Stefan Zweig: "Ungeduld des Herzens"
Im Spannungsfeld ambivalenter Einheit von Heldentum und Feigheit setzt der einzige Roman des begnadeten Novellisten Stefan Zweig zu einem furiosen Erzählgemälde altösterreichischer Provenienz an. Hochdekoriert kehrt der Ulanenleutnant Anton Hofmiller von den Schlachtfeldern des ersten Weltkriegs in die Heimat wieder, wo man den traurigen Helden feiert, der doch im Krieg nichts als den erlösenden Tod gesucht hat. Gewissensqualen über sein menschliches Versagen in der letztlich tödlich endenden Beziehung zu einem verkrüppelten Mädchen ließen ihn zum todesmutigen Helden werden, der "auf dem Feld der Ehre" den Tod suchte und, eines ungnädigen Schicksals wegen, in all dem Morden des ersten Weltkrieges für sich nichts als Kriegerruhm fand.
Inmitten einer geselligen Runde denunziert Hofmiller sein Heldentum als tragisches Versagen vor den Anforderungen wahrer Sittlichkeit und führt den Leser solcherart über in die Zeit vor dem Kriege, als im Sommer 1914 der junge Offizier aus dem brodelnden Wien in eine gar langweilige ungarische Kleinstadt versetzt wird. Nach jeder Abwechslung vom tristen Garnisonsalltag gierend, nimmt Hofmiller die Ladung zu einer aristokratischen Abendgesellschaft an, wobei ihm aus Unwissenheit die Ungeschicklichkeit unterläuft, die schwer bewegungsbehinderte Tochter des Gastgebers, Edith von Kekesfalva, zum Tanz zu bitten. Auf seine Aufforderung zum Tanz reagiert das Mädchen mit blanker Verzweiflung, und in panischer Betroffenheit verlässt Hofmiller fluchtartig die Abendgesellschaft, um sich in den darauf folgenden Tagen und Wochen durch häufige Besuche vor sich und der Welt der mitleidigen Anteilnahme am tragischen Schicksal des Mädchens zu vergewissern. Das an Leib und Seele gezeichnete Mädchen verkennt die zuerst noch schuldbewusste Anhänglichkeit des charmanten Kavaliers in Uniform als Liebe, hingegen dessen Handeln tatsächlich mehr und mehr von gar niedrigen Motiven wie Eitelkeit, Langeweile und Vergnügungssucht geleitet ist.
Die Anerkennung, welche dem jungen Reiteroffizier bürgerlicher Abstammung seitens einer Aristokratenfamilie entgegengebracht wird, schmeichelt seiner unbekümmerten Selbstgefälligkeit und verschleiert seinen Blick auf die sich anbahnende Liebestragödie. Zu spät wird er der unglücklichen Verstrickung erotischer Empfindungen gewahr, und aus schwächlichem Mitleid mimt er die halbherzige Erwiderung ihrer Leidenschaft und willigt schlussendlich sogar - insgeheim widerwillig - in eine Verlobung mit Edith ein. Das Ereignis der Verlobung ist schon bald in aller Munde und wiederfährt ihm als derber Spott seiner Offizierskameraden. Und so ist es ebenso derbe Scham, die ihn veranlasst das Versprechen an das Mädchen in aller Öffentlichkeit in Abrede zu stellen. Der aus tiefer Betrübnis über sein sittliches Versagen gespeiste Wunsch freitödlicher Sühne wird durch das Eingreifen seines militärischen Vorgesetzten vereitelt, welcher, die tragische Verstrickung des jungen Nachgeordneten erkennend, diesen an einen anderen Garnisonsstandort versetzen lässt. Ein aus sittlicher Verzweiflung über sein ehrloses Handeln resultierendes Streben nach wiedergutmachender Verständigung mit Edith kommt ihm wegen des plötzlichen Freitodes des enttäuschten Mädchens zu spät. In diesen Tagen bricht die Hölle des ersten Weltkriegs über Europa herein und verheißt dem jungen Offizier Erlösung von seinen Gewissensqualen über den Tod der Unglücklichen. An dieser Stelle schließt sich der Handlungskreis wieder.
Auffällig an
dem Roman ist die zentrale Stellung des Motivs vom Freitod, welches
gewissermaßen als autobiographische Notiz des Schriftstellers eigenen
Freitod vom 23.2.1942 in Petrópolis (Brasilien) thematisch vorwegnimmt.
