Leo N. Tolstoi: "Krieg und Frieden"
In
"Krieg und Frieden" ein Epos homerischer Dimension zu
erkennen, ist rasch gesagt und dabei so nichtig wie jede floskelhafte
Würdigung
einer jeden großen Sache. Tolstois bekanntestes und wohl auch
meist
verharmlostes Schriftwerk verdient sich zuerst einmal, aus dem Himmel
der
Literaturvergötzung auf die Erde herab geholt zu werden. Wo es
übrigens nach
einer Reihe verflachender Verfilmungen sowieso längst
angelangt ist.
Im Zeitalter breitenwirksamer Literaturverfilmung kennt man "Krieg und
Frieden"; das heißt, man kennt die tragische Liebesgeschichte
zwischen der
liebreizenden Natáscha Rostóv und dem ernsthaften
Fürsten Andréj Bolkónskij.
Sie, der quirlige Backfisch, er, der kühle Skeptiker - eine
Beziehung, meint
man, die nicht gut gehen kann. Aber ist "Krieg und Frieden" denn nicht
auch
als Entwicklungsroman angelegt? Als Abfolge von mehr oder weniger
dramatischen
Geschehnissen, im Zuge derer die Handlungsträger heranreifen.
Es wäre verfehlt zu behaupten, die Liebe zwischen dem
leidenschaftlichen Mädchen
und dem sich reserviert gehabenden Fürsten hätte im
Roman des Tolstoi nicht
einen prominenten Platz. Vielleicht liege ich richtig, sie als
bedeutsamste
Nebensache zu bezeichnen. Als Vehikel zu Wichtigerem. Nicht weniger,
aber auch
nicht mehr als dieses. Denn Tolstoi wäre nicht Tolstoi,
hätte er einfach nur
Liebesromane mit historischer Rahmenhandlung verfasst.
In "Krieg und Frieden" malt Tolstoi ein Sittengemälde der
russischen
Adelsgesellschaft zur Zeit der napoleonischen Kriege. Die Daseinsformen
von
Krieg und Frieden bestimmen das private und öffentliche Leben
der zur
Darstellung gelangenden Figuren. Im Zentrum des Geschehens stehen die
zwar
liebenswürdige doch etwas zerbrechliche Familie
Rostóv mit ihren aufgeweckten
Kindern, der düstere Fürst Andréj
Bolkónskij und der ebenso tiefschürfende
wie eigenbrötlerische Intellektuelle
Pierre Besúchov.
Womit freilich bei Weitem noch nicht alle handlungsrelevanten Namen
genannt
sind, die im Roman von großer oder kleiner Bedeutung sind.
Auch
Napoleon,
der russische Zar Alexander und der österreichische Kaiser
haben übrigens ihre
Auftritte.
Die Handlung setzt um die Mitte des ersten Jahrzehnts zum 19.
Jahrhundert ein, als Russland an der Seite Österreichs in den
Krieg gegen
Napoleons Empire eintritt, um sich nach wuchtigen Höhepunkten
via Epilog in der
Nachkriegszeit zu verflüchtigen.
Wer jetzt meint, den klassischen Wälzer, welcher "Krieg und
Frieden" mit
seinen rund 1600 Seiten nun einmal ist, vorsichtshalber meiden zu
müssen, der
sei vorweg entwarnt. Tolstois Erfolgstitel ist spannende Literatur!
Eine packende
Geschichte, die spätnachts aus Vernunfteinsicht aus der Hand
zu legen, man sich
zwingen muss. Freilich unterscheidet sich ein echter Tolstoi von
herkömmlicher
Unterhaltungsliteratur durch eine gewisse Kopflastigkeit. Das sehr wohl
- auch!
