PLATON (427-347 v. Chr.)
Ein
Leben im Zeichen des Eros
"Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen
Tradition Europas lautet, dass sie aus einer Reihe von
Fußnoten zu Platon besteht."
(Alfred North Whitehead, "Prozess und Realität")
Platons
Leben
Es heißt, Platon ("der Breite"), welcher ja eigentlich
Aristokles hieß, wurde im Frühsommer 427 v. Chr., am
siebenten Tage des Monats Thargelion (Mai/Juni), als
Abkömmling edlen Geblüts in Athen oder Aigina
geboren. Was das genaue Datum, also das Jahr seiner Geburt betrifft,
ist man sich nach wie vor unsicher [427 oder 428, das ist strittig und
unbeachtlich], doch wie auch immer, fest steht, dass Platon Aristokrat
war und Zeit seines Lebens dem hohen Stand seiner Herkunft nicht
zuletzt über sein Denken auf eine gewisse - zumindest
förmliche - Weise verbunden blieb. Denn der
Philosophenfürst, als den ihn viele erkennen, war Hierarch,
und sein Sinnieren unterstrich den Herrschaftsanspruch einer
Aristokratie, welche jedoch in ihrer idealen Entworfenheit als
Philosophenherrschaft [eine elitäre Vision von Geistesadel
sozusagen] nicht allzu viel mit der realen Verfasstheit irdischen
Geburtsadels gleich hatte.
Weil eben wohlgeboren und dank seiner Herkunft aus begütertem
Hause mit hoher Bildung und kultiviertem Gehaben versehen, schien dem
Jüngling ein Werdegang als leitender Beamter im Staatsdienst
sowie eine politische Laufbahn vorgezeichnet, wären da nicht
gar unglückliche Zeitumstände gewesen, die ihm sein
herkömmliches Lebensglück verdarben. Athen hatte
sich, nicht zuletzt unter der Führung des charismatischen
Staatsmannes Perikles,
zur beispielgebenden Demokratie entwickelt, und
wo das Volk herrscht, dort zählt das Privileg einer hohen
Geburt vorweg nicht übermäßig viel. Dazu
kam der Krieg, der "Weltkrieg" des antiken Griechenlands, mit fatalen
Folgen für den jungen Mann. Seit 431 v. Chr. tobte nun schon
der "Peloponnesische Krieg" gegen das martialische Sparta, welches, zur
See zuerst zwar noch schwach, zu Lande jedoch von vornherein
übermächtig, ein unbezwingbarer Gegner war, dessen
militärische Stärke jedoch umgekehrt lange Zeit nicht
ausreichte um die attische Demokratie zu
überwältigen. Als die Heimatstadt Platons im Jahre
404 v. Chr. dann doch vor den vereinten Kräften Spartas,
Thebens und Korinths kapitulieren musste, hatte dies die wüste
Tyrannei einer Clique machtbesessener Usurpatoren von Spartas Gnaden
zur Konsequenz; eine Tyrannei unter maßgeblicher Beteiligung
des Dichters und Philosophen Kritias (ca. 460 - 403 v. Chr.), eines
Onkels von Platon.
Der attische Freiheitswille wollte sich mit dieser antidemokratischen
Oligarchie adeliger Kollaborateure nicht abfinden und einer zuerst aus
dem Untergrund agierenden, doch dann immer massiver auftretenden
Widerstandsbewegung der Demokraten gelang es schließlich, die
Willkürherrschaft der so genannten "Dreißig
Tyrannen" zu stürzen und in weiterer Folge die spartanischen
Besatzer des Landes zu vertreiben. Kritias büßte
seinen Verrat am Nationalinteresse mit dem Verlust seines Lebens;
für seinen nahen Verwandten Platon verdüsterte sich
zugleich die persönliche Karriereerwartung im neuerdings
wieder demokratisch verfassten Athen.
Der junge Aristokles, von jetzt an Platon genannt, war in die
skrupellose Machtpolitik seiner adeligen Verwandtschaft kaum ernsthaft
verstrickt gewesen. Vielmehr hatte er dem verführerischen
Angebot zur Teilhabe am "Sündenwerk" der Tyrannei widerstanden
und ihre Übeltaten mit scharfen Worten verunglimpft, doch, von
seiner persönlichen Integrität einmal abgesehen, kann
man sich lebhaft ausmalen, wie schlecht es im demokratischen Athen nun
um die Reputation seiner dem Vaterland gegenüber so ungetreuen
Sippe bestellt gewesen sein musste. Was freilich auf ihren
hoffnungsfrohsten Spross nur negativ abfärben konnte. Als
wenig hilfreich erwies sich zudem Platons Naheverhältnis zu
dem bürgerlichen Steinmetz und Philosophen Sokrates, welcher
um 470-399 v. Chr. in Athen lebte und wirkte und im Jahre 399 v. Chr.
von den Demokraten zweier todeswürdiger Vergehen wegen
[Gotteslästerung und Jugendverhetzung] zum Tode verurteilt
wurde. Laut Platon handelte es sich um nichtswürdige
Beschuldigungen, doch stufte man den Einfluss des Unbequemen - aus
welchen tatsächlichen Gründen auch immer - seitens
der neuen Machthaber als verderblich ein. Seine mutige Standhaftigkeit
gegenüber mehr oder weniger nachdrücklichen
Vereinnahmungsversuchen durch die Tyrannen zählte im
Strafverfahren nicht.
Das, wenn auch nur mit knapper Mehrheit verfügte, Todesurteil
gegen den "vielgeliebten älteren Freund Sokrates, den ich
keinen Anstand nehme als den gerechtesten unter seinen Zeitgenossen zu
bezeichnen" [so Platon in seinem "Siebenten Brief"], erfüllte
Platon mit Abscheu und bestärkte ihn in seinem Entschluss,
sich aus "dem samt und sonders verwahrlosten" politischen
Tagesgeschehen der attischen Polis in die Abgeschiedenheit seiner
Akademie nahe dem Hain des Heros Akademos vor den
Toren von Athen zurückzuziehen, welche eine von ihm
gegründete Philosophenschule war, wo man ein permanentes
philosophisches Gespräch pflegte. Diese Akademie Platons wurde
übrigens zum Ur- und Leitbild allen akademischen Strebens und
sollte bis 529 nach Christi Geburt fortbestehen, als sie zur Zeit der
Regentschaft des christlichen Kaisers Justinian I. als Relikt
heidnischen Denkens verboten und geschlossen wurde.
