Oskar Panizza (1853-1921): "Die Menschenfabrik" |
"Ich bin kein Künstler,
ich bin Psychopathe, und benutze nur hie und da die künstlerische
Form, um mich zum Ausdruck zu bringen. Ich will nur meine Seele
offenbaren, dieses jammernde Tier, welches nach Hilfe schreit."
"Wir sprechen von 'Geisteskrankheit' wenn wir sehen, dass Jemand gar
keine Raison annehmen will und sich fest auf seinen Instinkt verläßt
- ... aber wir können ja objektiv überhaupt keine Geistesäußerung
abschäzen, wir können von den Geisteszuständen unserer Nebenmenschen
nur sagen: dass sie anders sind als unsere, und dass sie mit dem
sozialen und Kulturleben unsrer Zeit sich nicht vertragen."
(Oskar Panizza)
Leopold Hermann Oskar Panizza wurde am
12. November 1853 in Kissingen als Sohn des Katholiken italienischer
Abstammung, Carl Panizza, der sich mehr schlecht als recht als Hotelier
und Gastronom betätigte, und dessen protestantischer Frau Mathilde
geboren. Die Zwistigkeiten, die sich aus den unterschiedlichen
Konfessionen ergaben, belasteten die Familie von Anfang an: Die Kinder
wurden vorerst, gegen den Willen der Mutter, katholisch erzogen. Nach
dem Tod des Vaters, (er starb 1855 an Typhus), ließ die, übrigens ebenso
bigotte wie geschäftstüchtige, Witwe ihre Kinder ohne Umschweife
protestantisch umtaufen; ein Entschluss, der der Familie nachhaltig
gesellschaftliche Probleme bescherte, und im Zuge dessen womöglich in
Oskar dem Kind das Feuer seines späteren antiklerikalen Eifers entzündet
wurde.
Panizza besuchte die Gymnasien in Schweinfurt und München, interessierte
sich vorwiegend für Musik und Literatur, absolvierte auf Geheiß der
Mutter eine Kaufmannslehre, dann den Militärdienst, bevor er im Jahr
1876 das Abitur machte. Anschließend begann er in München das Studium
der Medizin und unternahm eine Reise nach Italien. 1880 promovierte er
summa cum laude mit einer Dissertation zum Thema "Über Myelin, Pigment,
Epithelien und Micrococcen im Sputum" und wurde, nach einer
Frankreich-Reise im Jahr 1881, Assistenzarzt an der Oberbayrischen
Kreis-Irrenanstalt in München unter Professor Bernhard von Gudden,
seines Zeichens Arzt Ludwigs
II. Geldsorgen waren es in weiterer Folge jedenfalls nicht, die
Oskar Panizza plagten, denn er hatte bereits seinen Anteil sowohl aus
dem Verkaufserlös des Hotels "Russischer Hof" wie auch aus einer
Erbschaft erhalten, sodass der junge Mann mit Gehbehinderung und - wie
man munkelte - Syphilisinfektion 1884 seine Assistenzarzt-Stelle
kündigte und sich fortan ausschließlich dem Schreiben widmete. Vielmehr
plagte ihn die Angst vor einer möglicherweise geerbten Geisteskrankheit,
denn noch während seiner Assistenzarztzeit hatte er erste Symptome einer
solchen bei sich wahrgenommen und Zuflucht zum Schreiben genommen.
Innerhalb kurzer Zeit entstanden bis heute umstrittene Werke (Lyrik,
Erzählungen, Grotesken, Theaterstücke und journalistische Arbeiten) mit
bezeichnenden Titeln wie beispielsweise "Die unbefleckte Empfängniß der
Päpste", "Der heilige Staatsanwalt", "Das Liebeskonzil. Eine
Himmelstragödie in fünf Aufzügen", die dem schwierigen Zeitgenossen und
ewigen Provokateur auch prompt Konflikte mit öffentlichen Institutionen
einbrachten. Wegen des Stückes "Das Liebeskonzil. Eine Himmelstragödie
in fünf Aufzügen", einer hämischen Abrechnung mit Staat und Kirche ("Gotteslästerung!"),
mit angeblich 23 (!) damals verkauften Exemplaren, wurde Panizza zu
einem Jahr Gefängnis verurteilt. Nach Verbüßung der Haftstrafe
emigrierte der bei seiner Familie in Ungnade Gefallene 1896 in die
Schweiz, wo er als Staatenloser lebte, einen Verlag gründete und seine
"Zürcher Diskußionen" (Abrechnungen mit Staat, Kirche und Monarchie)
publizierte.
1898 wurde er als unerwünschter Ausländer des Landes verwiesen und ließ
sich in Paris nieder, wo er "Parisjana. Deutsche Verse aus Paris"
verfasste, eine gegen Kaiser
Wilhelm II., von dem er sich persönlich verfolgt fühlte,
gerichtete Schmähschrift und Abrechnung Panizzas, die - wie viele andere
seiner Werke - konfisziert wurde
("Majestätsbeleidigung!"). In tatsächliche Bedrängnis brachte
Panizza allerdings die Beschlagnahme seines Vermögens, wodurch er sich
1901 gezwungen sah, nach Deutschland zurückzukehren und sich der
Münchner Justiz zu stellen.
