Das Nibelungenlied (1.Teil) |
"Uns ist in alten
mæren wunders vil geseit
von helden lobebæren, von grôzer arebeit,
von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen,
von küener recken strîten muget ir nu wunder hoeren sagen."
Mit diesem beschwörenden Blick auf die Vergangenheit beginnt das
vielleicht bedeutendste, sicher aber komplexeste und bekannteste
Kunstwerk deutscher Sprache aus dem Mittelalter, dessen Verfasser
bezeichnenderweise - und im Gegensatz zu den anderen Verfassern der
großen mittelalterlichen Epen - anonym ist. Bezeichnend deshalb, weil
der Dichter sich bei seiner Arbeit auf zahlreiche Vorgänger stützt;
weil er sich für sein weites Ziel aus den verschiedensten Quellen,
schriftlich und mündlich überlieferten Sagen, historischen Fakten etc.
ungeniert bedient beziehungsweise er das Werk von Vorgängern ungeniert
überschreibt, um daraus seinerseits ein Werk zu schaffen, das, indem
es in einem dialektischen Prozess die Handlungsstränge und Motive
vieler bedeutender, an sich unabhängiger Geschichten miteinander
verwirrt, verbindet und gegeneinander ausspielt, ein mehrdeutiges
größeres Ganzes darstellt.
Viele Quellen, aus denen er schöpft, tauchen in veränderter Gestalt
auch in anderen Schriftdokumenten, so etwa die Brünhildesage auch in
der Edda,
einer skandinavischen Sammlung von Heldenliedern, Anfang des
dreizehnten Jahrhunderts, auf. Solche Geschichten gehörten zum
wichtigsten mythologischen Erbe der betreffenden bzw. betroffenen
Völker und wurden um diese Zeit herum eifrig niedergeschrieben und
kopiert. Beim Dichter des Nibelungenlieds jedenfalls mit seinem
ausgesprochen weiten Horizont ist es keineswegs ausgeschlossen, dass
er etwa auch die Homerischen Epen gekannt hat (und Siegfrieds
Schulterblatt der Ferse Achills entspringt).
Das Nibelungenlied wurde um etwa 1200 abgefasst, spielt aber in der
unruhigen Zeit um die Mitte des fünften nachchristlichen Jahrhunderts.
Der Stern der Römer war im Sinken, die Hunnen bereits tief in Europa
eingedrungen, und die kleineren Völker, Stämme und Fürstentümer
bildeten langsam in Ablehnung und Übernahme fremder Sitten und
Einrichtungen eine eigene Identität heraus, während sie gleichzeitig
in den Wirren jener Zeit ums nackte Überleben kämpften.
So ein Stamm waren auch die Burgunder, mit ihrer am Rhein gelegenen
Hauptstadt Worms, deren Königshaus der Autor zunächst kurz beschreibt:
König Gunther, seine Brüder Gernot und Giselher, den Knaben, ihre
ebenso zahlreiche wie loyale Gefolgschaft, allen voran ihren Onkel
Hagen von Tronje, einen unvergleichlicher Schwertkämpfer; die ganze
Sippe stellt er als so ziemlich den Gipfel der kulturellen Entwicklung
darstellend dar, es zieren sie die besten Tugenden, von Leibes- über
Verstandeskraft bis hin zu feinen Sitten und hohem Sinn.
Vor allem aber ziert sie Kriemhild, die Schwester Gunthers, Gernots
und Giselhers, eine einzigartige Schönheit (âne mâzen schoene), dazu
ein Mädchen von großem Liebreiz und einiger Tugend. Auch der Autor
unterliegt, wie es scheint, ihrem Charme - er widmet ihr gleich die
Strofen 2 und 3, nicht aber ohne hinzuzufügen, dass ihretwegen später
viele Kämpfer ihr Leben verloren; eine Variation der Helena sozusagen,
die diesmal allerdings auch mit inneren Werten ausgestattet erscheint.
Das an ihren profetischen
Traum vom Falken und den zwei Adlern anschließende Gespräch mit
ihrer und des Königs Mutter Ute umreißt kurz und prägnant ihren
Charakter, der in dieser Fase in den Entschluss mündet, für immer ohne
eines Mannes Liebe zu bleiben.