Obgleich der Nachwelt ein autobiografisches Dokument zu Platons Leben
vorliegt, der "Siebente Brief", ist über das menschliche Tun
und Lassen des Philosophen nicht allzu viel
bekannt. Und selbst dann, wenn man mehr darüber
wüsste, gäbe es mutmaßlich nicht
übermäßig viel zu berichten. Er hatte wenig
äußerliches Privatleben, ist anzunehmen; seine Vita
war kontemplativ mit einem Zug zur orphischen Askese. So lässt
es sich vermuten. Als Jüngling soll er gar respektable
Gedichte verfasst haben, doch warf er diese aus Unzufriedenheit mit dem
eigenen Schaffen in die Flammen und sprach dazu: "Eile, Hephaist, zum
Platon herbei, der deiner bedürftig ist!"
Wie oben schon ausgeführt zog sich Platon im besten
Mannesalter aus dem dröhnenden Weltgetriebe in das stille
Vernunftgehäuse seiner Akademie zurück. Im
Unterschied zu seinem großen Vorbild Sokrates, der den
zwischenmenschlichen Kontakt auf den Marktplätzen [im
anregenden Trubel der antiken AGORA] gesucht und seine Lehre vom Guten
(Agathón) und von der Tugend (Areté) an diesen
Orten materiellen und geistigen Austausches dialogisch gelebt hatte,
frönte Platon einer verinnerlichten Lebensart, die sich in
ihrem Bemühen um Abgrenzung gegenüber den Dingen und
den Menschen (Autarkie) eine eigenwillige literarische Gestalt verlieh.
Platons Lust an der schriftlichen Niederlegung seiner Gedanken
bezeichnet in einem gewissen Sinne einen Stilbruch zu einer Praxis
antiker Philosophie, die sich bis dahin nicht derart
ausgeprägt literarisch dargestellt hatte. Die Nachwelt
verdankt dieser Schreiblust sodann das erste umfassend in Schriftform
vorliegende Werk der abendländischen Philosophiegeschichte,
obgleich dazu angemerkt werden muss, dass auch Platons eigentliche
Philosophie vermutlich nicht niedergeschrieben ist, denn wahre und vor
allem lebendige Philosophie lässt sich nicht in
überzeitlich gültige Wortgebilde gießen,
wie es Platon selbst nur allzu unmissverständlich zum Ausdruck
brachte. Der schriftlichen Vermittlung komplexer Gedanken misstraute
Platon dezidiert und bevorzugte deswegen zur Auseinandersetzung seiner
tiefgründigsten Überlegungen sowohl die
Vortragstätigkeit als auch den intellektuellen Diskurs in
seiner Akademie. Insofern ist immer dann Vorsicht geboten, wenn es wo
als Gepflogenheit geübt wird, mit Bezug auf Platons
Niederschriften voreilig von "seiner Philosophie" zu sprechen. Denn wir
müssen befürchten, dass uns ihr ganzer Reichtum
über das Schriftwerk ihres Schöpfers nur
fragmentarisch überliefert ist und wir folglich auch nur eine
Ahnung dessen haben können, was Platon insgesamt gemeint haben
mag.
Trotz seiner Verkrochenheit darf es als sicher angenommen werden, dass
Platon mehrere Reisen zum Zwecke der Fortbildung, aber auch aus
Gründen der Nachfrage nach seiner philosophischen Kompetenz
unternommen hat. Bildungsreisen führten den Philosophen nach
Kleinasien, wo, am Rande zum Orient und in schöpferischer
Auseinandersetzung mit dessen Ideenwelt, in griechischen
Niederlassungen eine griechische Kultur von faszinierender
Ausdruckskraft erblüht war. Des Weiteren führte den
Athener seine Reisetätigkeit nach Ägypten, dem Mekka
der Intellektuellen und Kulturinteressierten jener Zeit. Und da sich
Platons Ruhm als Staatstheoretiker schon zu Lebzeiten über die
ganze griechische Welt verbreitet hatte, wurde er zweimal in den
mächtigen Stadtstaat Syrakus auf Sizilien berufen, und zwar
von den Tyrannen Dionysios I. und Dionysios II., jeweils ausgestattet
mit dem Auftrage, seine Vorstellung einer idealen Sittenordnung auf
Basis einer rigiden Staatsverfassung hier so denn in die Wirklichkeit
umzusetzen. Der Versuch, seine Staatsutopie über die Formung
eines realen Staatsgebildes wirklich werden zu lassen, endete jedoch
allemal desaströs. Platon fand auf Sizilien einen
völlig verrotteten Staat vor, in dem, so berichtet uns der
schockierte Philosoph, alle Bürger nur ihren Gelüsten
nacheiferten, ihre Zeit mit Trinkgelagen und Schmausereien
verschwendeten und mit wahrem Feuereifer ihre Liebesgenüsse
betrieben, ansonsten jedoch gegeneinander intrigierten und sich
gegenüber der Idee einer auf Gleichheit vor dem Gesetz
beruhenden Verfassung taub stellten. Eine Legende berichtet sodann,
dass Platon auf der Rückreise von seinem ersten entmutigenden
Aufenthalt in Syrakus zu allem Überdruss auch noch in die
Hände von Piraten geriet, die ihn als Sklaven handelten, wobei
ihn zum Glück ein Freund erkannte, ihn erwarb und wieder in
die Freiheit entließ.
Platons Lehre
Mit Platon findet die Philosophie zu sich und beansprucht für
sich, die ultimative Lebensart zu sein. Nämlich mehr als das
zu sein, was Kunst und Religion je sein können, welche, die
Kunst, als Schein des Scheins ein Weg zur Lüge ist, und
welche, die Religion, als bloßer Mythos eine zwar erbauliche,
doch nicht vernunftgemäße Dichtung schattenhafter
Hinterwelten ist.
