Henry de Montherlant:
"Der Dämon des Guten"


"Ich bedurfte Ihrer nicht im mindestens; im Gegenteil, Sie störten mich. Ich habe Sie aus Mitgefühl hergerufen. Der Dämon des Mitgefühls, der stets mein Leben durcheinanderbringt ... - Es ist immer dasselbe. Ich kämpfe gegen das Mitgefühl an, doch ich gebe nach. Aber das Mitgefühl ist eine zweischneidige Waffe. Sie wendet sich nicht nur gegen mich, sondern auch gegen den, dem ich es zuteil werden lasse, denn das Mitgefühl verfehlt stets sein Ziel. ... Übrigens weiß ich nicht, warum ich "Mitgefühl" sage; die Sache ist weit umfassender; es handelt sich um das Gute selbst. Das Gute, dem müsste es gegeben sein, sich machtvoll auszuleben, ohne sich um andere zu kümmern. Unsere Glut würde sie erwärmen und sie in Bewegung setzen. Ach, so ist es nicht. Diese grausige Versuchung durch das Gute. Ich mag tun, was ich will, ich erliege ihm nur zu oft! Es ist ein Laster."
(Pierre Costal in "Der Dämon des Guten"; Roman von Henry de Montherlant)

Paris, anno 1927: Pierre Costal liebt es Frauen zu jagen und als Mann zu besitzen, doch verabscheut der eiserne Junggeselle engere Bindungen, die mehr als nur ein sexuelles Abenteuer sein wollen. Von Beruf Schriftsteller ist es ihm ein professionelles Interesse allein seinen Neigungen nach zu leben, die ihm Inspirationsquelle und Antrieb zur Poesie in Einem sind. Das Mädchen Solange Dandillot ist seine Affäre, möglicherweise frigide, an seiner Costals Welt desinteressiert, einfach nur ein Mädchen aus besseren Kreisen, was sie wohl davor behütet von ihrem Liebhaber gleich wieder fallen gelassen zu werden. All ihr Sinnen und Streben gilt dem Ziel, mit dem Mann ihres Herzens, Pierre Costal, eine Art legale Bindung einzugehen, wenigstens provisorisch und auf Zeit, da sie sich über seinen Widerwillen gegen die Ehe keiner Illusion hingibt.

Von der Tatsache, dass die "Ehe" als bloße Idee schon alles verdirbt, ist Costal überzeugt und versucht zuerst das Mädchen für seine Überzeugung zu gewinnen. Zu diesem Zweck gibt er ihr das Tagebuch Tolstois und das der Gräfin Tolstoi zu lesen, deren tragische Ehegeschichte auf das Gemüt des Mädchens heilsam wirken sollte. Seine Erwartungen werden enttäuscht, so wie auch alle weiteren Versuche sie von ihrem bedrohlichen Vorhaben mit Vernunftargumenten abzubringen zum Scheitern verurteilt sind. Mit erstaunlicher Hartnäckigkeit verfolgt Solange ihren Wunsch nach Verehelichung und nimmt dafür eine jede Demütigung in kauf, derweilen Costal immer mehr zur lächerlichen Karikatur seiner Abwehrhaltung verkommt. Den Höhepunkt des Peinlichen wie gleichsam Lächerlichen erreicht das Paar in folgender Szene, in welcher Costal seiner Geliebten für den Fall der tatsächlichen Verehelichung schlimmste Konsequenzen in Aussicht stellt und ihre Reaktion darauf an Absonderlichem nicht mehr zu wünschen übriglasst: "Ich habe über ein Mittel nachgedacht, das mir erlauben würde, Sie zu heiraten, und bei dem ich dennoch meine Freiheit an dem Tage erhielte, da das Zusammenleben sich als unmöglich erwiese. Das wäre, dass ich Sie an jenem Tage verschwinden ließe. Sie verstehen, welchen Sinn ich dem Ausdruck verschwinden ließe unterstelle?" - "Mich ermorden?" - "Ja." - "Welch vortrefflicher Gedanke!" sagte sie heiter. "Warum sind Sie nicht früher darauf gekommen? ... Ich finde, in Ihren Mordplänen ist sehr viel ... Literatur!"
Literatur? Was für ein Missverständnis, denn Costal meint es bitter ernst und arbeitet in Gedanken an Entwürfen zu verschiedensten Mordszenarien, die ihm sein Junggesellendasein gegebenenfalls wiederherstellen könnten. Mademoiselle Solange Dandillot lässt sich jedoch durch keine auch noch so obszöne Zukunftsaussicht in ihrem Wunsch nach dem Ehestand beirren und ist zudem auch noch bereit alle Prinzipien eines katholisch erzogenen Mädchens über Bord zu werfen, wenn sie ihm verspricht auf die Parodie einer kirchlichen Trauung zu verzichten und im Falle einer ungewollten Schwangerschaft diese vorzeitig abzubrechen, damit einer jederzeit möglichen Ehescheidung nur ja kein Hindernis menschlicher Natur im Wege stünde. Des Romans Handlung endet, wie von Sturheit geleitetes Handeln auch im realen Leben enden muss, in fortgesetzter Prolongierung des immer Gleichen. Das Mädchen Solange bleibt ihrem Wunsch nach Verehelichung treu, wie auch Costal seinem ungeselligen Lebensstil eisern verpflichtet bleibt, bestehend aus ungeschlachter Arbeitswut in Zeiten heiterer Verkrochenheit, unterbrochen von Tagen der Frauenjagd um des flüchtigen Abenteuers wegen.

