Robert Walser – ein literarischer Intrigant?
Der im Rahmen der
Normalität agierende gesellschaftlich integrierte Mensch bewegt sich – im Prinzip – auf festem Boden, geht
aufrecht, atmet mühelos ein und aus. Der Prototyp des Intriganten ist
dagegen jemand,
der keinen festen Boden unter sich verspürt; der sich wie in einem
tiefen See
oder Tümpel schwimmend erlebt. Seinen atmenden Kopf kann er nur über
Wasser
halten, indem er Intrigen ins Werk setzt. Es geht immer – das ist sein
Status
– um sein Überleben. Intrigieren
und Integriertsein steht in einem
verklammernden Widerspruch, der keine Ruhe findet.
Der Intrigant des genannten Typus ist aufgrund
seiner psychologischen Struktur ein existenziell Ausgestoßener, er fühlt
sich als solcher, er steht außerhalb, ist
allein, machtlos, verloren. Das kann er
nicht
abstreifen. Was ihn den Weg der Intrige beschreiten lässt, ist
vordergründig
sein Stolz. Er begibt sich vorzugsweise in eine Dienerrolle (Wurm,
Marinelli),
um unbemerkt Herrschaft ausüben zu können. Er ist entweder aufgrund
seiner
Geburt ein Untergeordneter und versucht intrigierend sein Schicksal zu
überlisten oder aber er sucht ohne äußere Not die Rolle und Funktion des
Verschlagenen, um eine Herrschaftsüberlegenheit zu erlangen.
Er ermöglicht so und schützt zugleich seine Machtposition.
Er genießt u.U. dabei weniger die Machtausübung als solche über die an
Macht
und Position Überlegenen als seine
quasigöttliche
Verborgenheit und Unsichtbarkeit, den heimlichen Triumph, den es ihm
vergönnt. Denn damit entkräftet er seine Ohnmacht auf
dem Felde der Sichtbarkeit. Er ist
nicht auf Taktiken der Defensive – etwa in
vorwärtsverteidigender Aggressivität
– angewiesen. Er zieht unkontrolliert
und unkontrollierbar die Fäden, wodurch er all die
ihn in sicheren gesellschaftlichen
Positionen verankert Überlegenen, die
ihn ausgeschlossen haben, zu Marionetten degradiert.
Der Intrigant macht sich klein, unscheinbar,
unerkennbar, täuscht vertrauenerweckende Bescheidenheit vor. Nur so kann
er
unbeobachtet agieren. Er lässt anderen den Vortritt, um ihnen – in ihrem
Rücken
unbeachtet – ein Bein stellen zu können.
Der Intrigant erzielt Erfolge, die ihn über
seine Ohnmacht triumphieren lassen, es wird ihm aber eine Resonanz der
Anerkennung
versagt. So vertiefen seine Siege nur seine Einsamkeit und seinen Status
als Verfemter.
Der Intrigant steigert auf diese Weise mit der Effektivität seiner
Kabalenkunst
nur seine Verzweiflung. Er weiß immer, dass jede erschlichene
Anerkennung, die
ihm zuteil wird, eine lügenhafte, scheinbare ist, eine Schimäre.
Dadurch, dass
er sich über die anerkannte Regelordnung der Moral stellt, dadurch eben,
dass
er ein in zynischer Amoral Überlegener ist, vollendet er seinen
Ausschluss aus
der Gesellschaft, in die er so dringend aufgenommen werden möchte. Seine
Stärke, die sich aus seinen meist destruktiven „Erfolgen“ nährt, macht
ihn nur
schwächer, fesselt ihn definitiv an seine Schwäche.
R o b e r t W a l s e r, der Diener, der bereitwillige Angestellte,
episodisch
ein dienstbeflissener Lakai auf schlesischem Schloss, der Schattenmann,
der
sich permanent Minimierende, gewährt niemandem eine Herrschaft über
sich. Er
verleugnet die taghelle Natürlichkeit, seine gläserne Naturechtheit, um
sich
unzugänglich zu machen. Er täuscht Künstlichkeit vor, spielt hier und da
sogar
den Blödelnarren, um seine empfindliche Liebe zum Naturwahren schützend
zu
verbergen. Er, der manieriert Künstliche par excellence, wehrt sich,
empfindlich wie ein Allergiker, gegen jeden falschen Ton vorgetragener
Echtheit.