Siegfried ist eine klassische Heldenfigur, auch er taucht in anderen
Sagen der Zeit häufig auf: zum Siegen (den er in seinem Namen trägt)
geboren, mythischer Drachentöter, Besitzer einer unsichtbar machenden
Tarnkappe und Herr über den Schatz der Nibelungen, Königssohn aus den
Niederlanden, der nicht daran denkt sein Gebiet zu regieren und lieber
allein durch die Wildnis streift. Und schrecklich naiv: als er endlich
ans Heiraten denkt, von einer wunderschönen Burgunderprinzessin
berichten hört und mit der Absicht, diese als seine Frau zu gewinnen
schließlich nach Worms kommt, benimmt er sich ähnlich wie mancher
Germanenstamm beim ersten Aufeinandertreffen mit der (griechisch-)
römischen Zivilisation. Da er keine Anstalten macht dem Herrscherhaus
einen Aufwartungsbesuch abzustatten, treten die Fürsten ihrerseits
höflich zu ihm um ihn willkommen zu heißen und auch zu fragen, was er
denn hier wolle. Worauf er antwortet, dass ihm dies Königreich
gefalle, er deswegen mit König Gunther kämpfen wolle - dem Sieger
mögen beider Königreiche zufallen. Dies Verhalten wird zwar nicht
ernstgenommen, doch steigt manchem von Gunthers Gefolge erstmals die
Zornesröte ins Gesicht, und Hagen schweigt ungebührlich lang. Es ist
dies eine famose Szene voll Dramatik, die nicht nur das erste
Aufeinandertreffen zweier Welten schildert, sondern auch eine Ahnung
von der gesellschaftlichen Hierarchie der Burgunder und ihrer
vorzüglich geschulten Diplomatie vermittelt. Letztere, verkörpert
durch Gernot, deeskaliert schließlich routiniert die Situation und
lädt Siegfried ein, Leben und Gut mit ihnen zu teilen. Was dieser, mit
dem Gedanken an das Mädchen, annimmt.
Zunächst ist es Gut. Siegfried freundet sich mit den burgundischen
Fürsten an, macht sich auch bei einer Schlacht höchlich verdient. Als
er schließlich Kriemhilden erstmals von Angesicht zu Angesicht
gegenübersteht, ist es
beidseitige Liebe auf den ersten Blick, und das vor versammeltem
Volke. Siegfried scheint allerdings von den höfischen Sitten der
Burgunder etwas mitgenommen zu sein, denn er bittet Gunther nicht
sogleich um die Hand seiner Schwester - sich fürs erste mit Kriemhilds
Nähe begnügend lässt er es zu, dass sich das Schicksal einer weiteren
mythischen Gestalt verhängnisvoll einmengt.
Denn Gunther, der durch das verliebte Treiben in seiner Nähe offenbar
auf den Geschmack gekommen ist, setzt sich in den Kopf, just das
gefährlichste Mädchen seiner Zeit zu freien, die isländischen Königin
Brünhild. Der mit übernatürlichen Kräften ausgestatteten Brünhild ist
mindestens ebensoviel an ihrer Jungfernschaft gelegen wie noch vor
kurzem Kriemhild, sie fordert von jedem Mann, der sie zur Frau haben
möchte, er müsse sich zuerst in einen sportlichen Wettkampf in den
Disziplinen Steinweitwurf, Zielschießen mit dem Speer und Weitsprung
mit ihr begeben, gewinnt er, schenkt sie ihm ihre Hand, gewinnt sie
(und nachdem sie noch frei ist, ist das der übliche Ausgang des
Spaßes), hat der hoffnungsvolle Freier sein Leben verwirkt.
Gunther bekommt zwei Ratschläge: von Siegfried, er möge die Sache
lassen, und von Hagen, er möge Siegfried um Hilfe bitten. Gunther hört
auf Zweiteren, und mit dem Versprechen, bei glücklichem Ausgang des
Abenteuers Siegfried mit der Hand seiner Schwester zu belohnen, sagt
dieser zu. Der Coup gelingt - mit seinen Riesenkräften (und unter
seiner Tarnkappe
versteckt) Gunther heimlich unterstützend besiegt Siegfried in Island
Brünhild für Gunther. Einen fatalen Fehler begeht er allerdings schon
vorher, bei der Landung auf der Insel - er bezeichnet Gunther als
seinen Herrn, denn der erste Gruß von Königin Brünhild gilt Siegfried,
der mit den Worten "wand'er ist mîn herre" (und er hätte wohl
eindeutiger auftreten und bessere Worte finden können) an Gunther
weiterleitet.