Der am 21. April 1896 in Neuilly bei Paris geborene und am 21. September 1972 freiwillig aus dem Leben geschiedene Henry de Montherlant (eigentlich: Henry Marie-Joseph Frédéric Expédite Millon de Montherlant) ist Prototyp eines zu Lebzeiten mit Ehrungen überhäuften Schriftstellers, der nach seinem Ableben rasch und unverdientermaßen dem Vergessen anheimfallt. Ein Vergessen, das man nicht mit genügend Befremden quittieren kann, gehört doch sein Werk ganz sicher zu dem Besten, was jemals geschrieben wurde. Neben der Tetralogie "Erbarmen mit den Frauen", zu dem auch der besprochene Roman zählt, wurde er vor allem durch seine spitzzüngigen Aphorismen populär (bekannteste Bonmots: "Wir lernen aus der Geschichte immer wieder, dass wir nichts lernen" / "In der Moral zählt nur die Absicht, in der Kunst nur das Ergebnis"). Auch "Der Dämon des Guten" besticht durch eine Überfülle von geistreichen und zuweilen sehr humorvollen Gedanken und Wendungen, die nachdenklich stimmen und die Lektüre des Buches zu einem Schmunzelvergnügen machen. Zum Kennenlernen nun ein paar wahllos aus "Der Dämon des Guten" herausgegriffene Beispiele spöttischer Spitzzüngigkeit:

Wenn Dante wieder unter uns erschiene und öffentlich einen unveröffentlichten Gesang der Göttlichen Komödie vorläse, so fänden sich Frauen und Intellektuelle, die nichts anderes zu sagen wüssten, als dass seine Hose schlecht gebügelt sei.

"Die Kirche ist ein Vorwand für Weltkinder, wie Jesus Christus ein Vorwand für die Kirche ist."

"Die Frauen pflegten von Rechtsanwalt Dubouchet zu sagen, er sehe unangenehm aus. Das sagen sie stets von einem Manne, wenn er streng oder würdig oder auch nur ernsthaft wirkt."

"Also auch Sie glauben nicht an das unauslotbare Geheimnis der Frau? Komisch, alle Männer sind derselben Ansicht, wenn sie darüber ohne Zeugen sprechen: es gibt nicht einmal eine zage Andeutung von Geheimnis bei der Frau. Aber wenn sie sich hinsetzen und über die Frau schreiben, oder wenn sie in der Öffentlichkeit über sie reden, kurz: wenn sie offiziell zu diesem Thema Stellung nehmen müssen, dann stimmen sie sofort ihr Lied über die geheimnisvolle Eva an. ... Die Gattung Menschen hat es augenscheinlich nötig, dass die Frauen überschätzt werden, ... da es sich um das Fortbestehen der Gattung handelt."

"Alle, die in diesem besonders vulgären Restaurant speisten, waren von grässlich guter Gesundheit: muss man denn tuberkulös sein, um ein bisschen Haltung zu zeigen? Schon beim Eintreten war es Costals gewesen, als sei er imstande, sie samt und sonders zu ermorden."

"Neun Zehntel von denen, die es ablehnen, offen zu morden oder auch nur morden zu lassen, sind bereit, heimlich zu morden, aber ganz bewusst, auf die tausend anständigen Weisen, die man Menschen umbringen kann, ..."