Dieser mimosenhafte
Narr nun, der sich willig, aber mit überlegenem Wissen, der
Lächerlichkeit
preisgibt, verwickelt sein Publikum in
seltsame mystifizierende Spiele. Und
nicht selten gleichen diese Spiele dem in die hinterhältige Tücke
verliebten
Treiben eines Intriganten.
Dieser etwas unfreundlich anmutenden Unterstellung,
die, ohne der persönlichen Integrität
dieses Autors zu nahe treten zu können (zu wollen schon gar nicht), soll
hier
nachgegangen werden. Aus purer Erkenntnisneugier übrigens und mit der
Absicht,
einem ausgebufften Spieler – aus einem
vielleicht überraschenden Blickwinkel – ein wenig in die Karten zu
sehen.
Das
soll mit dem Hinweis beginnen, dass Walser, der shakespeareabgelauschte
Narr in
seinen späten Texten, unbedenklich auf die Offensichtlichkeit
inhaltlicher
Botschaft verzichtet, auf mit Sinn und Verstand abgerundete Geschichten,
auf in
den Augen des Lesers Erzählenswertes. Wichtig ist ihm
allein, als Marionettenspieler hinter den
Kulissen, über die Sprache zu herrschen. Damit erweckt er den Eindruck
(im
Spätwerk vor allem) , als scheinbar fast beliebig irgendetwas
mitteilender
Schriftsteller ein sich selbst fesselnder Gefangener im Bunker seiner
Sprachbeherrschung
zu sein.
Die Frage ist: wie kommt er heraus aus diesem
Dilemma?
Als Intrigant – an dieser Hypothese soll fürs
erste festgehalten werden –, der der Einsicht nicht entkommen kann, ein
Krüppel
zu sein, wendet er alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel an, seine
Behinderung unsichtbar zu machen. Durch Manipulation und unter
zahllosen,
nervös wechselnden Masken gibt er sich – gewollt oder ungewollt – als
solcher zu
erkennen; er verbirgt und verstellt sich, um unerkannt eben doch in
Erscheinung
treten zu können. Nur so kann er sein Künstlertum ertrotzen. Er täuscht
– und
das kann nur in der Rolle des Clowns
funktionieren
– den aufrechten Gang eines „Integranten“ vor. Intrigengeschützt
schlüpft er in
die Rolle des Integrierten, denn nur als solcher bekommt er seine
Chance. Ein
Schriftsteller kann dies nur sein, wenn er gehört, gelesen wird und in
seiner
andersartigen Kommunikation verstanden wird. Dabei
weiß er doch, dass all seine
Veranstaltungen „für die Katz“ sind. Walser macht das – in
dem Prosastück „Für die Katz“ – bezeichnenderweise
zum Thema. Er weiß, er wird nicht gehört und eben das will er hören
lassen.