Aber der Spaß
ist noch nicht vorbei, wieder daheim in Worms wird zunächst eine
prächtige Doppelhochzeit gefeiert, und Brünhild, statt Gunther in der
Hochzeitsnacht ihre Liebe zu schenken, nicht nur "die minne si im
verbôt", sondern hängt ihn über die ganze Nacht gefesselt an einen
Haken. So muss, damit sich so eine Nacht nicht wiederholt, Gunther
Siegfried abermals um Hilfe bitten, "tuo ir, swaz du wellest",
vorausgesetzt "âne daz du ihr triutest", sagt er. Siegfried
verspricht das, geht unter seiner Tarnkappe anstelle von Gunther in
das verdunkelte Schlafgemach und kämpft mit Brünhild einen erbitterten
Kampf (beinahe hätte er Gunthers Schicksal geteilt), ehe er sie
schließlich besiegt, ihren kostbaren Gürtel (aus Ninive!) raubt und
auch noch ein kleines Ringlein von ihrem Finger streift (der Verfasser
des Nibelungenlieds merkt selbst an, er wisse nicht, warum Siegfried
das getan habe), um später in den Niederlanden beides seiner Kriemhild
zu schenken. Nun, jedenfalls ein seltsames Verhalten, zumal man nun
umso mehr geneigt ist, in die Schlafzimmerszene mehr hineinzudeuten,
als tatsächlich geschrieben steht. Und auch über Ring und Gürtel,
wofür die als Symbole wohl stehen, erfährt man nichts Näheres. Ob es
nun magische Gegenstände sind oder etwas Anderes - dass Brünhilde in
dieser Nacht ihre übernatürlichen Körperkräfte verliert, verdankt sie
(laut
dem Dichter) Gunthers tatsächlich vollzogener Minne. -
Mehr als zehn Jahre sind vergangen, während derer Gunther und Brünhild
als Königspaar in Worms (mit einem Söhnchen namens Siegfried)
geherrscht haben, Siegfried und Kriemhild als Königspaar in den
Niederlanden (mit einem Söhnchen namens Gunther). Anlässlich eines
Turniers sind Siegfried und Kriemhild nun erstmals seit der
Doppelhochzeit wieder auf Besuch in Worms, in Begleitung König
Siegmunds, des Vaters Siegfrieds, und zahlreichen Gefolges. Und dabei
kommt es zu einem furchtbaren Streit zwischen den beiden Königinnen,
die ihren alten Stolz nicht abgelegt haben, dem sich wohl aber neue
Zweifel hinzugesellt haben. Ihre plötzliche gegenseitige Abneigung
mündet dramatisch in einen Wortwechsel vor dem Eingang zum Wormser
Münster, im Zuge dessen Brünhild ihre Schwägerin als Frau eines
Lehensmannes Gunthers (in Erinnerung von Siegfrieds ersten Worten in
Island) bezeichnet, und Kriemhild sich mit der Behauptung revanchiert,
dass eben Siegfried es war, der Brünhild die Jungfernschaft genommen
hat, um an der weinend zusammensinkenden Brünhild vorbei als Erste
durch das Münsterportal zu schreiten. Aber Brünhild fängt sich wieder,
verlangt nach Beweisen, und als Kriemhild Gürtel und Ring vorzeigt,
lässt sie Gunther rufen. Der wiederum lässt konsequenterweise
Siegfried rufen, ob es denn stimme, er habe sich vor seiner Frau damit
gerühmt, Brünhilds Leib besessen zu haben, und Siegfried schwört
feierlich Folgendes:
"und wil dir daz enpfüeren vor allen dînen man
mit mînen hôhen eiden, daz ichs ir niht gesaget hân" ...
Von "getân", welches in dem Reim (und vielleicht auch in Gunthers
Gedanken) mitschwebt, ist nicht die Rede.
Doch Hagen gibt längst nichts mehr auf Siegfrieds Eide. Fortan nimmt
er das Heft des Geschehens fest in die Hand, die Könige schauen wie
gelähmt zu oder weg und nehmen das Geschehene schweigend oder
achselzuckend zur Kenntnis, ein Verhalten, das sehr an das fränkische
Königsgeschlecht Merowinger erinnert, denen praktisch ihre Hausmeier
(die später allerdings auch zur Königsfamilie wurden) das Reich
regierten. Was aber bewegt Hagen dazu, zunächst Brünhild Siegfrieds
Bestrafung zu versprechen, dann so lange auf Gunther einzureden, bis
der zu Verrat und Mord seine Zustimmung gibt? Der erste ausgesprochene
Grund ist Rache aus Loyalität für seine beleidigte Königin. Gunther
gegenüber spricht er eher von einem mit Siegfrieds Tod verbundenen
Zuwachs an Macht, von Ländereien und untertanen Königreichen; in
Zeiten vor der Islandreise hat Siegfried den Burgundern geholfen
zusammen die verbündeten Heere der Dänen und Sachsen zu besiegen,
mittlerweilen gehören Gunthers und Siegfrieds Königreiche, nach allem,
was der Dichter darüber sagt, zu den mächtigsten - die politische