Schon diese wenigen Beispiele verdeutlichen, dass man es mit einem Großmeister der aphoristischen Betrachtungsweise - sein eigentliches Stilmittel - zu tun hat. Nichts wird beschönigt, und nichts wird verklärt, die Wahrheit findet sich in der trefflichen Pointe. Der gnadenlose Blick des Zynikers offeriert dem Leser die Wirklichkeit menschlicher Natur, die "ICH" will und "DU" sagt und das Moralgesetz zum Herrschaftsinstrument verbiegt. Dass Costal Charakterzüge seines Erfinders trägt, lässt sich bei aller Wesensgleichheit von Autor und Handlungsfigur nicht von der Hand weisen. Umso mehr überzeugt die schonungslose Zeichnung des Romanhelden, als kaltschnäuziger - wenn auch sympathischer - Frauenheld, der ob Solanges Willen zur verfestigten Bindung in sittliche Panik verfällt und aus mitleidiger Neigung zum Guten ("Der Dämon des Guten") keinen Ausweg aus der verfahrenen Situation findet. Beide Charakterfiguren hinterlassen letztlich einen wenig respektierlichen Eindruck beim Betrachter und wirken in ihrer hilflosen Versessenheit zeitlos menschlich. Das mit Mademoiselle Solange Dandillot skizzierte Bildnis der heiratswütigen Frau mag klischeehaft sein, doch enthält es - seien wir ehrlich - bedrückende Aspekte des Wirklichen, die insbesondere Frauen zu denken geben sollten. Denn so wie Costal eine populäre Spielart zwanghafter Männlichkeit - den Frauenhelden - geradezu idealtypisch verkörpert, ist auch Solange weitgehend von Vorstellungen zwanghafter Weiblichkeit bestimmt. Die Beiden gemeinsame Tragödie ist die faktische Unvereinbarkeit ihrer jeweiligen geschlechtsrollentypischen Sinnwelten zueinander, und sie büßen dafür mit ihrer selbst verschuldeten Herabwürdigung zu lächerlichen Kreaturen. Es wäre nun nur allzu einfach über die in ihrem gemeinsamen Handeln zum Scheitern Verurteilten leichtfertig den Stab zu brechen, indem man sie schlicht und einfach der Lächerlichkeit preisgibt. Dies vor allem deswegen, zumal, beider Verhalten scheint aus ihrer jeweiligen Perspektive legitim und als Erwartungshaltung an den Anderen nicht unkorrekt, weshalb auch mit selbstgerechtem Eifer dafür gefochten wird. Sind die Kontrahenten dieses Beziehungsdramas doch auch nur Geschöpfe einer gesellschaftlich konstruierten Wirklichkeit, die alltägliche Wirklichkeitsregionen vorweg mit handlungsleitenden Sinnbezügen ausstaffiert, und so tritt das Mädchen Solange ihrem Costal als selbstgewisse Agentin der Heiligkeit altüberkommener Sittenordnung entgegen, deren, über Solanges Wünschen nach Reglementierung der Liebschaft, weitergeleiteter Konformitätsdruck in dem Paar alle erotische Leidenschaft füreinander abtötet und den Anderen nur noch in seiner lästigen Wunsch- oder Abwehrhaltung wahrnehmbar sein lässt. Unglücklich ist des Anständigen Bewusstsein, dem Anderen ein Unglück zu sein, und so verharrt Costal - widerwillig aber doch - aus moralischer Betroffenheit in diesem gemeinsamen Unglück, dessen Stabilisierung zum immerwährenden Unglück Solange Dandillot so flehentlich begehrt. Letztlich trifft zu: Es ist der dämonisch erlebte Zugriff des Überindividuellen auf das Individuum, der dieses Individuum zu seinem Unglück nötigt.

Kein Zweifel, dass es sich bei diesem Buch um zeitlose Literatur handelt, die nie vergehen sollte. Einziger Wermutstropfen ist und bleibt deswegen auch, dass ausgerechnet große Literatur wie diese offenbar von der Vernunft freier Marktwirtschaft verkannt wird und aus diesem Grunde im regulären Buchhandel nicht mehr erhältlich ist. Ein Armutszeugnis par excellence ist diese Absenz des Hochwertigen in einer Branche, wo zugleich Minderwertiges die Verkaufsbestenlisten stürmt. Dem Leser bleibt somit nur übrig sich mit dem abzufinden, was von Henry de Montherlant noch im Buchhandel zu haben ist; nämlich nichts. Und dieses sei wärmstens empfohlen, vor allem den Freunden subtilen Humors und pointierter Formulierungen. Montherlant ist einfach beste Unterhaltung, geistreich und witzig in Einem und - es sieht leider ganz danach aus - in unseren Tagen nur noch überflüssig.

Und so beschließe ich diese Betrachtung mit einem weiteren, für den Belletristen Montherlant bezeichnenden und seine Marktpräsenz umschreibenden, Aphorismus:
"Das Gesetz des Lebens liegt im Notwendigen.
Der Reiz des Lebens liegt im Überflüssigen."

(Henry de Montherlant)

(misanthropos)