Platons Philosophie ruht fundamental auf seiner Ideenlehre, deren
substanzieller Gehalt ein angenommenes Reich immaterieller, ewiger und
unveränderlicher Wesenheiten ist, die Ideen, welche
unabhängig von unserer Kenntnisnahme oder Gedankenwelt
existieren. Bei diesen Ideen handelt es sich um Urbilder der
Wirklichkeit, nach denen die Gegenstände der sichtbaren Welt
geformt sind. In diesem Zusammenhang spricht man geläufig von
der so genannten Zwei-Welten-Theorie, denn dem Reich
unveränderlicher Ideen, welches nur der reinen Vernunft bar
aller Anschauung zugänglich ist, ist ein Reich
veränderlicher Gegenstände und Lebewesen [ethisch wie
ontologisch] untergeordnet, welche über die Sinne wahrnehmbar
sind und uns alltagsweltlich als Lebenswirklichkeit vertraut sind.
Tatsächlich handelt es sich bei diesen sinnlich erfahrbaren
Gegenständen und Lebewesen, die als Gesamtheit unser Trugbild
von der Wirklichkeit bilden, nur um Abbilder der Ideen. Die Welt der
Ideen ist eigentlich wirklich und das dingliche Dasein nur die Kopie
des eigentlich Wirklichen. Die ursprünglich ungeformte
materielle Welt ist zwar nach dem Vorbild der Ideen als Kosmos
modelliert, also als eine natürliche Harmonie, doch da bei der
Materie die Unvernunft als Mitursache der Welt zur Wirkung gelangt,
bleibt die Abbildung der Ideen im Stofflichen unvollkommen und neigt im
Prozess des irdischen Werdens zum Verfall. Das in der Welt Seiende ist
somit wesenhaft Ausdruck von Dekadenz. Alle Veränderung muss
folglich schädlich für die Harmonie des Seienden
sein, da vom planvoll angelegten Vorbild (Teleologie) des Weltbildners
[den Platon den "Demiurgen" nennt] abweichend.
Platons objektiver Idealismus beschreibt nicht nur eine das Dasein
bestimmende Überwelt der Beharrlichkeiten, sondern zielt in
Ableitung davon in seiner politischen Prinzipienlehre auf eine
grundsätzliche Unveränderlichkeit ab und wertet
diesen als harmonisches Ordnungsprinzip gedachten Wert- und
Strukturkonservativismus im ethischen Sinne als gut. Die
Veränderlichkeit und Hinfälligkeit alles Irdischen,
die ebenso flüchtige wie unbeständige Natur aller
Materie, ist ihm ein Ärgernis. Veränderung ganz
generell, wie denn auch sozialer Fortschritt, welcher soziale
Strukturen bewegt und soziale Symmetrien verschiebt, sind dem
griechischen Philosophen in der Tat Kennzeichen von Verfall und
Entfernung von einer ursprünglichen Wohlgefügtheit
der Ordnung des Lebenden. "Die Veränderung ist die schwerste
aller Gefahren, denen ein Ding ausgesetzt ist", schreibt Platon in "Die
Gesetze", jedoch zugleich: "ausgenommen die Veränderung des
Üblen." Womit sich der Exegese zu Platons grundlegendem
Konservativismus freilich ein weites Feld möglicher
Interpretationen auftut.
Eine Wohlgefügtheit, die nun in der "Idee des Guten" begründet
ist, welche als Wurzelgrund aller Ideen der Welt Ordnung, Maß
und Einheit gibt und selbst als höchste,
gewissermaßen göttliche Instanz nicht hinterfragbar
ist, sondern, über alles an Kraft und Erhabenheit
hinausragend, einfach ist.
Dass der Mensch ohne einen gelebten Begriff der "Idee des Guten" nicht
viel mehr als eine viehische Kreatur ist, führt Platon in der
"Politeia" mittels seines "Sonnengleichnisses" aus. Der Mensch ist
demnach wesenhaft Moralist. Ohne einer Erkenntnis der "Idee des Guten",
ist dem Einzelmenschen eine Teilhabe an der "Welt der Ideen"
verunmöglicht, denn sie wird ihm geistig anschaulich einzig
über seine Liebe zum wahren Sein. Dieses liebende Streben nach
Wahrheit nennt Platon den "Eros", womit die ungestillte Sehnsucht sich
der "Schau der Ideen" zu widmen bezeichnet ist, was als
Wiedererinnerung (Anámnesis) zu verstehen ist, denn die
wiedergeborene Seele hat die Ideen in der Präexistenz bereits
geschaut, aber beim Eintritt in den Körper vergessen. Es ist
sozusagen das überzeitlich Göttliche im Menschen,
welchem vermittels der kontemplativen Tätigkeit des Schauens
das überweltlich Göttliche einsichtig wird. Man
beachte und verkenne nun nicht: bei der Erkenntnis der Ideenwelt geht
es um eine liebende Wesensschau und nicht um eine analytische
Erforschung von Wirklichkeit; etwa gar unter Anwendung
wissenschaftlicher Methodik.
Über die Ideenlehre mit ihrer höchsten "Idee des
Guten" charakterisiert sich Platon nicht nur als Erkenntnistheoretiker
und Moralist, sondern sie bezeichnet ihn überdies als
metaphysischen Dualisten mit einem Hang zur Mystik. Spätestens
mit seiner Lehre von der Prä- und Postexistenz der Seele
[Platons Anthropologie unterscheidet scharf zwischen Leib und Seele]
durchschweift seine Philosophie das Grenzterrain zu den theologischen
Wissenschaften. Im "Phaidon" zeichnet Platon die Seele als dem
Göttlichen, Unsterblichen, Vernünftigen,
Unauflöslichen am ähnlichsten. Sie entstammt der
Sphäre des "Nous", des Göttlichen,
Vernünftigen und inkarniert infolge der sinnlichen Begierde.