Der am 28. November 1881 als zweiter Sohn des böhmischen
Textilfabrikanten Moritz und der italienischen Bankierstochter Ida Zweig
in Wien geborene Stefan Zweig war Zeit seines Lebens Weltbürger und
Pazifist gewesen, der seine literarische Kraft u.a. aus der Idee eines
vereinigten Kultureuropas bezog. Bücher wie die "Schachnovelle", "Maria
Stuart" und "Ungeduld des Herzens" oder heute unbekanntere
Essaysammlungen wie beispielsweise "Menschen und Schicksale"
begründeten schon zu Lebzeiten eine weit über die Landesgrenzen
Österreichs hinausragende Bekanntheit und machten den studierten
Philosophen Stefan Zweig zu einem international gerühmten Autor
anspruchsvoller Bestseller. Eine "böse Vorahnung" über die politische
Zukunft Österreichs ließ den Spross aus jüdischem Großbürgertum schon
1933/34 - mit Beginn der austrofaschistischen Diktatur - nach England
auswandern. Den sein Leben lang an der sogenannten "schwarzen Leber"
(einer depressiven Verstimmung) leidenden Stefan Zweig stürzten in der Zeit
des zweiten Weltkriegs die Meldungen von Kriegserfolgen der
verbündeten Deutschen und Japaner zunehmend in tiefe Verzweiflung, was
in Verbindung mit dem scheinbar somit unwiderruflichen Untergang seiner
alten europäischen Kulturwelt ("der Welt von Gestern") wohl eines der
Hauptmotive für den freiwilligen Abschied von dieser Welt gewesen sein
muss. Ein ähnliches Gefühl der Ausweglosigkeit und des Zusammenbruchs
von erwünschten Illusionen mag die beiden Hauptfiguren der Romanhandlung
in "Ungeduld des Herzens" zu suizidalen Handlungsweisen verleitet haben.
Etwas anderes ist der im Titel des Buches hervortretende geniale Gedanke
moralischer Ungeduld. Dazu sei die Eigendefinition
des Autors als Textzitat dargelegt: "Es gibt eben zweierlei
Mitleid. Das eine, das schwachmütige und sentimentale, das
eigentlich nur Ungeduld des Herzens ist, sich möglichst schnell
freizumachen von der peinlichen Ergriffenheit vor einem fremden Unglück,
jenes Mitleid, das gar nicht Mitleiden ist, sondern nur instinktive
Abwehr des fremden Leidens vor der eigenen Seele. Und das andere, das
einzig zählt - das unsentimentale, aber schöpferische Mitleid, das weiß,
was es will, und entschlossen ist, geduldig und mitduldend alles
durchzustehen bis zum Letzten seiner Kraft und noch über dies Letzte
hinaus." Aus dieser Begriffsklärung klingt eine geradezu Kant´sche Vorstellung von Moral
durch, die nicht eine Moral des Herzens sondern eine Moral des
Vernunftprinzips ist. Nicht aus launischer Neigung möge der Mensch dem
Menschen Mitmensch sein, sondern auf Grund eines allgemein gültigen und
vernünftig einsehbaren sittlichen Prinzips, welches nicht flüchtig wie
eine bloße Gefühlsempfindung ist, sondern sich aus überindividuellen
Werten ethischer Verantwortung herleitet. Diese mit unübertroffener
sprachlicher Brillanz vermittelte Thematik sucht in der Österreichischen
Gegenwartsliteratur ihresgleichen und stimmt melancholisch über die
untergegangene Welt von Gestern, zu deren herausragendsten
Persönlichkeiten Stefan Zweig zu zählen ist.
Ein zeitloser Klassiker wie "Ungeduld des Herzens" sollte in keiner Wohnzimmerbibliothek fehlen. Dieser Roman ist so betörend, dass man immer wieder nach ihm greifen wird, weil große Literatur einfach berührt und als schöne Erinnerung nicht mehr aus dem Gedächtnis weichen will.
(misanthropos; April/2002)
Stefan Zweig: "Ungeduld des Herzens"
Taschenbuch:
Fischer. 455 Seiten.
ISBN 3-5962-1679-6.
ca. EUR 9,90. Buch bestellen
Gebundene Ausgabe:
Fischer, 1982. 455 Seiten.
ISBN 3-1009-7046-2.
ca. EUR 22,-. Buch bestellen