„Hie und da dichten sogar die Dichter, indem sie sich sagen, sie fänden
es
gescheiter, etwas zu tun, als dies zu unterlassen“. So unterläuft er den
Appell
an sich selbst, dieses einer verständnislosen Öffentlichkeit ausgesetzte
Dichten doch besser zu unterlassen. Das ersichtlich Unvernünftige nennt
er ‚gescheit’. Gescheit ist eben, wer sich
selbst und die anderen
überlistet. Möglich wird das nur dadurch, dass er bewusst das Nichtige
und
Nutzlose tut. Künstlerisch vermag das eben nur der Clown mit einer
Virtuosität
der Blödigkeit. „Im Begriff Blödsein
liegt etwas Strahlendschönes und Gutes“ bemerkt Walser in einem Brief an
Max
Rychner aus dem Jahre 1926. Blödigkeit überwindet die Nichtigkeit, indem
sie
tanzt, pantomimisch Aussagen evident macht kraft der Nichtigkeit artikulierter Bedeutung. Nonsens wird Methode,
indem sie die Glieder hebt zur schönen Gebärde.(Das ist Walsers
Berührungspunkt
mit dem Jugendstil, aber das ist auch der einzige.) „Das schöne Gedicht
hat
meiner Ansicht nach ein schöner Leib zu sein, der aus den gemessenen,
vergesslich, fast ideenlos auf’s Papier gesetzten Worten hervorzublühen
habe.“ Andere
Dichterkollegen haben dies, meint Walser, verfehlt: „Der Lyriker Werfel
scheiterte jedes Mal, sobald er in Schwung kam, am baldigen Aufhören des
turnerischen, tänzerischen, spielenden Schwunges und am Beginn des
Vielwissens,
welches ihn lyrisch kaltstellte.“
Der Künstler bietet sich schließlich an als
Rosstäuscher und Trickbetrüger, wenn er in gleichem Zusammenhang sagt:
„Sich
dümmer, unwissender zu benehmen, als man ist, ist eben eine Kunst, ein
Raffinement, das und die wenigen gelingt.“ Der Künstler Walser schlüpft
da quasi
in die Rolle des raffiniert vortäuschenden Varietékünstlers, eine
Außendarstellung, die das eigene originäre Künstlertum, den eigenen
Dichterberuf evoziert, indem er ihn verleugnet. Walser simuliert den
Intriganten, der seinen Leser hereinlegt, um ihm gleichzeitig Zugang zu
verschaffen zu den labyrinthischen Finessen seiner
aus der Sprache herauswachsenden Dichtkunst
.
*
Wenn Walser sich anpasst, demonstrativ freundlich gefügig ist wie seine Figuren Simon Tanner, Jakob von Gunten, der Gehülfe Joseph und seine Spaziergänger, dann ist es die Mimikry des Intriganten, der als Schattenspieler hinter einer spanischer Wand jegliche Anpassung gerade dadurch verweigert. Er tut als ob, er spielt die Spiele der anderen mit in liebenswürdigster Vortäuschung, um ihrem Spielfeld zu entkommen, er konterkariert deren Spielanordnung, indem er sie prinzipiell parodiert. Robert Walser ist insofern vorstellbar als ein parodierender Intrigant. Indem er mit erkennbarer Ironie die Sprache der anderen zu sprechen scheint, distanziert er sich von ihr und macht seine eigene Sprache incognito hörbar.
Die sicher nicht leicht zu
beantwortende
Frage ist: Wo hat dies seinen Ursprung?
Walsers lebenslang
labyrinthisch verkeiltes und gespaltenes Verhältnis zu seinen Eltern
könnte
einen interessanten Hinweis liefern für das ihn einspinnende
Intrigenphänomen.
Der aus seiner jovialen Ohnmacht heraus durchaus (wenn auch nicht
geschäftlich)
erfolgreiche Vater hat Walser die Mimikry der Unauffälligkeit gelehrt.
Die
dominierende Mutter zürnte und verachtete ihren Mann deswegen, so dass
sich
vermutlich ein Schuldgefühl , das Empfinden für das Prekäre der
Minimierungslist beim – eben auch mutterverehrenden – Sohn festsetzen
musste.
Ein schlechtes Gewissen aber duckt sich und vermag nicht wirklich im
Verborgenen zu triumphieren. Walsers Selbstverspottung (sein
„zerschnittenes
Ich-Buch“, das zusammengeleimte) provoziert – diese Vermutung liegt
jedenfalls
nahe – geradezu eine Bestätigung des überlebenswichtigen Gegenteils
(zumindest eines
anders verstanden sein Wollens). Anders ist das offenbare, aber etwas
angestrengt und vorgetragen wirkende Vergnügen, das er dabei empfindet,
wohl kaum
zu verstehen. Könnte es sein, dass er, unter der Clownsmaske verborgen,
wohl (unbewusst)
an die Mutter adressiert, Absolution erfleht?
Absolution dafür,
allzu willig, allzu gehorsam vor dem väterlichen Heiligenbild zu knien,
dessen
Wunderkraft der Unscheinbarkeit allzu andachtsvoll zu verehren?
Beleidigt er
damit nicht das Leiden der vom Wesen des Vaters gepeinigten und daran
zugrunde
gehenden Mutter?