Der stoffliche Leib ist ihr wie ein Kerker und das biologische Dasein
ist ihr gleich einer Krankheit. Ein Grab ist der Körper der
Seele und es muss daher die Rückkehr der Seele in den
göttlichen Urgrund Ziel eines jeden irdischen Lebenswandels
sein. Was jedoch nicht über eine religiöse
Lebenspraxis, sondern über eine Regentschaft der Vernunft zu
erreichen ist. Ganz ähnlich der klassischen chinesischen
Philosophie postuliert Platon hiermit die philosophische
Existenzweise als höchste Lebensform, welche Spielarten
religiöser Volksfrömmigkeit sämtlich zu
übersteigen und aufzuheben trachtet. Der Tempel der
Priesterschaft wird durch die Akademie der Philosophen ersetzt, was
spätere Generationen argwöhnisch als heidnischen
Symbolismus betrachteten und in Momenten kleinlicher Unduldsamkeit mit
Verboten belegten.
Platons Mystik der unsterblichen Seele verweist unmittelbar auf
pythagoreische und orphisch kultische Quellen, doch ist auch die
Ähnlichkeit mit asiatischer Spiritualität und deren
philosophischer Gestalt nur zu frappant, wenn auch nicht in jedem Fall
zwingend. Ethisch ist allein die geistige Welt erstrebenswert, der
Weise versucht der leiblich-sinnlichen Weltverfangenheit zu entrinnen
und wird nach seinem Tod für seine vernünftige
Lebensweise zur Belohnung in das "Reich des rein Geistigen"
aufgenommen. Hingegen die der Begierde verhaftet gebliebene Seele nach
einer Phase jenseitsweltlicher Buße mit einem neuerlichen
Lebenslos in das "Reich der Gegenstände und Lebewesen"
zurückgeworfen wird.
Platons Schrifttum
Obgleich Platon an der Möglichkeit, wirkliche Philosophie
schriftlich zu vermitteln, ernstlich zweifelte, hat er der Nachwelt
doch ein, dem bloßen Umfange schon und dem gedanklichen
Reichtume nach bemessen, gewaltiges Schriftwerk hinterlassen, welches
das philosophische Denken bis in unsere Tage hinein inspiriert und
dessen Wirkungsgeschichte nicht hoch genug eingeschätzt werden
darf. Wenn der englische Philosoph Alfred North Whitehead einst meinte,
dass alle abendländische Philosophie seit Platon nur aus
"Fußnoten zu Platon" bestehe, war das nach Meinung mancher
Kritiker des Briten vielleicht etwas zu hoch gegriffen, doch scheint
bei aller Mäßigung außer Zweifel zu
stehen, dass Platon uns über sein philosophisches
Vermächtnis eine Überfülle von
wirkmächtigen Bildern - so genannten Metaphern - hinterlassen
hat, vom "Licht der Erkenntnis" über den Begriff des "Eros"
bis hin zur "platonischen Liebe", welche, bis in das
Alltagsverständnis hinein, unser abendländisches
Denken nachhaltig prägen.
Inhalt und Form sind bei Platon in gleichermaßen dramatischer
wie kunstsinniger Weise ineinander verflochten. Die Dialogform ist
seine bevorzugte Darstellungsweise, zumal sich derart am ehesten
vermitteln lässt, dass es sich bei seiner Philosophie um den
Ausdruck einer bewussten Lebenspraxis handelt, welche bei aller
Entrücktheit doch im Hier und Jetzt des leiblich-sinnlichen
Daseins wurzelt und in das soziale Miteinander der Menschen eingebunden
ist. Karl Jaspers fand dazu Worte von nicht zu überbietender
Empathie: "Die Gesamtheit dieser Dialoge macht uns vertraut mit einer
versunkenen Welt außerordentlicher Menschen in ihrer
geistigen Spontaneität. Wir sehen die vornehme Geselligkeit
Athens, ihre Freiheit, ihre Urbanität und ihre Bosheit. Wir
erleben den Reichtum der Stimmungen, den Ernst in der Heiterkeit, das
Verschwinden des Lastenden und Beengenden."
Dialogik meint im Grunde genommen ein miteinander Sprechen, wobei
Thesen ausgetauscht und gegebenenfalls bestärkt oder widerlegt
werden. Und Dialogik meint des Weiteren genauso ein einander
Spötteln und Schelten, sowie ein Ehren und Verhöhnen,
ein Tadeln und ein Loben und nicht einfach nur ein zur
Erkenntnisgewinnung erdachtes Verfahren, das aufgeworfene
Problemstellungen in sachlicher Weise über das dialogische
Prinzip des stufenweisen Auflösens von Widersprüchen
(Dialektik) einer prozessualen Klärung zuführt. Nicht
zuletzt wird die Dialogik mittels des Kunstgriffs "abgründiger
Ironie" der "Sorge um das eigentlich Wahre" gerecht. Platons Lehre
bleibt solcherart in allen ihren Äußerungen zutiefst
humanistisch, immerzu tunlichst darum bemüht, eine jegliche
Erstarrung von Meinungen zu einer wie auch immer gearteten Dogmatik zu
vermeiden. Erst in seinem Spätwerk tritt das lebendige
Gestaltungsmuster der Dialogform zusehends hinter ein Monologisieren
von Philosophie zurück.
In den meisten der als authentisch geltenden Dialoge (zirka 25 an der
Zahl) nimmt Sokrates die Rolle des Gesprächsleiters wahr und
erörtert gemeinsam mit seinen jeweiligen
Gesprächspartnern unter Anderem Fragen nach der Tugend, der
Erkenntnis, der Natur und der Politik. Es wäre ebenso
unvermessen wie langweilend, jetzt in einer Anwandlung derben Trotzes
das Gesamtwerk Platons den Titeln nach auflisten zu wollen, doch sei
bei aller notwendigen Maßhaltung eine kommentierte
Kurzfassung seines schriftlichen Gesamtschaffens zum Zwecke einer
überblickenden Orientierung dargeboten. Bei chronologischer
Anordnung lassen sich [nach Überweg] vier Schaffensperioden
anführen:
Jugend- und Frühschriften: Es dominiert die
Frage nach der Tugend und der Ethik und deren Lehrbarkeit. Platon
verfasst das erste Buch zu "Der Staat", zudem "Kriton", "Laches",
"Apologie", "Ion", "Protagoras", "Lysis", "Charmides" und "Euthyphron".