Er wurde inhaftiert, dann allerdings für sechs Wochen zur Beobachtung in
die geschlossene Kreisirrenanstalt eingewiesen, wo man ihn für chronisch
paranoid und unzurechnungsfähig erklärte. So wurde er nicht verurteilt,
sondern, nach seiner Entlassung aus der Beobachtung und darauf folgenden
Aufenthalten in
Paris und der Schweiz,
von Wahnsymptomen, die er in ausführlichen Tagebucheinträgen
dokumentierte, gepeinigt und nach München zurückgekehrt, im Jahr 1905
entmündigt. Zu dieser Zeit hatte er bereits verschiedene Anstalten von
innen gesehen. Endstation war für ihn das Herz- und Kreislaufkrankenhaus
"Mainschloss Herzogshöhe" in Bayreuth, wo er am 28.9.1921 starb.
"Die Menschenfabrik"
In "Die
Menschenfabrik" irrt ein Wanderer auf der Suche nach einer
Unterkunft für die Nacht (eine Prise "Rocky Horror Picture Show"
gefällig?) durch Mitteldeutschland und erreicht schließlich ein
monumentales Gebäude, wo ihm ein alter Mann öffnet und auf die Frage,
was für ein Haus das sei, antwortet: "Eine Menschenfabrik".
Diese Auskunft macht den Wanderer ebenso neugierig wie sie ihn in Angst
und Schrecken versetzt. Der alte Mann, Direktor der Fabrik, lädt den
späten Gast zu einem Rundgang durch die Produktionshallen und Lagerräume
ein, und schon bald sieht der Erzähler sein ethisches und moralisches
Gedankengerüst zunehmend in Frage gestellt. Seine Einwände, seine Ängste
vor einem Umsturz der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung, die Panik
angesichts der Perfektion der hergestellten "Fabriksrasse", sind
unbestreitbar aktuell, wenngleich diskussionswürdig.
Gleiches gilt für die Befürchtung, womöglich längst einer unvollkommenen
Minderheit anzugehören; einer Übermacht makelloser Kunstmenschen
unterlegen zu sein. Der Direktor, ganz treuer Verfechter kaufmännischer
Prinzipien, (ob vielleicht gar Panizzas Mutter als Vorbild diente?),
schiebt sämtliche Bedenken beiseite und erläutert die großartigen
Vorzüge der
"Fabriksrasse": Das Denken, eine "lästige Operation" sei
ausgeschlossen, seine Erzeugnisse seien nett und nobel, gefügig und frei
von Unannehmlichkeiten, böten Stabilität durch ihre unveränderliche
Seelenlage und beschränkten sich auf die ihnen zugeteilten Gesten, was
sie alles in allem sehr beliebt bei den Kunden mache und ihre
Verbreitung beschleunige (hier drängt sich der Werbespruch "... da
weiß man, was man hat" auf!).
Gleichermaßen angewidert wie entsetzt, sucht der Erzähler im
Morgengrauen sein Heil in der Flucht, von den künstlichen Wesen begafft
und vom Direktor zu einem Kauf gedrängt. Auf der Straße begegnet ihm ein
Bauer, den der nunmehr völlig verunsicherte Wanderer fragt, was das für
ein Haus sei. Die Antwort in der Hörspielfassung:
"Mein Zuhause!"
Der Kölner Klangartist Schlammpeitzinger steuerte mit bewusst
reduzierten Instrumenten die akustischen Kulissen bei, deren Reichweite
sich von harmlosen Klängen, die das durch Worte vermittelte Grauen umso
deutlicher zur Geltung bringen, über brausende, dramatische
Filmmusik-Opulenz bis hin zu kaufhaus- bzw. rummelplatzartigen Melodien
erstreckt. Zusätzliche Effekte (Stimmenverfremdung, Hall, ...),
Maschinenlärm und menschlichen wie tierischen Kehlen entstammende
Schreie schaffen eine berückende Dichte. Die Leistungen der Sprecher
tragen das übrige zur beklemmenden Atmosphäre des von Christoph
Kalkowski für die Hörspielfassung adaptierten Texts bei.
Kritisch anzumerken ist jedoch, dass das Ende der Erzählung zeitgeistig
abgeändert wurde.
(kre; 08/2002)
Oskar Panizza: "Die Menschenfabrik"
Hörspiel. Audio-Verlag, 2001.
Sprecher: Ute Springer, Thomas Gerber, Martin Engler.
Musik: Schlammpeitzinger.
1 CD, mit Begleitheft. Laufzeit: 41 Minuten und 53 Sekunden.
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