrativer Darlegung sei das Kapitel "Tolstoi als religiöser und sozialer Denker" zur näheren Betrachtung aus der Essay-Sammlung herausgehoben:
Am 27. Juni 1883 schreibt der im Sterben liegende Turgenjew, neben Tolstoi damals der bedeutendste lebende russische Dichter, einen erschütternden Brief nach Jasnaja Poljana an seinen Freund Tolstoi. Seit einigen Jahren hat er mit Befremdung bemerkt, dass Tolstoi, den er als den größten Künstler seiner Nation verehrt, sich von der Literatur abgewandt hat, sich einer mystischen Ethik nähert und in ihr zu verlieren droht, dass gerade er, der wie kein Anderer die Natur und den Menschen dazustellen wusste, auf seinem Tisch nun nichts liegen hat als Bibel und theologische Traktate. Die Sorge bedrängt ihn, dass Tolstoi ebenso wie Gogol seine entscheidenden Schöpferjahre in religiösen Spekulationen, für die Welt sinnlos, verschwenden könnte.

Zu diesem Brief ist anzumerken, dass eine gewisse Neigung zu religiösen Spekulationen bei Tolstoi nichts Neues war, der schon immer aus innerer Not in die Bahn des theologischen Grübelns und Gottsuchens gedrängt war; - gedrängt, da dieser sinnliche Erdenmensch sein ganzes Leben lang niemals eine gewollte Neigung zur Metaphysik gezeigt hatte und ohne seinen Willen, ja sogar gegen seinen Willen, Metaphysiker war. Turgenjew sorgte sich jedoch trotzdem nicht ohne Grund um seinen Freund. Tolstoi hatte etwa in seinem fünfzigsten Lebensjahre eine unergründliche Schwermut erfasst, die ihn mit panischer Angst erfüllte. Er spürte nur, dass die Arbeit ihn anwiderte, die Frau ihm fremd wurde, die Kinder gleichgültig. Ein Ekel vor dem Leben, taedium vitae, hatte ihn überfallen, und er verschloss sein Jagdgewehr im Schrank, um es nicht in Verzweiflung gegen sich zu wenden. Es war wie ein Stoß aus dem Dunkel, schreibt Stefan Zweig. Das Leben blieb stehen, wurde unheimlich und durchdrang das Gemüt des genialen Russen mit metaphysischem Grauen. "Zum ersten Male hatte er damals klar erkannt" - so schildert Tolstoi diesen Zustand in seinem Spiegelbild, dem Lewin der Anna Karénina, "dass jeden Menschen und auch ihn in Zukunft nichts erwartete als Leiden, Tod und ewiges Vergängnis, und da hatte er entschieden, dass er so nicht leben könnte, entweder musste er eine Erklärung des Lebens finden oder er musste sich erschießen."

Es hat wenig Sinn nach einer Erklärung für diese innere Erschütterung zu suchen, die sich vielleicht als klimakterischer Zustand, Angst vor dem Alter, Angst vor dem Tod, kurzum als buddhistische Depression umschreiben ließe. Wie auch immer, Tatsache ist und bleibt, dass Tolstoi gegen den inneren Nihilismus revoltiert und die nächsten dreißig Jahre der Suche nach dem "richtigen Leben" für sich und für die Anderen widmet. Er sucht nach Antworten bei den Philosophen und studiert, kreuz und quer, die Werke von Schopenhauer und Plato, Kant und Pascal, und vor allem studiert er das Evangelium, dessen praktische Umsetzung er als Verrat an der ursprünglichen wahren Lehre Christi erkennt. Mit dem Eifer eines Zeloten macht sich der bekennende Ur-Christ an die Reformation des ganzen geistigen und sittlichen Denkens und begründet überdies eine neue Soziologie; die ursprünglich geängstigte Frage eines einzelnen Menschen: "Wozu lebe ich, und wie soll ich leben?" hat sich allmählich in ein Postulat an die ganze Menschheit "So sollt ihr Leben!" verwandelt.