Das unvereinbare,
unversöhnbare Wesen der Eltern, die sich als
Ergänzende zusammengefunden hatten und als lebenslang sich
anziehende und abstoßende Pole in ihrer Lebenspartnerschaft scheitern
mussten, konnten
sich auch im Sohn,. der sie im Labyrinth seiner Innerlichkeit zusammenführen
wollte, nicht versöhnen. Der Kampf der
beiden, des im gelassen
Unterlegensein Glücklichen mit der stolz die ihr zustehende Anerkennung
Einfordernden verlangte nach einer Fortsetzung und einer Lösung. Die
gelang
Walser immer wieder in schriftstellerischer
Manier und immer wieder misslang sie, missriet sie auch, übertrug sich
auf eine
heimlich kämpferische Auseinandersetzung Walsers mit seinem
Leserpublikum, die
er zumindest zu Zeugen und Zuschauern macht. Dieser Kampf war ein
uneingestandener, weil sicherlich unbewusster, ein unvernünftiger,
aussichtslos
ins Paradox einmündender, ein scheinhafter, verdeckter, ein Kampf, der
zwangsläufig das Aussehen einer vielgesichtigen Intrige annehmen musste.
Walser versucht sich mit seinen Listen nur
aus einer Affäre zu ziehen, die ihn zur Selbstverurteilung und
Selbstaufgabe zwingen
will. Dieses gefährdete Selbst aber ist das Schriftsteller-, das
Dichterselbst.
Als er in Herisau das Schriftstellern ganz aufgibt, schrumpft sein
Selbst zur Nichtigkeit
eines inaktiven, gehorsam funktionierenden, kommunikationsunfähigen
Anstaltsinsassen. Außerhalb der Schriftstellerei vermag er sich nicht
mehr
„intrigierend“ als integrierte und integrierbare Persönlichkeit am Leben
zu
erhalten. Sein Tod (schon früh antizipiert) im Schnee, ein Erfrieren,
Absterben
in der (erlösenden?) Reinheit des Schnees gebettet, ist von einer fast
pathetischen
Konsequenz.
Zweifellos weicht Walser
vom Psychogramm des
Intriganten in einem wesentlichen Punkte ab: Es geht ihm nicht um das
Erschleichen von Macht und Herrschaft in welcher Gestalt auch immer,
wohl auch
nicht um den Überlegenheitstriumph der Verborgenheit.
Es liegt eben auf
der Hand, dass literarisch-künstlerisches Intrigieren, ein Intrigieren
als Werkstattmethode,
zu unterscheiden ist von privategoistischer, von politischer, von
Karriereintrige. Es ist viel eher wohl zu verstehen als das Lügenspiel
eines
manieristisch auf virtuosen Umwegen seinen Leser, den Konsumenten – den
ihn
ernährenden Abnehmer seiner schriftstellerischen Produktion –
betrügenden
Bekenners einer Wahrheit über Welt und Ich, einer Wahrheit, die diesem
Konsumenten verhüllt werden soll, vielleicht um
ihn nicht fahrlässig zum
Voyeur seiner heimlichen Eingeständnisse aufzuwerten. Das ist aber eine Intrige ohne Vorteilsnahme. Betrogen in
der ästhetischen Dimension, aber auch in der moralischen, wird dieser
Kunstabnehmer dann doch nicht. Es liegt an ihm, ob er sich einlässt auf
dieses
Angebot, ob er die Tanzfläche des so anmutig vor ihm auftretenden
Sprachpantomimen und Vortäuschungskünstlers betreten mag und auf das
üblicherweise ehrlich zu Erwartende mit Klugheit verzichtet.
Walsers mangelnder
Glaube an die Welt, die ihm eher „anscheint“ als verlässliches
Wirklichsein
verspricht, ist eine der Voraussetzungen für seinen intrigenhaften
Umgang mit
ihr, für sein Ränkespiel. Es gilt so zu tun, als ob das erzählerisch
Ausgebreitete, Phantasmagorisch-Illusionäre ernsthaft wirklich sei.
