José Lezama Lima: "Paradiso"
Ein kubanischer Dante, der
ins Paradies der Poesie entführt
"'Paradiso' ist kein Buch, das man eben einmal lesen könnte. Die
Lektüre ist anstrengend und quälend, man muß sich Satz für Satz
vornehmen und versuchen, hinter seinen verschlüsselten Sinn zu kommen.
Das nimmt Wochen, wenn nicht Monate in Anspruch, aber selbst bei
größter Mühe bleiben die Rätsel am Ende meist Rätsel", stellte
Walter Boehlich in seiner in der "Zeit" vom 10. August 1979 unter dem
Titel "Das verlorene Paradies" erschienenen Rezension des Romans fest.
Karin Ceballos Betancur meinte in ihrer am 8. Juni 2005 in der
"Frankfurter Rundschau" publizierten Besprechung von José Lezama Limas
zweitem Roman "Inferno. Oppiano Licario" sogar: "Menschen, die
einen Roman von Lezama Lima am Stück lesen, mögen verdammt begnadet
sein, aber sie sind auch ein bisschen unheimlich."
Um einen ersten Eindruck zu vermitteln, sei daher der typische Stil José
Lezama Limas mittels zweier zufällig aus dem Roman "herausgegriffener"
Zitate (natürlich aus der Übersetzung) präsentiert:
"Aber Olaya schwebte viel zu sehr, er ruhte zu sehr aus auf dem
Dunst der Nachmittagsdichte, die, eingerollt wie eine Pythonschlange
mit tätowierten Schuppen, ihren talmudischen Traum bei jedem
initialengezeichneten Pfeilchen unterbrach, bei jedem kleinen heiligen
Georg, der einen ihrer Ringe würgen wollte, ohne daß es ihr gelang,
die Übertragung ihrer in den Feuerofen der Verwandlungen geschafften
Energien zu bewirken."
"In einem anderen Inselchen, das im Sonnenschimmer zu schwirren schien
wie ein sonntäglich aufgeputzter Kreisel, wurde ein Jagdhorn sichtbar
und lenkte auf sich den Stachel eines Lichts, das sich in seinen
zufälligen Schwüngen brach, und zog auf sich auch die Schwingung der
Buschmesser, die wie Fischsplitter in die Luft sprangen und
bestimmten, daß der Stab wieder Schlange werden sollte."
Mit welchem "kubanischen Koloss" man es aufnimmt, lässt der
verdächtig knappe Klappentext erahnen: "Die Haupthandlung des Romans
umfasst Kindheit und Jugend - das 'Paradies' - des Kubaners José Cemí
und verzweigt sich in den Lebensgeschichten seiner Familie sowie den
Erfahrungen seiner Freunde Fronesis und Foción."
Die deutschsprachige Ausgabe umfasst 648 prallgefüllte Seiten, wiegt
mehr als 500 Gramm, und die Lektüre gestaltet sich tatsächlich
größtenteils keineswegs einfach, der Lesefluss verlangsamt sich
zwangsläufig. Es ist nämlich durchaus gewöhnungsbedürftig und auch
mühevoll (jedoch im Endeffekt bereichernd), der von enzyklopädischer
Leidenschaft beseelten und keineswegs mit Versatzstücken hochtrabender
Bildung geizenden mäandernden Familienchronik von José Lezama Limas
alter ego namens José Cemí durch die üppigen Abschweifungen und die
Labyrinthe der gelehrigen Anspielungen (Geschichte, Religionen, Mythen,
Kunst, Anatomie, Biologie, Botanik, ...) zu folgen, die nicht immer
nachvollziehbaren bzw. nicht immer verständlichen Bilder und Vergleiche
aufzulesen und bedächtig durch die kleine große Welt bis zum Ende des
Romans zu pilgern.