Die Kirchenbürokratie reagiert auf Tolstois eigenmächtige Auslegung des Evangeliums mit Unduldsamkeit. Gleich das erste prinzipielle Buch Tolstois "Meine Beichte" wird von der Zensur, das zweite "Mein Glaube" vom heiligen Synod verboten, und so sehr die kirchliche Behörde aus Respekt vor dem großen Schriftsteller sich auch scheut, zu der äußersten Maßregel zu schreiten, muss sie schließlich doch über Tolstoi den Kirchenbann verhängen und ihn exkommunizieren. Mit unbändigem Mut nimmt Tolstoi die Herausforderung durch die Obrigkeit an und ist von nun ab unaufhaltsam auf dem Wege, der entschlossenste Staatsfeind, der leidenschaftlichste Anarchist und Antikollektivist zu werden, den die Neuzeit kennt. Er beginnt um sich zu blicken und entdeckt die Ungleichheit der sozialen Verhältnisse, den Kontrast zwischen arm und reich, zwischen Luxus und Elend, er sieht neben seinen privaten, persönlichen Irrtümern das allgemeine Unrecht seiner Standesgenossen und erkennt es als seine erste Pflicht, mit seinen ganzen Kräften diesem Unrecht entgegen zu steuern. Ein zufälliger Aufenthalt in Moskau 1881 bringt ihn zum erstenmal der sozialen Frage näher: in seinem Buch "Was sollen wir tun?" schildert er in erschütternder Form diese erste Begegnung mit dem proletarisierten Massenelend der Großstadt. Tolstoi gewahrt die Armut der Industriestädte als Zeitprodukt, als gleichsam maschinelles Produkt einer ausbeuterischen Maschinenkultur. Er versucht dem Elend zunächst durch Gaben und Spenden, durch Organisation der Wohltätigkeit abzuhelfen, aber er erkennt bald die Vergeblichkeit jeder Einzelaktion und dass "das Geld allein hier nicht helfen könne, die tragischen Existenzen dieser Leute zu verändern"; eine wirkliche Änderung kann nur durch eine totale Umstellung des ganzen gegenwärtigen gesellschaftlichen Systems erreicht werden.

Um dieses Ziel einer totalen Umstellung zu verwirklichen, verlangt Tolstoi eine Revolution vom Gewissen her, einen sittlichen Umsturz, bestehend in einem freiwilligen Verzicht der Reichen auf ihren Reichtum, ein Verzicht aus reiner moralischer Erkenntnis - hier beginnt der Tolstoianismus. Tolstoi befehdet den Luxus als Giftblüte im Sumpfe des Reichtums und bezeichnet den Besitz als Wurzel alles Bösen. Der Staat, welcher ungerechte Besitzverhältnisse und den Luxus der Reichen schützt, handelt unchristlich und verbrecherisch und ist aus der urchristlichen Sichtweise des Tolstoi mit dem biblischen Antichristen gleichzusetzen. Nur um das Eigentum zu schützen, nur zu diesem Zwecke hat er sein vielgliedriges System der Gewalt aufgerichtet mit Gesetzen, Staatsanwälten, Gefängnissen, Richtern, Polizisten, Armeen. Aber als das fürchterlichste und gottloseste Vergehen des Staates betrachtet Tolstoi das erst in seinem Jahrhundert erfundene, die allgemeine Wehrpflicht. Nichts bedeutet ihm eine solche Herausforderung des "christlichen Menschen", die Satzung Christi, die Gebote des Evangeliums zu verraten, als dass er sich dem staatlichen Befehl fügt, ein Mordwerkzeug sich in die Hand zwingen lässt, um einen völlig unbekannten Menschen zu töten, um irgendeiner zufälligen Parole willen - Vaterland, Freiheit, Staat -, einer Parole, die, wie Tolstoi immer wieder eifert, nichts Anderes verbirgt als den Willen, ein Eigentum zu schützen, das ihm nicht selber gehört, und die Idee des Eigentums zu der eines höheren und sittlichen Rechts gewaltsam zu erheben. Tolstoi postuliert es als Pflicht eines jeden sittlich denkenden Menschen, dem Staate Widerstand zu leisten, wenn er von ihm "Unchristliches", also Militärpflicht fordert, und zwar Widerstand nicht durch Gewalt, sondern durch non-résistance, und außerdem, dass er sich freiwillig lossagen soll von jeder Tätigkeit, die auf Ausnützung und Ausbeutung fremder Arbeit beruht. Der ehrliche Mensch hat nicht patriotisch, sondern human zu denken und zu handeln.