„Stelle
dir, lieber Leser, vor...“ – so heißt es in der „Ovation“, „und du wirst
gestehen
müssen...“ Betrachte und vertraue nur den aufscheinenden Kulissen, die
deine Vorstellungskraft
dir zuspielt, richte dich darin ein – und ich
schenke dir eine Welt. Es ist eine
trügerische, vorgetäuschte, aber sie klingt, ist wahr und besitzt die
Wirklichkeit von Musik, duftet, schwebt
dir vor. Du bist betrogen; ein Gaukler, ein Bildbeschwörer, ein
Intrigant zieht
für dich in diesem Spiel mit täuschend lebendigen Puppen die Fäden. Die
kannst
du sehen und greifen, aber in willig selbstbetrügerischer Absicht oder
Absichtslosigkeit siehst du sie nicht. Du bist das beglückte arme Opfer
einer
Intrige, denn du wirst dazu verführt, dich in einer Welt und
Wirklichkeit niederzulassen,
die nur dem Anschein nach existiert. Walser ist bereit, der Illusion
Kredit
einzuräumen und das Leben als Spiel, ein Spielen im leeren Raum, ernst
zu
nehmen. Ein ungläubiger Autor muss die Welt, die er da zu Papier bringt,
vortäuschen, den Glauben an eine solche, ja nur vorgegaukelte Welt. Um
auf der
Autorenbühne erscheinen und bestehen zu können, muss er ein Ränkespiel
betreiben, muss er intrigieren.
W.s dichterische Potenz erwächst aus dem paradoxen
Trieb, das Durchscheinen der Illusion in Sprache fassen zu wollen,
Erzählkompositionen daraus zu formen, einerseits, zugleich aber das
Nichts als
ein Etwas, das Traum- und Schlafbefangene als Wirkliches, Geschehendes,
Vorhandenes erscheinen zu lassen. Dazu bedarf es der Jonglierkunst, der
Masken,
des Rollenwechsels, der Stilzitate, des ganzen artistischen Arsenals
eines
Gauklers, den man, ohne ihn zu kränken, auch einen Intriganten nennen
darf.
Walser, dieser Eindruck stellt sich immer
wieder ein, hat sich verfangen in einem Netz gläubiger Ungläubigkeit,
einer
ständig an allem vorüberwandernden Spaziergängerliebe zum Inventar des
sinnlich
Wirklichen, aber immer weiß er irgendwie, es
meint ihn, betrifft ihn nicht. Nichts Nahes, nichts Fernes
existiert,
da es eine Entfernung nicht gibt für den Ort- und Standortlosen.
In den ‚Felix-Szenen’ begegnet der Satz: „Wenn
einem nichts gleichgültig ist, scheint es, als wär einem alles
gleichgültig.“ Ein
Satz von irisierender Mehrdeutigkeit. Es ‚scheint’ so.
Soll es heißen: Es ist aber nicht so? Es
ist keineswegs alles gleichgültig? Oder lauert unter der Oberfläche (und
dafür
könnte der bei Walser dominierende Anschein seiner Konstatierungen
sprechen),
der diskrete Verweis auf die Totalität des Anscheins alles Begegnenden,
des
durchgehenden Nur-so-Scheinens? Es ist aussichtslos, diesem Robert
Walser
Klartext abzuverlangen. Das ganz Erstaunliche und Einzigartige
an diesem Autor ist jedoch, dass seine
Elementarerfahrungen, und darum muss es sich handeln, ihn
in keinem Augenblick zum Zynismus verführen.
Auch dann nicht, wenn er konstatiert, dass doch alles „für die Katz“
sei. Er
zieht sich stattdessen hinter die Kulissen seiner Bühne zurück und
empfängt
dort niemand. Auf der geöffneten Bühne davor wird Theater gespielt, wird
Travestie
inszeniert. Masken über Echtgesichtern, Täuschungsakte und
offensichtliche
Verfremdungen sind dies nur scheinbar, es gibt nur Austauschspiele. Im
Felde
der Gleichgültigkeit (um diese Version einmal festzuhalten), des alles
gleich
Gültigen, d.h, jegliche Gültigkeit Entbehrenden, entfaltet sich im
Gewand der
Illusion die Freiheit. Walser hat zu genau diesem Thema einen
„Freiheitsaufsatz“ geschrieben. Freiheit wird ihm zum Schlüsselbegriff
für
Authentizität. Die Künstlichkeit der Machinationen im freien Raum des
gleich
Gültigen erscheint ihm als verbleibende Zufluchtsinsel der
Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit.