Übergangsperiode: In diese Phase fallen
temperamentvolle Auseinandersetzungen mit der Sophistik. Platon bezieht
selbst orphisch-pythagoreische Standpunkte. Die berühmten
Dialoge "Gorgias" und "Hippias" stammen aus dieser Zeit; des Weiteren:
"Menon", "Euthydemos", "Kratylos" und "Menexenos".
Reife Mannesjahre: Die Ideenlehre kristallisiert
sich heraus und wird grundlegend für die Erkenntnistheorie,
Metaphysik, Seelenlehre, Ethik, Politik und Ästhetik. In
dieser Zeit entstehen Platons klassische Schriften, welche da sind "Das
Gastmahl"
("Symposion"), "Phaidon", die Bücher zwei bis zehn zu "Der
Staat" ("Politeia") und "Phaidros". Diesmal ist die
Aufzählung mit der Nennung von nur vier Werken
erschöpfend ausgeführt. Doch was für Werke!
In nur wenigen Jahren entfaltet sich ein Geistesleben von
unvergleichlicher Pracht.
Altersjahre: Die metaphysische Bedeutung der
Ideenlehre tritt gegenüber der logischen und
erkenntnistheoretischen zurück. Es entstehen der "Parmenides",
"Sophistes", "Kritias" (benannt nach dem tyrannischen Onkel),
"Theaitet", "Politikos", "Philebos", "Timaios", "Epinomis" und als
herausragendes Spätwerk "Die Gesetze" ("Nomoi"), mit dem
Platon vom Bild der idealen Philosophenherrschaft abrückt,
stattdessen das Gemeinschaftsleben über Gesetze regelt, welche
dem Bürger dem Sinn nach einsichtig sein sollten.
Es ist nicht zu leugnen, dass Platon sein langes Leben wahrlich
für schöpferisches Tun zu nutzen wusste. Aus der
Fülle platonischer Schriften sind ihrer Popularität
wegen "Das Gastmahl" ("Symposion") und "Der Staat"
(„Politeia“) herauszugreifen, was eine eingehendere
Würdigung dieser Texte rechtfertigt.
In "Das Gastmahl" oder (je nach Übersetzung) "Das Gelage"
führt Platon die "Idee des Eros" als Streben nach der
Schönheit höherer Erkenntnis aus und thematisiert die
Ausgeburt des Geistig-Schönen als ursprünglich der
leiblich-sinnlichen Sphäre entlehnt. Das Sinnliche ist das
Erweckende, der Anfang und Ursprung (Arche) des aufsteigenden Weges zu
den Ideen: "Wenn aber einer, emporsteigend von diesen irdischen
Erscheinungen hienieden auf dem richtigen Wege der Knabenliebe, jenes
Urschöne selbst zuerst auftauchen sieht, dann ist er in
unmittelbarer Nähe des Zieles."
Nicht zuletzt deswegen, weil es sich bei Platons "Symposion" um sein
sinnenfreudigstes und dann eben um ein in mehrfacher Hinsicht sowohl
bezauberndes als auch amüsantes Buch handelt, voll des
abgründigen Humors und der gedanklichen Tiefe, mag die
Lektüre einer jeden geistig empfänglichen Person ein
unvergessliches Erlebnis von bleibender Wirkung sein. Der Eros als
Streben nach dem Schönen spricht aus jeder Zeile dieser
philosophischen Dichtung von unvergleichlicher Anmut.
Als der Klassiker antiker Philosophie schlechthin
muss Platons "Politeia" erachtet werden, welche in allen ihren Facetten
nichts Geringeres als eine wahrhaftige Ode an die Tugend der
Gerechtigkeit darstellt. In "Der Staat" entfaltet sich Platons Denken
zu titanischer Erhabenheit und erwuchs solcherart dermaleinst zu
epochaler Mächtigkeit sondergleichen. Mit diesem Buch
initiiert der Grieche die "Wissenschaft von der Politik", welche bis in
unsere Tage hinein zu den Königsdisziplinen
universitärer Lehre zählt. Über den
visionären Gehalt, der sich in der "Politeia" zur Geltung
bringt, begründet Platon zugleich die utopische
Gesellschaftstheorie, obgleich das wohl eher ohne sein Zutun geschieht,
sondern sich vielmehr über die Rezeption seines Werkes
vollzieht. Platon bleibt in seiner Schrift nämlich
erkenntnistheoretisch am Boden der Tatsachen und enthält sich
der Verlockung, zur wortreichen Ausmalung wüster Fantasien
abzuheben. Dazu später noch mehr. Wie also auch immer sein
wirklicher Beitrag zur utopischen Theorie ausfällt, Platon
gilt nach dem Dafürhalten vieler nach wie vor als
Schöpfer einer Literaturgattung von betont visionären
Gehalts, welche in der Abfolge weiterer Autoren (Thomas
Morus,
"Utopia"), wenn schon nicht das Antlitz dieser Erde verändern,
so doch das Denken in ihren Gefilden erneuern wird.