Tolstoi deckt Mechanismen der Entsittlichung auf, wenn er schreibt: "Diebe, Räuber, Mörder, Betrüger sind ein Beispiel für das, was man nicht tun darf, und wecken in dem Menschen Abscheu vor dem Bösen. Die Menschen aber, die Taten des Diebstahls, des Raubes, des Mordens, der Züchtigung verüben und sie durch religiöse, wissenschaftliche, liberale Rechtfertigung beschönigen, die es als Grundbesitzer, Kaufleute, Fabrikanten tun, rufen die andern zur Nachahmung ihrer Taten auf und tun nicht bloß denen Böses, die darunter leiden, sondern Tausenden und Millionen Menschen, die sie entsittlichen, indem sie für diese Menschen den Unterschied zwischen gut und böse aufheben ... ein einziges Todesurteil, das von Menschen vollzogen wird, die sich nicht unter Einwirkung der Leidenschaft befinden, von wohlhabenden, gebildeten Menschen mit Zustimmung und unter Teilnahme christlicher Seelenhirten, entsittlicht und vertiert die Menschen mehr als Hunderte und Tausende von Morden, die von arbeitenden, ungebildeten Menschen begangen werden und meist im Überschwang der Leidenschaft ... Jeder Krieg, auch der kürzeste, mit allen den Krieg begleitenden Verlusten, Diebstählen, geduldeten Ausschweifungen, Räubereien, Morden, mit der vermeintlichen Rechtfertigung ihrer Notwendigkeit und Gerechtigkeit, mit der Lobpreisung und Verherrlichung der Kriegstaten, mit Gebeten für die Feldzeichen, für das Vaterland und mit der Heuchelei der Sorge für die Verwundeten, entsittlicht in einem Jahre die Menschen mehr als Millionen Räubereien, Brandstiftereien, Mordtaten, die im Lauf von Hunderten Jahren von einzelnen Menschen unter dem Einfluss der Leidenschaft begangen werden."

Der Staat also, die gegenwärtige Gesellschaftsordnung, ist der Hauptschuldige, der wahre Antichrist, die Personifikation des Bösen, ein Teufelsspuk, dessen Forderungen sich der Christenmensch durch passiven Widerstand (non-résistance) zu entziehen hat. Das Prinzip der non-résistance fordert vom "christlichen Menschen" vollkommene Abstinenz von Einrichtungen des Staates, d.h., er hat die Wehrpflicht zu verweigern, er darf nicht versuchen, unter dem Schutz des Staates reich zu werden oder im Staatsdienst Karriere zu machen, niemals teilnehmen an Wahlen und auch keine öffentlichen Ämter bekleiden. Er darf keinen Eid der Treue schwören, weder dem Zaren noch irgendeiner anderen Instanz, weil er mit seinem Gehorsam niemand anderen verpflichtet ist als Gott und dessen Wort ... und er darf keinen anderen Richter anerkennen als sei eigenes Gewissen. Der "christliche Mensch" - man könnte eigentlich immer dafür "der reine Anarchist" setzen - hat den Staat zu negieren, er hat sittlich außerhalb dieser unsittlichen Institution zu leben; einzig dieses rein passive, rein negative, apathische, alles Leiden willig akzeptierende Verhalten unterscheidet ihn grundlegend vom politischen Revolutionär, der die Staatsordnung hasst und mit Gewaltmethoden bekämpft, statt sie zu ignorieren. "Widerstrebet dem Übel nicht durch Gewalt" statuiert die Lehre Tolstois als die einzig erlaubte Kampfform gegenüber der aktiven, der revolutionären. Sehr deutlich zieht Tolstoi den Trennungsstrich zwischen seiner religiösen, seiner urchristlichen Auflehnung gegen jede Autorität und dem professionellen, dem aktivistischen Klassenkampf.