Ebene ist also vorhanden, wird allerdings nur kurz angedeutet. Ferner
weiß man, dass Hagen früher schon mit Begehrlichkeit an den Schatz der
Nibelungen gedacht hat, und später dann entwickelt er auch große
Freude an dem Besitz von Siegfrieds Schwert Balmung. Und schließlich
spielen wohl auch persönliche Abneigung und ein tiefgehender
Antagonismus eine Rolle. Beide sind große Kämpfer, wahre Naturgewalten
(Siegfried auch ohne Schwert), ansonsten aber sehr gegensätzlich:
Hagen finster und weitblickend, Siegfried draufgängerisch und
unbekümmert, Hagen ein Gefolgsmann, Siegfried König und frei. Mag also
leicht sein, dass auch Neid bei Hagen eine Rolle spielt, ausgesprochen
wird das allerdings nicht, das Motiveforschen bleibt weitgehend Sache
des Lesers bzw. Hörers. Und um
das Maß des Psychodramas voll zu machen ist Hagen pikanterweise auch
noch eine Art Lieblinsonkel von Kriemhild, was es ihm erst ermöglicht,
seinen teuflischen Mordplan in die Tat umzusetzen: zuerst wird ein
äußerer Feind erfunden, die Burgunder rüsten zum Kampf, und Siegfried
hat natürlich auch nicht vor fernzubleiben, Hagen verabschiedet sich
von Kriemhild, die bittet ihn, ihren Mann, um den sie ihn großer Sorge
ist, besonders zu beschützen, gefragt nach dem "wie" erzählt sie
darauf, dass Siegfried damals nach dem
Töten des Drachen in dessen Blut badete und dadurch unverwundbar wurde
(das Einzige, das man Hagen zugute halten muss - dass es unvernünftig
wäre, einen unverwundbaren Gegner zum Duell zu fordern), mit Ausnahme
einer kleinen Stelle zwischen den Schulterblättern, worauf ein
Lindenblatt gefallen war. Hagen bittet sie ein kleines Kreuz an der
betreffenden Stelle auf Siegfrieds Gewand zu nähen, dann könne er
besonders drauf achthaben. - Es geht in die Schlacht, doch plötzlich
hat sich der Feind zurückgezogen, nun schon einmal in Waffen
veranstaltet man eine kleine Jagd, auf einmal ist kein Wein vorhanden,
Gunther, Hagen und Siegfried vereinbaren einen Wettlauf zur nächsten
Quelle, Siegfried erreicht die Quelle als Erster, legt Waffen und
Rüstung unter einer Linde
(!) ab und wartet - um die Schmach der Mörder voll zu machen - ohne
seinen Durst zu löschen auf Gunther, damit der als Landesherr als
Erster trinke. Gunter trinkt und tritt beiseite, Siegfried bückt sich,
trinkt, Hagen hat inzwischen Siegfrieds Bogen und Schwert außer
Reichweite gebracht, steht unter der Linde, Siegfrieds Speer in der
Hand, zielt auf das kleine Kreuz im Rücken seines Opfers und trifft.
Siegfried bleibt nur noch, seine Mörder und ihre künftigen
Generationen zu verfluchen und Gunther gleichzeitig zu bitten, für
Kriemhild zu sorgen.
Den Leichnam lädt Hagen vor Kriemhilds Türe ab. Kriemhild ist wie vom
Donner gerührt, zu spät erkennt sie die Mörder und ihr Manöver, sie
beweint ihren toten Mann auf eine Art, dass viele meinen, sie werde
ihm bald nachfolgen. Und auch an Rache denkt sie gleich. Doch als ihr
Schwiegervater sie bittet, sie möge ihm die Mörder nennen, schweigt
sie. Ja, Siegmund muss sogar allein mit seinem Gefolge zurück in die
Niederlande, denn trotz allem will Kriemhild lieber bei ihren
Verwandten bleiben als zu ihrem Sohn in die Fremde zurückkehren.
Allen, sogar Gunther verzeiht sie, ihr Hass konzentriert sich fortan
auf Hagen. Und der gibt ihr gleich noch mehr Grund dazu. Der
Nibelungenschatz, der nunmehr Siegfrieds Witwe gehört, Unmengen von
Gold und Edelsteinen, wird gehoben. Als aber Kriemhild mit dem Gold
fremden Kriegern gegenüber allzu verschwenderisch umgeht, nimmt Hagen
ihr aus Staatsraison den Schatz kurzerhand weg. Gernot setzt noch
durch, der Schatz möge im Rhein versenkt werden, auf dass er kein
weiteres Unheil anrichte, und alle Beteiligten schwören, den Ort
zeitlebens nicht zu verraten. Doch dann ist es wieder Hagen, der den
Schatz eigenmächtig und an einer nur ihm bekannten (der Verfasser weiß
nur soviel, dass es irgendwo bei Lochheim sein muss) Stelle im Rhein
versenkt. Gleichviel, durch diesen Männerschwur sind die Burgunder
Nibelungen geworden. Und Kriemhild wartet freudlos auf die Gelegenheit
zur Rache - dreizehn Jahre lang.
(stro)
Hier finden Sie den gesamten Nibelungentext mit zahlreichen Erläuterungen