Walsers Frömmigkeit und große Liebeserklärung gilt in eben diesem Sinne
der Natur.
Der literarische Weg zu ihr führt über die Machination, über
Simulations- und
Dissimulationsspiele, nun ja, über die Intrige., die da eine nur für
Walser
reservierte Bedeutung annimmt.
So wie Walser hinter seinen Kulissen, in der
backstage, verschwindet, sind auch seine Figuren unzugänglich
verschlossen. Je
scheinbar weltoffener, toleranzfreudiger sie auftreten, desto
hermetischer ihre
abweisende Sprödigkeit. Man denke an den so offensiven Eroberer
kleinformatiger
Welt im berühmten „Spaziergang“ von 1917 und seine offenherzige
Unergründlichkeit. Oder an die Gleichgültigkeit Joseph Martis, des
„Gehülfen“.
Dem ist sein Chef und Arbeitgeber durchaus sympathisch, was ihn nicht
daran
hindert, ihn, eingeschlossen in seine unerschütterliche Tugend der
Dienertreue
und Loyalität, wider alle Vernunft und Einsicht hilfreich in den Absturz
zu
geleiten. Eingreifen, Heraustreten ist nicht seine Sache. Anscheinend
ist sie
ihm nicht erlaubt. Die Realität des anderen bleibt immer auch Sache des
anderen. Man könnte Walser-Marti, der nur seine autonomen, ja
autistischen
labyrinthischen Gänge kennt, einen passiv agierenden sozialen
Intriganten
nennen, einen, der als Überzeugungstäter sowas wie eine Hilfeleistung
tunlichst
unterlässt.
Die bürgerliche Werteordnung ist
für einen
Schriftsteller, der diese Gesellschaft als seine Kundschaft benötigt,
ein – was soll er tun? – zu umwerbender
Widersacher. Als Künstler mit
antibürgerlichem Selbstverständnis ist er nur widerwillig bereit, sich
zu
integrieren (Eine Grundsituation, der ja nur wenige Künstler entgehen).
Was
rettet ihn aber aus solcher Verlegenheit?
Schließlich
findet er nur in geistiger Gemeinschaft mit dieser Gesellschaft eine
Sinnerfüllung seines Berufs, den er als Berufung empfindet.
Was tut er angesichts dieser labyrinthischen
Verlorenheit? Er schwingt sich auf die Wolke einer wundersamen Rhetorik.
Walsers Methode, den innerlich gemiedenen, aus seiner Welt möglichst
auszuschließenden, bzw. herauszuhaltenden Leser dennoch anzusprechen und
einzuladen, gerinnt in der Ansprache zu
einer prototypischen, repräsentativen Form. Diese Ansprachen, meist ohne
zwingenden, jedenfalls ohne ausreichenden Anlass, bewegen sich meist auf
höchstkultiviertem Niveau erlesener Höflichkeit, ja geradezu höfischer
Courtoisie. Die Angesprochnen, denen diese üppigen Rhetoriksträuße
überreicht
werden, wissen nicht (und auch der Leser kann nicht umhin, in diese
Rolle zu
schlüpfen), wie ihnen geschieht Ambivalent, hinter der Maske des
liebenswürdigen Intriganten werden sie geadelt und gleichzeitig der
Nichtbeachtung preisgegeben. Sie werden in eine blumige Aura von
Respektierlichkeit
eingetaucht, nur eben um den Preis, in phantastisch aufgemalte Figurinen
verwandelt zu werden. Beispiele für diese immer überaus gutgelaunt und
vergnüglich, in euphorischem Festtagston vorgetragenen Springbrunnen
artig
formulierter Redundanz finden sich immer wieder, herausragend in Simons
Redekunststückchen in den „Geschwistern Tanner“ und
in „Der Spaziergang“ (1917). Oft genug ist es
– Eichendorffs
Taugenichts verwandt – das Aufbegehren eines humanitätsbewußten
Müßiggangs gegen enge Tugendhaftigkeit des korrekten Arbeitsbürgers, der
sein
Ansehen und seinen Wert als Gesellschaftswesen etwa als steuerzahlendes