Der Tolstoische Revolutionär schlägt niemals zu, er lässt sich schlagen, er strebt keine äußere Machtposition an, lässt sich aber von seiner inneren Position der Gewaltlosigkeit durch keine Gewalt abdrängen. Heroische Gewaltlosigkeit wäre bei genauer Befolgung der non-résistance auf die Dauer für den Staat gefährlicher und zersetzender als Aufstände und Geheimbündelei. Um die Weltordnung zu ändern, müssen die Menschen selbst geändert werden; dazu sei Gewalt die kontraproduktive Strategie. An die Stelle einer stabilen, normierten Staatsordnung mit Autoritäten und Gesetzen und ihren ausübenden Organen empfiehlt Tolstoi als Kohäsionsmittel aller widerstreitenden Interessen ganz simpel die Liebe, die Brüderlichkeit, den Glauben, das Leben in Christo zu setzen. Tolstois Ansprüche an die sittliche Lebensart seiner Mitmenschen war allzu hoch, umso größer musste die Enttäuschung sein. An einigen Orten versuchten Leute, die Probe aufs Exempel zu machen und gründeten Kolonien auf dem Prinzip des Nicht-Eigentums und der Nichtanwendung von Gewalt. Aber verhängnisvollerweise endeten diese Versuche als Enttäuschungen, und nicht einmal innerhalb seines eigenen Hauses, seiner eigenen Familie gelang es Tolstoi, die Grundprinzipien des Tolstoianismus durchzusetzen. Jahrelang bemühte er sich, sein privates Leben in Einklang mit seinen Theorien zu bringen; er verzichtete auf die geliebte Jagd, um keine Tiere zu töten und lehnte jede Fleischnahrung ab, weil sie die gewaltsame Tötung von lebenden Wesen voraussetzte. Er pflügte selbst auf dem Feld, ging in grobem Bauernrock und hämmerte sich mit eigener Hand die Sohlen an die Schuhe. Aber die Wirklichkeit ließ sich durch seine Ideen nicht bezwingen. Seine Frau entfremdet sich ihm zusehends, die Kinder begriffen nicht, warum gerade sie um der Theoreme ihres Vaters willen wie Stallmägde und Bauernsöhne aufgezogen werden sollten, seine Sekretäre und Übersetzer schlugen sich wie trunkene Kutscher um das "Eigentum" an Tolstois Schriften herum; nicht ein Einziger in seiner Nähe nahm das Leben dieses herrlichen Heiden als ein wahrhaft christliches an, und schließlich wurde ihm der Kontrast zwischen seiner eigenen Überzeugung und dem Gegenwillen seiner Umgebung so schmerzlich, dass er aus dem eigenen Hause flüchtete und, einsam und in seinen heiligsten Absichten enttäuscht, in einer kleinen Bahnstation in einem fremden Bette starb. Gerade um der Unbeugsamkeit seiner Überzeugung, der Konzessionslosigkeit seiner Ideen willen, musste sein Versuch, mit einem Ruck die Weltordnung zu verändern, scheitern - wie immer der ideale Gedanke innerhalb der irdischen Welt.

Tolstois besondere Tragik liegt darin, dass er über die hunderttausendfache Verbreitung seiner revolutionären Schriften der bolschewistischen Revolution den Weg bereitete, welche sich die Zerschmetterung des Gegners als erste Forderung setzte (während er Ausgleich durch Liebe forderte), und die dem Staat (dem Beelzebub Tolstois) eine nie geahnte Autorität über den Einzelnen verlieh und mit seiner Zentralisierung aller Gewalt, mit seinem Atheismus, seiner Kollektivierung und Industrialisierung, seinem Willen, die Massen aus ihrer Dumpfheit emporzuheben, just das Gegenteil statuierte von seinem "So sollt ihr leben!".

Aber sonderbarerweise hat gleichzeitig seine Lehre auf andere Millionen Menschen im genauen Gegensinne gewirkt. Während die Russen aus Tolstois Lehre das Radikale übernehmen, übernimmt in Indien Mahatma Gandhi, der Nichtchrist, daraus das Apostolat des Urchristentums, die These der non-résistance und organisiert als Erster mit seinen dreihundert Millionen Menschen die Technik des passiven Widerstands. Er gebraucht in diesem Kampf auch all die anderen unblutigen Waffen, die Tolstoi als die einzig erlaubten anempfohlen hat: die Abkehr von der Industrie, die Heimarbeit, die Erringung innerer und politischer Unabhängigkeit durch äußerste Einschränkung der äußeren Bedürfnisse. Dank Gandhi wurde Tolstoi somit ein letzter posthumer Triumph zuteil. Und da die Ideen des gräflichen Literaten ganz zweifellos Zeitgeschichte, Weltgeschichte in weitesten Dimensionen gezeitigt haben, gehören seine theoretischen Schriften mit allen ihren Widersprüchen ein für allemal zum wichtigsten geistigen und sozialen Bestand unserer Zeit, und vieles vermögen sie heute noch dem Einzelnen zu geben. Wer für den Pazifismus kämpft und für friedliche Verständigung zwischen den Menschen, wird kaum ein anderes so ergiebiges und systematisches Arsenal mit Waffen gegen den Krieg finden.