Man könnte jetzt meinen, vermittels seiner "Politeia"
führe Platon vorwiegend die ordnungspolitischen Konsequenzen
seiner Ideenlehre aus. Was auch nicht unrichtig ist, doch noch
richtiger ist es mit Kuhn zu meinen, dass Platon hiermit
primär bestrebt ist, das "Menschlich-Gute" und das
"Politisch-Gute" zusammenzubringen. Von seiner Ideenlehre her kommend
entwirft Platon in diesem Sinne das Modell eines [noch abwesenden]
Idealstaates, dessen erster wahrer Bürger Sokrates ist,
welcher in allen zehn Büchern der "Politeia" dann auch das
Wort führt. Obwohl es sich bei Platons Lehre vom
bestmöglichen Staat gewissermaßen um utopisches
Schriftgut handelt, nämlich um die Vision einer Staatsutopie,
hinterlassen seine Ausführungen beim Leser doch den Eindruck
einer grundvernünftigen und keineswegs wirren oder gar irren
Sicht der Dinge. So wird zum Beispiel die Verursachung menschlicher
Staatenbildung nicht auf irgendwelche dunklen Triebe
zurückgeführt, sondern auf den einleuchtenden
Umstand, dass der einzelne Mensch als Mängelwesen der Hilfe
und des Schutzes durch die Anderen bedarf und dass es sich zudem unter
arbeitsteiligen Verhältnissen viel bequemer und effizienter
lebt. Von der genannten Arbeitsteiligkeit schließt Platon
dann auf sein ständisches Modell einer wohl gefügten
staatlichen Gesellschaftsordnung, die sich in den Lehrstand, den
Wehrstand und den Nährstand untergliedert. Bei dem Lehrstand
handelt es sich um den Stand der Philosophen, denen Platon
vermöge ihrer intellektuellen Befähigung, Bildung und
charakterlichen Eignung am ehesten zutraut, eine staatlich geordnete
Gemeinschaft von Bürgern fürsorglich zu steuern. Ergo
sind die Philosophen dazu berufen, den herrschenden Stand zu bilden
oder - alternativ dazu - die Politiker dazu angehalten, als "Inhaber
der Regierungsgewalt in den Staaten infolge einer göttlichen
Fügung sich zur ernstlichen Beschäftigung mit der
echten Philosophie zu entschließen". ["Siebenter Brief"] Ehe
dies nicht geschehen ist, wird die Mehrheit nicht von ihrem Leiden am
öffentlichen Leben erlöst werden, konstatiert Platon.
Dem Modell der Volksherrschaft erteilt Platon eine entschiedene Abfuhr,
da das einfache Volk verführbar und in seinem
Freiheitsanspruch unvernünftig, da maßlos ist und
sich in seinem sittlichen Ausdruck oft bar jeder Manneszucht darstellt
und in seiner politischen Willensbekundung kaum einmal verantwortlich
handelt, ergo mehr oder weniger Quelle des eigenen Elends ist und
solcherart die Demokratie der schlechtesten Regierungsform, der
Tyrannis, notwendig Vorschub leistet.
Auch die Oligarchie ist als Herrschaft des Geldadels eine üble
Regierungsform, denn "Tugend und Reichtum verhalten sich zueinander,
als lägen sie je in einer Waagschale, deren eine sinkt, wenn
sich die andere hebt."
Platon spricht nach eingehender Sondierung sämtlicher
Verfassungsmodelle dem Verfassungsmodell der Aristokratie das Wort,
womit er jedoch in der Tat eine Herrschaft der wirklich, weil
nachweislich Besten meint, nämlich die oft zitierte Herrschaft
der Philosophen. Bei diesen Philosophen handelt es sich um die
Angehörigen eines besonders vernunftbegabten Standes, des
schon genannten Lehrstandes, die sich im Laufe ihrer
Persönlichkeitsentwicklung in einem strengen Auslese- und
Vorbereitungsverfahren zu bewehren haben, bis es ihnen dann im Alter
von fünfzig Jahren gestattet ist, in das Kollektiv
ausgewählter Philosophenkönige aufzurücken,
welche unumschränkt, doch zweckgebunden herrschen, zumal ihr
Leben sich als asketische Knechtschaft im Dienste der "Regentschaft
reiner Vernunft" vollzieht. Eine brüderliche Aristokratie,
verstanden als Herrschaft der Besten, gedacht zum Besten aller
Bürger eines Staates.
Platons Entwurf einer gerechten Staatsverfassung zielt ab auf eine
totale Herrschaft der reinen Vernunft unter Führung
"berufsmäßiger Vertreter der echten und wahren
Philosophie". Und insofern scheint es durchaus legitim, vom
Bürger eine totale Einfügung in diesen gewiss
totalitären, jedoch ausgesprochen tugendsamen Staat zu
verlangen, der die Wirklichkeit der "Idee des Guten" in irdischer
Gestalt verkörpert und vermittels seiner ethischen Bestimmung
den Schutzbefohlenen zu seinem Heil geleitet, ihn vor Übeltat
bewahrt. Die Unterordnung unter den derart geadelten Staatswillen ist
in diesem besonders gelagerten Fall somit weder als Ausdruck einer
autokratischen Anmaßung noch als versuchte Vergewaltigung
individueller Freiheits- und Grundrechte zu verkennen, sondern sie ist
richtig als Verhaltensfolge einer verständigen Einsicht in die
Notwendigkeit sozialer Konformität zu begreifen. Denn der
Staat ist das Schicksal des einzelnen Individuums, das als
Mängelwesen nicht für sich alleine existieren kann
und deswegen einer Sittenordnung bedarf, in welcher die
Kardinaltugenden Weisheit, Tapferkeit, Mäßigung und
Gerechtigkeit das Verhalten der Menschen im Umgang miteinander
bestimmen. Hinsichtlich dieser Tugenden eine gewisse
Uniformität bei den Umgangsformen vorauszusetzen, kann kein
Übelstand sein, denn wer würde schon ernsthaft
behaupten wollen, ein gleichförmig tugendhaftes Staatsvolk sei
ein Volk von schlechter Gesittung? Und welcher Wagemutige im Geiste
würde sich erdreisten, das wundersame Argument in unsere
Diskussion der Staatstheorie einzubringen, es sei plötzlich
eine Tugend, gegen den allgemein wünschenswerten Sittenkodex
um eines verdrehten Begriffs individueller Freiheit wegen zu
verstoßen? In der Tat sind humanere Existenzbedingungen kaum
denkbar als jene, die nach Maßgabe absoluter Vernunft
vonstatten gehen. Wer sollte sie nicht wollen? Wer sollte sie
umstürzen wollen? Platons Lehre vom besten Staat sollte uns
eine ernsthafte Erwägung ihrer Machbarkeit wert sein.