Zwischendurch in parallel verlaufende Handlungsstränge
eingeflochten und diese
kapitelweise unterbrechend, finden sich Abschnitte der reinen Theorie,
in welchen
Tolstoi eine als Massenpsychologie anklingende Philosophie des Krieges
entwickelt und sich in kritischen Anmerkungen zu Deutungsmustern der
seinerzeit
vorherrschenden Geschichtswissenschaften ergeht.
Er räumt auf mit dem verklärenden
Pathos des Krieges, mit dem törichten Heldentum und der
grausamen Farce des
Heldentodes, fordert aus sittlicher Ernsthaftigkeit und Wut
über leichtfertig
ausgelöste Kriege dann gar den "Totalen Krieg", denunziert den
militärischen
Stand als müßiggängerisch bis
parasitär und vertritt den strikten
Standpunkt, dass der geniale Heerführer (Tolstoi stellt ihn
sowieso in Abrede)
mit seinen eitel ausgeklügelten Strategien in Situationen
tausendfach panischer
Todesangst tatsächlich nichts Vorteilhaftes bewirkt, folglich
völlig überbewertet
und nichtsnutzig ist. Die verklärten Kriegsmythen, sie purzeln
bei Tolstoi nur
so vom Sockel ihrer patriotischen oder sonst wie immer gearteten
Überhöhung.
Was ist der Kern dieses Romans? Jedes Buch wird vom Leser neu
geschrieben,
insofern er es im Zuge des Leseaktes schöpferisch
interpretiert. Doch gibt es
eine verbindliche Deutung des Lesestoffs? In letztgültiger
Hinsicht würde ich
dergleichen für ausgeschlossen halten, wenn nicht sogar
für anmaßend, und doch
gilt es - wolle man nicht verstummen - eine Sichtweise des Textes
darzulegen,
die einem plausibel und allgemein annehmbar erscheint. Für
mich handelt es sich
bei "Krieg und Frieden" um eine raffiniert eingefädelte
Moralpredigt
titanischen Ausmaßes. In der sich abspulenden Dramatik
aufgeworfene moralische
Sinnfragen führen hin zur idealen Figur der sittlichen
Persönlichkeit. Daran
anknüpfend Fragen von existenzieller Bedeutung, die zu
stundenlangem Sinnieren
nötigen und eben die zeitlose Literatur von kurzlebiger
Unterhaltungslektüre
scheiden, die das Gemüt zwar erregt, doch den Geist nicht
vertieft. Tolstoi rührt
an die letzten Fragen des Menschen im Hier und Jetzt: Wie viel Ernst
erfordert
Wahrhaftigkeit? Worin erschließt sich der humanistische
Charakter des in die
Welt geworfenen Menschen? Was ist seine Aufgabe im sozialen Leben?
Der spätere
soziale Denker und Sozialrevolutionär, zu welchem Tolstoi sich
im Laufe seines
langen Lebens entwickeln wird, ist in "Krieg und Frieden" bereits am
Werk.
Obgleich mehr aus dem Blickwinkel des sittlich Empörten und
des Sinnsuchenden
sprechend. Noch scheint der Dichter mit seinem aristokratischen Stand
versöhnt;
er will die Herzen läutern, nicht politisch
umstürzen; prangert Selbstsucht an,
fordert Tugendhaftigkeit ein.
Letztlich ist es die sittliche Disziplin, die den Menschen im Leben
bestehen lässt.
Im Ringen des "Vaterländischen Kriegs" obsiegt zwar Napoleons
La Grande Armée
am Schlachtfeld, doch verwandelt sie sich in dem an Schätzen
so reichen und ob
einer Massenpanik stark entvölkerten Moskau in einen Haufen
marodierender Plünderer.
Was ihr
letztlicher Untergang sein wird. Auch der
vergnügungssüchtige
Frauenheld verbreitet nichts als menschliches Elend um sich und wird
nicht glücklich
daran.
Tolstoi prangert die Koketterie des schönen Weibes und die
Brunst des
sinnlichen Mannes als lasterhaft und schädlich an.