Individuum nachweist. Im „Spaziergang“ setzt der müßiggehende,
tätigkeitsferne
Dichter, der da provozierend nur spaziert, zu einer machtvollen,
wortblumenreichen Rechtfertigungsrede an, die vom überrollten
Steuereintreiber,
der diesem Kunden wohl kaum gedanklich folgen dürfte, ratlos überwältigt
mit
einem „Gut!“ quittiert wird. Funktion dieser über Seiten
dahinkreiselnden Rede
ist weniger psychologisch die einer Überzeugungsleistung
als einer Entwirklichung der Situation. Neue,
eigene, poetische, illusorische Realitat wird geschaffen. Ebenso wie es
dem in
dem „Kleinen Landstaßenerlebnis“ arretierten
Vagabunden mühelos gelingt, mit Hilfe einer anmutig Wortekaskaden
ausschüttenden Ansprache den Dorfpolizisten zu bewegen, ihn
augenblicklich auf
freien Fuß zu setzen. Walserintrige, die ihre Opfer mit Charme betäubt
und
gefügig macht. Aber man muss sich das einmal anhören:
„Sie befinden sich aber sehr wahrscheinlich in
einem
Irrtum“, wagte ich hinzuwerfen, „wenn Sie glauben, dass Sie es in mir
mit einem
alltäglichen Vagabunden zu tun haben könnten. Ich möchte mir erlauben,
Ihnen zu
raten, mich mit etwas größerer Genauigkeit anschauen zu wollen. Sie
gelangen
dann vielleicht zu der für uns beide sicherlich überaus angenehmen
Empfindung,
dass ich ebenso leicht, wenn nicht leichter, ein honetter und
ehrlicher Mensch
als verwegen und ein Gauner sein kann. Ich bin überzeugt, dass ich
entschieden
nicht bin, wofür Sie vielleicht sich verpflichtet fühlen möchten mich
zu
halten. Ganz ebenso gut wie irgendein anderer hätte ich mit der
Eisenbahn
reisen können. Da ich aber ein lebhafter Freund tagelangen,
meilenweiten
Herumschlenderns und Marschierens bin, so habe ich vorgezogen, zu Fuß
zu gehen,
was doch wohl nicht gut als Sünde betrachtet und mithin wohl auch
nicht ohne
weiteres verdächtig gemacht werden kann. Erscheinen Freude am Wandern und was
damit aufs schönste verknüpft ist: Liebe zur Natur Ihnen etwa
verdächtig? Bitte
erklären Sie sich freundlich.“
Es ist nicht zu übersehen, dass Walser, um auch darauf noch einmal zurückzukommen, hier die Kunst und Chuzpe des Vaters demonstriert, quasi als Ringkämpfer mit einem geschickten Griff aus der Unterlage in die Oberlage, aus der unterlegenen in die überlegene Position zu gelangen. Er entwaffnet in diesem Fall den an sein Vorurteil gefesselten Gegner, der von einem Vagabunden ein gänzlich anderes Verhalten, vor allem auch sprachlich mit einem (abgerissenen) Vagabundengewand rechnet. Das Muster dieser sozialen Modellsituation gerät ins Wanken und erzwingt ein keineswegs eingeübtes Rollenverhalten des sozial Überlegenen, unversehens nun aber Unterlegenen. Da gewinnt der Vater wieder einmal gegen die Mutter, die jedoch durchaus am Vagabundenstolz partizipieren darf, der hier an den Tag gelegt wird. Da wird also wieder einmal versöhnt.
Das einleitend projizierte Bild des Intriganten als eines aus Ohnmacht und unheilbarer Schwäche sich aggressiv zur Wehr setzenden Eindringlings in die abweisend etablierte Gesellschaft zeigt, so meine ich, zumindest eine verblüffende Ähnlichkeit, resp. Verwandtschaft mit diesem sich permanent aus seinen lähmenden Widersprüchen und Selbstzweifeln herauswindenden Autor, der genial und überaus kunstvoll daraus seine Inspirationen zu fraglos dichterischer Größe bezieht.