Schlussbemerkungen zu Platons Staatsutopie
Im Zentrum von Platons Denken finden sich die "Idee des Guten" und - dann vor allem über die Politeia ausgeführt - die "Idee der Gerechtigkeit". Zum Zwecke des Erwerbs einer Ahnung von irdischer Gerechtigkeit im Geflecht menschlichen Lebensgefüges, aber auch um den Blick auf die dem modernen Menschen einzig gemäße Regierungsform - die Demokratie - zu schärfen und kritikfähig zu halten, dafür sollte nicht zuletzt Platons "Politeia" gewissermaßen als staatsbürgerliche Bildungslektüre gehandelt und keineswegs vorschnell als ebenso unzeitgemäße wie utopistische Phantasterei fehlinterpretiert werden. Es darf nun in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, dass Platons Denken dem Mikrokosmos der griechischen Polis entstammt, ergo aus den Zeitumständen zu verstehen ist, und deswegen natürlich auch die Politeia nicht unbedingt ein in die Jetztzeit transferierbares Gesellschaftsmodell offeriert. Und schlussendlich sollten autoritäre Tendenzen in Platons utopischer Theorie in einer kritischen Würdigung seines philosophischen Vermächtnisses auch weder ausgeblendet noch verharmlost oder dämonisiert werden, sondern in ihrer besonderen Originalität erkannt und auf ihren Nutzen für das Leben hin verprobt werden. Das Postulat der absoluten Regentschaft von Vernunft - und nichts anderes meint die geforderte Philosophenherrschaft [zumindest bei wohlmeinender Würdigung] - zieht sich von Platon her kommend wie ein roter Faden durch die Geistesgeschichte der Menschheit und findet sich später sowohl bei Marx in der Idee einer vernünftig regulierten sozialistischen Gesellschaftsordnung [geleitet von einer sozialistischen Avantgarde] als auch in Sigmund Freuds Terminologie zum Individuationsprozess: "Wo ES ist, soll ICH werden".
Der bleibende Wert von Platons Gesellschaftslehre besteht dann wohl vor allem darin, uns aus der - sich gewiss archaisch anmutenden - Position eines konsequent gemeinten Begriffspaars von Anstand und Tugend Anstöße für die konstruktive Kritik einer als unanzweifelbar hingenommenen, weil nur allzu vertrauten Lebenswirklichkeit zu liefern. Und dies insbesondere auch im Sinne einer Reflexion von politischer Herrschaft, die, deklariert sie sich tückisch als Verkörperung des Gemeinwillens, vom gutgläubigen Bürger nur allzu oft vorschnell als Inkarnation eines Willens zum Guten verkannt wird. Von einer intensiveren Befassung mit Platons Staatstheorie wäre also keineswegs abzuraten, und das nicht nur deswegen, weil im Lichte von Platons idealistischer Staatslehre betrachtet die heute gängigen und dermaßen faktischen Regierungsformen - nämlich in Vergleich zu Platons Staatsideal gesetzt - sämtlich nicht nur als Verfallsformen zu werten sind, sondern vielmehr weil Demokratie zu unser aller Leidwesen tatsächlich mit beschämender Regelmäßigkeit als bloßes Abbild ihrer ideellen Existenz inszeniert wird. Dieser Befund einer mangelhaften und vom Ideal entfremdeten Wirklichkeit sollte jetzt zwar keinen legitimen Anlass zur Panikmache geben, man weiß um die Höhe von Platons Anspruchsdenken und man weiß um die wesenhafte Unvollkommenheit alles Menschlichen, doch lässt sich eben kaum abstreiten, dass in so gut wie keinem Land dieser Erde die Staatsverfassung auf eine Herrschaft der Besten abzielt, welche vermöge ihrer persönlichen Integrität und geistigen Eignung zur Ausübung hoher Regierungsämter berufen sind. Stattdessen rekrutieren sich Systemrepräsentanten nicht nur ausnahmsweise über einen Mechanismus der Negativauslese, welcher de facto sicherstellt, dass die sensible und mitmenschlich agierende Person bei Zeiten resigniert und ausgesondert wird, hingegen der rücksichtslos und machtbewusst taktierende Politkarrierist für seine Untugend mit der Erlangung hoher Positionen in der gesellschaftlichen Machthierarchie belohnt wird. Und mag das jetzt vielleicht zu krass gesehen sein, so scheint bei aller Lebenserfahrung es doch um die Chancen des Letzteren besser bestellt zu sein als um die des Ersteren. Ein Unrechtsverhältnis, dessen Umkehrung betrieben werden sollte.
Weiters ist zu konstatieren: Tendenzen zur Bildung von Oligarchien (Geldherrschaft, Kapitalismus) sind im Zeitalter eines global auftretenden Neokonservativismus wirtschaftsliberalistischer Prägung allgegenwärtig und, da neuerdings ideologisch opportun, in epidemischer Ausbreitung begriffen. Wogegen sich da und dort Widerstand regt, womit dem Grunde nach Konflikte zwischen konkurrierenden Lebensmodellen mit Absolutheitsanspruch gemeint sind. Platon hat diese Konfliktfigur eines Kampfs zwischen unterschiedlichen Auffassungen von sinnstiftender Lebenswirklichkeit thematisiert, wenn er beispielsweise in seiner Kritik der Oligarchie die Unvereinbarkeit von Tugend und Reichtum zur Sprache bringt. [Orientierung an gelebten Wertschätzungen versus Orientierung an Profit und Ökonomie.] Des weiteren reüssierten und reüssieren in nicht so wenigen der so genannten Demokratien der westlichen Hemisphäre [Politologen sprechen zuweilen lieber von Elitenkonkurrenz], aber genauso in peripher gelegenen Entwicklungsdemokratien, zuletzt Volksverhetzer mit ihren billigen Parolen und scharten und scharen immer noch plebejische Gefolgschaften hinter sich, die mit dröhnendem Gebrüll und derber Gestik nach dem starken Mann, nach dem Tyrannen verlangten und dies in fordernder Weise fortgesetzt so tun. Demokratie erweist sich immer wieder als missbrauchanfällig und gewährt selbst noch ihren Feinden die Chance, demokratische Lebensverhältnisse zu destruieren. Und ist denn nicht auch einem Adolf Hitler dieses Bild des Tyrannen gemäß, welchen eine von sich selbst frustrierte Demokratie an die Hebel staatlicher Allmacht trägt? Nichts in der Demokratie abseits von politischer Bildung und Aufklärung zur staatsbürgerlichen Mündigkeit gibt es, das sie gegen einen allezeit möglichen Einbruch der Barbarei ansonsten immunisieren könnte.