Sehr viel Zeit, Geduld und die entsprechende Stimmung vorausgesetzt,
eignet sich José Lezama Limas ebenso niveauvoller wie weitschweifiger
Stil für der Poesie bedingungslos zugetane Leser wunderbar zum Abtauchen
in das mythisch überhöhte Havanna versunkener Zeiten, und man staunt
immer wieder über die mehr als kunstvoll aufgetürmten
Schachtelsatzgebirge, die Metapherngewitter und die wagemutigen
Kombinationen von archaischen und modernen Elementen des
zigarrenrauchenden, homosexuellen Asthmatikers, der übrigens seinen
Lebensunterhalt als Rechtsanwalt verdiente.
Jenes Haus in Havanna, in dem der Autor ab dem Jahr 1929 mit seiner
Mutter in einer Mietwohnung lebte, beherbergt seit dem Jahr 1994 ein
Museum ("Casa Museo José Lezama Lima", Calle Trocadero No. 162 e/
Industria y Consulado).
Wie es der letzte Wunsch seiner am 12. September 1964 verstorbenen
verehrten Mutter war, heiratete der am 19. Dezember 1910 geborene José
Lezama Lima am 5. Dezember 1965 seine treue Sekretärin María Luisa
Bautista. Er starb am 9. August 1976 an Lungenentzündung.
Bei "Suhrkamp" finden sich unter Anderem folgende biografische
Informationen: "(...) Er wurde später zum Leiter der Literatur- und
Publikationsabteilung des Consejo Nacional de Cultura, des
kubanischen Kulturrates, und ab 1962 betätigte er sich als
Vizepräsident des kubanischen Schriftsteller- und Künstlerverbandes
(UNEAC). Außerdem wurde er zum Assessor im Literaturinstitut der Academia
de Ciencias, der Wissenschaftsakademie, ernannt. (...) Lezama Lima
gab die literarische Zeitschrift Orígenes heraus, die bald zu
den wichtigsten hispanoamerikanischen Kulturzeitschriften zählte.
Sowohl Paradiso als auch Orígenes waren von
außerordentlich hoher Bedeutung für das kubanische Geistesleben und
entwickelten sich zu starken Bezugspunkten für das literarische
Schaffen in Kuba und Lateinamerika. Lezama Lima gab außerdem die
Zeitschriften Verbum (1937), Espuela de Plata
(1939-41) und Nadie parecía (1942-44) heraus."
"Paradiso", der wuchtige, wortgewaltige Roman, entstand in einem
Zeitraum von etwa zwanzig Jahren und bildet in Teilen eine Zeitspanne
kubanischer Lebenswirklichkeiten ab, ist jedoch kein sozialkritisches
oder geschichtlich angehauchtes Werk, sondern in seiner hermetischen
Gedankenwelt regelrecht über die Zeit erhaben.
Der deutsche Schriftsteller Alban
Nikolai
Herbst verfasste anno 2002 "Imaginäre Ären oder Die unsichtbare
Chronologie. Ein Hör- und paradiesisches Schmerzens-Spiel über Lezama
Lima und das amerikanische Barock".
Und nicht von ungefähr denkt man bei José Lezama Limas Romantiteln
"Paradiso" und "Inferno" an Dantes
in die Abschnitte "Hölle" ("Inferno"), "Läuterungsberg" ("Purgatorio")
und "Himmel" ("Paradiso") gegliederte "Göttliche Komödie".
José Lezama Limas voluminöses Opus "Paradiso" wurde im Original anno
1966 veröffentlicht und stellte für die beiden verdienstvollen
Übersetzer Curt Meyer-Clason und Anneliese Botond eine anspruchsvolle
Mammutaufgabe dar, die sie bravourös (aber leider ohne philologische
Hilfestellungen, denn diese wären zu kostspielig gewesen), gemeistert
haben, sodass die deutschsprachige Ausgabe erstmals im Jahr 1979 bei
"Suhrkamp" erscheinen konnte.
Curt Meyer-Clason (1910-2012) war Verlagslektor und Schriftsteller,
zudem ein bedeutender Vermittler und Übersetzer lateinamerikanischer
Literatur im deutschsprachigen Raum.