Schlussendlich breitet er
vor dem staunenden Auge des Lesers mehr und mehr eine Sittenlehre aus,
die in
ihren rigorosen Spitzen verstörend und ob ihrer
unzeitgemäßen Strenge aus
heutiger Sicht beinahe parodistisch wirkt.
Wenn es oft heißt, das 1887/89
geschriebene Buch "Die
Kreutzersonate"
hätte Tolstois Leser überrascht - erschreckt -, so
frage ich mich
ernstlich, ob sie denn "Krieg und Frieden" zuvor auch wirklich gelesen
hatten. Vor allem der umfangreiche Epilog lässt keine Zweifel
über die eigentümliche
moralische Geneigtheit des Autors aufkommen. Wenn man ihn denn wirklich
liest.
Wollte man den großen Schriftsteller, der Tolstoi
unzweifelhaft ist, unbedingt
kategorisieren, so könnte man ihn in jene Schachtel
schubladisieren, in welcher
sich für gemeinhin moralisierende Konservative finden. Und ihm
hiermit Unrecht
zufügen, denn so sehr seine Auffassung vom Familienleben und
seine Abscheu
gegenüber skrupellosen Spielarten der Spaßkultur
auch immer unzeitgemäß sein
mögen, einfach nur konservativ ist er deswegen noch lange
nicht.
Ein
Meisterdenker von der Statur eines Tolstoi lässt sich nicht
nach einem
Muster von Schwarz oder Weiß einordnen. In vielem wird ihm
der Leser sogar
recht geben, insofern der allenfalls humanistische Standpunkt aus der
Handlung
nachvollziehbar ist und den Leser vor das gleiche moralische Dilemma
stellt wie
den Autor und seine genötigte Figur.
Nichtsdestotrotz ist auch vieles aus der
Tolstoi'schen Sittenlehre nicht einfach zu vertreten, wie der Rezensent
es in
einigen Gesprächen erfahren musste. Vor allem Frauen mit
emanzipiertem
Selbstverständnis reagieren mit Unverständnis,
Ablehnung und zuweilen sogar
schroffer Ablehnung auf jenen Kanon der Tugendhaftigkeit, die Tolstoi
der zur
verantwortungsbewussten Persönlichkeit gereiften Frau als
Eheweib und Mutter zu
überantworten wünscht. Die Ehe ist kein Ort des
Vergnügens - und schon gar
nicht des sexuellen Vergnügens. Der Mann folgt seiner
höheren Berufung im
Dienste des Allgemeinwohls, und sein Weib fördert ihn hierbei
und wacht darüber.
Die Familie ist die Frucht ihres sittlichen Bundes. In polemischer
Überspitzung
sei es gesagt, dass diesem Tolstoi eine jegliche Mode von wegen
Spaßkultur,
gleich welcher Epoche, ein wahrlicher Ekel sein muss.
Wie ganz anders kennen wir "Krieg und Frieden" aus den Verfilmungen.
Wie
vergleichsweise seicht und amourös, ganz bar alles
Verstörenden, das Tolstoi für
den Leser in ganz schön dichter Ballung parat hält.
Natürlich gibt es auch
diesen Tolstoi der leichten Muse. Den Meister realistischer Darstellung
von
Kriegsgeschehnissen. Den Porträtisten einer verflossenen und
uns exotisch
scheinenden russischen Folklore. Den Virtuosen spannender
Handlungssequenzen.
Überfliegt
man den Theoretiker und Philosophen, überblättert man
geflissentlich den
Moralisten, so hat man einen recht genüsslichen Text vor sich.
Ja, wenn man das
denn will?!
Ich schlage vor, sich auf den ganzen Tolstoi einzulassen. "Krieg
und Frieden" ist mehr als die populäre Abfassung davon. Ein
Kosmos für sich
- ein Roman von zeitloser Weltgeltung!
(Harald Schulz)
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