Es ist leider modisch geworden, dem Philosophen Platon vorzuhalten, ein früher Ideologe des Totalitarismus gewesen zu sein, und das unter Anderem deswegen, weil er sich in seiner Politikwissenschaft so herzhaft um die Schaffung von Einrichtungen zur Absicherung der Gesellschaft gegen Verwilderungstendenzen stark gemacht hat. Was freilich nicht immer mit den Vorstellungen liberaler Aufgeklärtheit zusammengeht, und zwar das allein schon deswegen, weil Platon das Herrschaftsmodell der Aristokratie bevorzugt und dem einfachen, werktätigen Menschen [scheinbar unbehebbarer Charakterschwächen wegen] demokratische Unreife attestiert, womit sich für ihn das Gesellschaftsmodell der Demokratie erledigt hat. Wie weit Platon und seine Kritiker nun wirklich auseinander liegen, wie sehr er Autokrat, sie jedoch Liberaldemokraten sind, das bleibt weitestgehend dahingestellt. Platon ging es um die unbedingte Stabilisierung gerechter Ordnung, doch auch Popper sprach wörtlich: "Im Namen der Toleranz sollten wir daher das Recht beanspruchen, die Intoleranz nicht zu tolerieren." Aber freilich war Platon nicht nur mit eingeschlossen, sondern sogar hauptsächlich gemeint, wenn Karl Popper in seinem Klassiker "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" zu Bedenken gab: "Die Weltverbesserer sind die eigentlichen Feinde der offenen Gesellschaft." Popper gilt schlechthin als der Theoretiker einer liberalen, toleranten Demokratie modernen Typs. Doch befugt ihn dieses Ansehen seiner Person dazu, aus der bequemen Position des aufgeklärten Gegenwartsmenschen den zweieinhalbtausend Jahre alten Staatsgedanken Platons nun gar als faschistoid zu denunzieren? Schlussendlich war es immerhin der viel getadelte Platon, welcher in seiner Lehre vom Verfassungskreislauf mit eindrücklichen Worten vor bedrohlichen Verfallstendenzen warnte, die es, da sowohl faktisch in der Natur menschlichen Gemeinschaftslebens als auch im Seelenleben des Einzelwesens angelegt [z.B. Neigung zu zwischenmenschlicher Niedertracht und Zwist], als selbsttätig wirksam werdende Prozesse zeitgerecht zu erkennen und zu verhindern gilt. Ein Aspekt übrigens, den die Kritik der "Politeia" - zuweilen nicht hingebungsvoll um Fairness bemüht - nach wie vor geflissentlich zu übersehen pflegt.
In der philosophischen Praxis des 20. Jahrhunderts wurde es zusehends der liebe Brauch, Platons breites Antlitz als die hässliche Fratze einer freiheitsfeindlichen Gesittung zu zelebrieren, ungeachtet der Berührungspunkte seiner Lehre beispielsweise mit der Lebenskunde eines antiautoritär gesinnten Wilhelm Reich ("Massenpsychologie des Faschismus"), welcher so wie Platon den Ursprung allen Lebens in einer "Idee des Guten" ("Biologischer Kern") sah und das menschliche - organische - Werden als Degenerationsprozess auslegte, den es umzukehren gilt. Diese Umkehr dann freilich als sexuellen Befreiungsschlag konterkarierend zu Platons nicht zu übersehender Leibfeindlichkeit verstehen wollend, derweilen Platon einst um reiner Spiritualität wegen nach einem mystischen Ausweg auf der Suche gewesen war. Gemeinsam ist Reich und Platon dann allerdings wieder das sittliche Anliegen, den Aufruhr der Masse gegen die postulierte Ordnung des Vernünftigen für immer aus der Welt zu bannen. Allemal ein radikales Ansinnen, weshalb dazu entworfene Problembehebungsmodelle zwangsläufig utopistischen Charakters sein müssen, so sehr auch immer ihr Gehalt nach Wirklichkeit begehrt und an der Wirklichkeit partizipiert.
Platon
hat uns Gegenwärtigen selbst für unsere Zukunft noch
viel zu sagen, und wer mit philosophischer Kritikfähigkeit
begabt ist, wird den antiken Griechen auch hierfür zu
schätzen wissen. Zur Verabschiedung möchte ich meine
Ausführungen zur Person, Lehre und Werk des großen
Philosophen der griechischen Antike mit gar trefflichen Worten eines
Johann Wolfgang Goethe beschließen: "In der Idee leben
heißt das Unmögliche behandeln, als wenn es
möglich wäre. Mit dem Charakter hat es dieselbe
Bewandtnis: treffen beide zusammen, so entstehen Ereignisse,
worüber die Welt vom Erstaunen sich Jahrtausende nicht erholen
kann."
(Bruno Van der Walden; 09/2004)
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zum Thema:
Uwe Neumann: "Platon"
"Platon ist eins von den welthistorischen Individuen, seine Philosophie
eine von den welthistorischen Existenzen, die von ihrer Entstehung an
auf alle folgende Zeiten für die Bildung und Entwicklung des
Geistes den bedeutendsten Einfluss gehabt haben." (Georg
Friedrich
Wilhelm Hegel). Den Schöpfer einer Ideenlehre, den
Staatstheoretiker und Begründer eines eigenen Wertesystems
rückt Uwe Neumann in den Kontext seiner Zeit.
(rororo-Monographie)
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Barbara
Zehnpfennig: "Platon. Zur Einführung"
Die Geschichte der Philosophie lässt sich nur von ihrem Anfang
her begreifen. Wer sich mit Philosophie beschäftigt, kommt an
Platon nicht vorbei. Über die Auslegung seiner Philosophie hat
es heftige Auseinandersetzungen gegeben - was ihre Bedeutung nur
unterstreicht.
Barbara Zehnpfennig, die sich auch als Platon-Übersetzerin
einen Namen gemacht hat, ermöglicht dem Leser einen lebendigen
Mitvollzug der platonischen Philosophie, indem sie je einen Dialog aus
jeder Werkphase erläutert. (Junius)
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