Anneliese Botond (1922-2006) war bis 1970 Lektorin und Übersetzerin im
"Insel Verlag" und bei "Suhrkamp". Anno 1984 wurde sie mit dem
"Johann-Heinrich-Voß-Preis" ausgezeichnet ("Anneliese Botond, der
erfahrenen, vielseitigen, einfühlsamen Vermittlerin französischer und
lateinamerikanischer Literatur"). Der eingangs zitierte Walter
Boehlich hielt damals die Laudatio. In ihrer Dankesrede meinte Anneliese
Botond unter Anderem: "Nun versteht es sich zwar von selbst, daß
ein Übersetzer den Kulturkreis kennen muß, aus dem er übersetzt. Für
die Länder Lateinamerikas gilt das besonders: ihre Kulturen sind uns
weniger geläufig, sie sind weniger erforscht und dokumentiert als jede
europäische. Ein Zustand, der sich negativ ja nicht nur für den
Übersetzer auswirkt, sondern letztlich, es ist oft genug beklagt
worden, auf die gesamte Rezeption lateinamerikanischer Literatur."
Die überspitzte Formulierung, der einzige zu seinen Lebzeiten
veröffentlichte Roman des kubanischen Schriftstellers, der nur zwei Mal
außer Landes verreiste, nämlich 1949 nach Jamaika und 1950 nach Mexiko,
spiegle hinsichtlich seiner barocken Fülle perfekt die Figur des
Verfassers, offenbart nicht ansatzweise, was sich hinter dem
pfiffig-kurzen Buchtitel verbirgt, denn José Lezama Lima hat in seinem
Jahrhundertroman zwar kein Bilderbuchparadies, wohl aber einen
beeindruckenden literarischen Kosmos mit stellenweise homosexueller
Schlagseite entworfen und konserviert, wobei der Protagonist José Cemí
erkennbar mehr als den Vornamen mit ihm gemeinsam hat, beispielsweise
eine gesteigerte Sensibilität, den Drang, Dichter zu sein sowie
größtmögliche Bildung und besonders inspirierende Kunstgegenstände zu
erwerben.
Es handelt sich in weiten Teilen um eine zeitlückenbehaftete
Familienchronik, aber nicht von jener leichtfüßig tänzelnden
Beschaffenheit wie sie "Harmonia Caelestis" des unvergesslichen Péter
Esterházy aufweist, denn Stilmittel wie distanzierte Ironie und
lockerer Erzählton finden sich in "Paradiso" nur äußerst selten. José
Lezama Limas Trümpfe sind vierzehn Kapitel voller schwerbeladener
Schachtelsätze, detailfreudigster bis bizarrer Beschreibungen,
studentisch-allwissender, selbstdarstellerischer Figurenrede und
empfindsamer Schilderungen, die der umfassenden Wahrnehmung des
Augenblicks, der aufgeladenen Gegenwart und verzweigten Assoziationen
huldigen und auch noch feinste bildungsbeflissene Verästelungen
beharrlich aufspüren und abbilden sowie unerwartete Sinnzusammenhänge
herstellen.
Im sprachlich und stilistisch höchst experimentierfreudigen Roman
"Paradiso" gewähren einzelne Episoden tiefe Einblicke in die Sorgen,
Nöte und das Alltagsleben begüterter kubanischer Familien, die Sinne für
Zwischentöne in Unterhaltungen werden geschärft, man wird mit
Mentalitätseigenheiten von Kreolen und Spaniern konfrontiert und staunt
über halluzinatorische Visionen und psychedelische Traumbilder, die den
wohlgenährten Textkörper manchmal regelrecht vibrieren lassen und nicht
selten an die Offenbarung des Johannes erinnern.