Stefan Zweig beendet seinen Essay über Tolstoi als religiösen und sozialen Denker mit einer Verbeugung vor dem großen Moralisten: Immer ist es Wolllust, einen überragenden Künstler auch als moralisches Beispiel empfinden zu können, als einen Mann, der, statt kraft seines eigenen Ruhmes zu herrschen, sich zum Diener der Humanität macht und in seinem Ringen um das wahre Ethos von allen Autoritäten der Erde nur einer einzigen sich unterwirft: seinem eigenen, unbestechlichen Gewissen.

Stefan Zweigs auf die Person bezogene Deutung des religiösen und sozialen Denkers Tolstoi ist ganz gewiss zulässig und vertretbar, doch was sich für Zweig als "plötzlichen Stoß aus dem Dunkel" darstellt, hat tatsächlich eine lange Reifungsgeschichte in der Person des Russen, die schon für den jugendlichen Mann bezeichnend war. Nie war Tolstoi als Denker und Sozialarbeiter mit den geltenden Normen treu konform gegangen, und schon der neunzehnjährige Gutsbesitzer war vergeblich darum bemüht seinen Leibeigenen jene Freiheit zu geben, welche ihnen das Institut der Leibeigenschaft vorenthielt. Natürlich, das soziale Engagement für die Aufhebung der Leibeigenschaft war für einen Angehörigen der russischen Intelligéncija zu jener Zeit nicht untypisch, und gleich ob es sich dabei nun um Slavophile oder um sogenannte Westler handelte (Tolstoj gehörte keiner Strömung an), agitierte man mit Eifer für ihre Abschaffung, welche schließlich am 19. Februar 1861 verlautbart wurde. Doch Tolstois Engagement ging über eine bloße Gesinnungspflege und diesbezügliche Lippenbekenntnisse seit jeher weit hinaus. So eröffnete er im Herbst 1859 auf seinem Gut eine Schule für Bauernkinder, da er zu der Überzeugung gekommen war, dass die Volksmassen zu ihrer Emanzipierung der richtigen Erziehung bedürften. Nun, die Eröffnung einer Schule und die Unterrichtung von Kindern ist für sich genommen noch keine besondere Sensation, obgleich er sich darin schon von der großen Mehrzahl russischer Gutsbesitzer unterschied. Wirklich revolutionär an seiner Tat war die pädagogische Methode, die sich fundamental von allen gebräuchlichen Lehrmethoden jener Zeit unterschied und die ihn bereits frühzeitig als einen Denker mit Neigung zur anarchistisch-libertären Weltanschauung bezeichnet.

Laut seinem Biografen Janko Lavrin beruhte seine Methode zum Teil auf den Grundsätzen Rousseaus, war aber modifiziert und den speziellen Umständen von Zeit und Ort angepasst. Seine lebhaften und höchst hemmungslosen Schüler waren von jedem Zwang und Drill befreit, auch gab es keine Schranke zwischen ihnen und ihrem Lehrer. Tolstoi fühlte sich zum einfachen Volk hingezogen und er liebte seine Arbeit mit den Bauernkindern. Seine pädagogische Methode wirkt selbst im Lichte heutiger Lern- und Erziehungsmethoden revolutionär und nonkonformistisch. Die Charakterisierung Tolstois als revolutionärer Denker von Jugendbeinen an scheint deswegen durchaus begründbar zu sein und der Umbruch vom gefeierten Belletristen zum verfemten Anarchisten scheint weniger plötzlich zu kommen, als man meinen könnte. Eher noch ist der konstatierte "Umbruch zum Revolutionär" als beschleunigte Radikalisierung und Manifestwerdung einer immer schon latent vorhandenen, moralisch motivierten, Gesinnungslage auszulegen. Auch übersieht eine rein auf die Person des Tolstoi bezogene Betrachtungsweise den historischen Umstand von allgemein anarchistischen Trends innerhalb der russischen Intelligéncija, für welche prominente Avantgardisten wie etwa Michail Alexandrowitsch Bakunin (1814-1876) und der fürstliche Peter Kropotkin (1842-1921) beispielsgebend zu nennen sind.

(misanthropos)


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