Die mosaikartige Familienchronik wird von Elementen des Entwicklungs-,
Bildungs- und Künstlerromans begleitet. Die ungeheure Sintflut an
Sinneseindrücken, Stimmungsbildern, Begebenheiten und Personen wirkt
über die Maßen vereinnahmend, sodass an dieser Stelle nur einige
Episoden bzw. Motive herausgegriffen seien: Ein Fall von dämonenartig
vagabundierendem Achselschweiß, der vorhersehbare Unfalltod eines jungen
Geigers, die Vorgeschichte der Ehe von José Cemís und seiner Schwestern
Eltern, Oberst José Eugenio und Rialta, wobei ein früher Erzählfaden
durch Kindheit und Jugend von José Cemís Vater, einem wohlhabenden
Waisenknaben und seinen drei Schwestern, gesponnen wird. Übrigens
verursacht der allseits beliebte und tüchtige Oberst, der bereits im
Alter von 33 Jahren der Grippe zum Opfer fällt (wie José Lezama Limas
Vater), aufgrund seiner wunderlichen Praktiken der Kindererziehung und
der Rosskur für seinen Sohn wegen dessen Asthmaerkrankung immer wieder
gefährliche Situationen.
Einige Passagen haben die Erinnerungen der lange Jahre alle Fäden in der
Hand haltenden Großmutter Doña Augusta zum Thema; einige machen mit
Tanten und Onkeln samt Sprösslingen bekannt, die wenigen schwarzen
Schafe der Familie zeigen sich wiederholt in voller Pracht, wie
überhaupt die Familienszenen José Lezama Limas feines Gespür für
Zwischenmenschliches und seinen ausgeprägten Familiensinn offenbaren.
Jene Abschnitte,
in denen der Autor die bisherigen Lebenswege vieler seiner Figuren über
Generationen hinweg rückblickend auffächert, dokumentieren seinen
Einfallsreichtum, sein Einfühlungsvermögen und sein Interesse an
welthaltigen Einwandererbiografien.
Sexuelle Abenteuer eines ausnehmend gut bestückten Schülers werden
ebenso limatypisch in bislang ungekannten Körperbildern geschildert wie
homoerotische Szenen und eher unheilschwangere Intimitäten zwischen
Frauen und Männern, die behutsame eher indirekte Annäherung des
Freundestrios und Studentenunruhen, und natürlich dürfen auch schier
endlose, an Theatererlebnisse gemahnende als Rede und Gegenrede
inszenierte Monologe junger Männer über Gott, die Welt und
Homosexualität in der Kulturgeschichte nicht fehlen (siehe das
berühmt-berüchtigte achte Kapitel!).
Hierzu ist allerdings anzumerken, dass Homosexuelle auf Kuba lange Zeit
Verfolgung, Inhaftierung und Diskriminierung ausgesetzt waren,
Homosexualität als Tabu galt. Man denke beispielsweise an das Schicksal
des emigrierten Schriftstellers Reinaldo
Arenas, der anno 1990 in den Vereinigten Staaten von Amerika
aufgrund der Infektion mit HIV im Alter von 47 Jahren Selbstmord beging.
Gegen Ende, die drei so grundverschiedenen Freunde gehen aus mancherlei
Gründen getrennte Wege und haben einander aus den Augen verloren, ändert
der Roman Tempo und Atmosphäre, denn unerwartet reihen sich womöglich
der überbordenden Fantasie José Cemís entsprungene abweichende
Erinnerungen und Geschichten über Atrius Flaminius, seines Zeichens
einstiger Militärtribun, sowie den von seiner wahnsinnig werdenden Frau
fünfzig Jahre lang bei lebendigem Leib konservierten Musikkritiker Juan
Longo abwechselnd aneinander. Sodann befindet sich der Leser mitten in
den unmittelbaren Vorgeschichten einiger zufällig in einem defekten
Autobus versammelter Fahrgäste, darunter ein seltsamer
Antiquitätensammler, der Kunsttischler Martincillo, der unglücklich in
Roxana verliebte Adalberto Kuller, der von der unersättlichen Lupita
erschöpfte Vivo mit einem soeben organisierten magischen Akkordeon, und
auch José Cemí, bevor ihn ein Taschendiebstahl aus der Versenkung reißt,
ins Grübeln versunken nach seinem Besuch mit zwei Bekannten bei einer
spiritistischen Mestizin. Die sich in dieser Situation ergebenden
Gedanken, Gespräche und Handlungen spinnen ein eigenes Geschichtennetz,
und es kommt zum schicksalhaften Aufeinandertreffen von José Cemí und
Oppiano Licario, dem der Oberst vor langer Zeit im Angesicht des Todes
ein besonderes Versprechen abgenommen hat. Selbstverständlich erfährt
man, umspielt von weiterführenden anderen Geschichten, so manches über
die außergewöhnlichen Talente Oppiano Licarios.
Diese ebenso unterhaltsamen wie schwungvollen Abschnitte beweisen, dass
José Lezama Lima auch ausgezeichnet ganz konventionell erzählen konnte.
Einen eindrucksvollen Beleg sowohl für den elitären Stellenwert als auch
den Umfang des Romans liefert Jürgen Schaefers anno 2016 bei "Piper"
erschienene "Gebrauchsanweisung für Kuba", in der über
Zigarrenmanufakturen unter Anderem zu lesen ist: "Auf einem Podest
über den Arbeitern ist ein weiterer Arbeitsplatz eingerichtet,
einzigartig auf der Welt: ein Stuhl, ein Tisch, ein Mikrofon. Hier
nimmt zur Morgenschicht der Vorleser Platz, um die Dreherinnen mit
sonorer Stimme zu unterhalten. Vorgelesen werden Nachrichten aus der
Tageszeitung 'Granma', aber auch Liebesromane und Weltliteratur: Der
Roman 'Paradiso' des großen kubanischen Literaten José Lezama Lima
bietet den Arbeiterinnen fünf Monate Unterhaltung. Die Tradition des
Vorlesens ist mehr als hundert Jahre alt; Zigarrendreher galten stets
als 'Intellektuelle des Proletariats'. Auch deshalb waren sie im
kubanischen Befreiungskrieg eine der Stützen des Widerstands gegen die
spanischen Kolonialherren."
"Paradiso" teilt vermutlich das Schicksal vieler sogenannter Klassiker
der Weltliteratur, deren Titel sich zwar hartnäckig ins kollektive
Gedächtnis eingegraben haben, die jedoch kaum ein Zeitgenosse
tatsächlich gelesen hat.
Beharrlichkeit und entsprechende Kondition vorausgesetzt, wächst man mit
der Herausforderung, den - im Gegensatz zu Rum und Zigarren - niemals
zum kubanischen Exportschlager gewordenen überbordenden Roman, der so
etwas wie ein Achttausender der Weltliteraturberge ist, zu lesen.
(kre; 08/2017)
José Lezama Lima: "Paradiso"
(Originaltitel "Paradiso")
Aus dem Spanischen von
Curt
Meyer-Clason unter Mitwirkung von Anneliese Botond.
Suhrkamp, 2010. 648 Seiten.
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Zur Netzpräsenz "Casa Museo José Lezama Lima"
Weitere Bücher des Autors:
"Inferno. Oppiano Licario"
Aus dem kubanischen Spanisch übersetzt, herausgegeben und mit einem
Nachwort versehen von
Klaus
Laabs. Mit einem Beiheft zu Leben und Werk des Autors.
Einer der Großen Lateinamerikas und der Weltliteratur wird hier mit
seinem zweiten bedeutenden Roman, der weltweit erstmals in seiner
vollständigen Fassung vorliegt, sichtbar gemacht: "Inferno. Oppiano
Licario" ist Fortführung und zugleich Vollendung des Jahrhundertromans
"Paradiso" und steht als des Opus magnum zweiter Teil doch allein für
sich.
Wir treffen in Havanna die altvertrauten Freunde Cemí, Fronesis und
Foción wieder, lernen in Paris aber auch amerikanische Künstler,
zwielichtige arabische Bombenwerfer sowie Ynaca Eco kennen, die
ätherische Schwester der Vaterfigur Oppiano Licario.
Als ein Meisterstück des modernen spanischsprachigen Barocks gelingt
Lezama Lima in "Inferno. Oppiano Licario" der Brückenschlag zwischen
Präzision und Ausschweifung, zwischen Traum und Wort. Und doch scheint
mit aller Kraft hinter seiner sinnenfreudigen Fabulierkunst, ohne dass
der tief gläubige Katholik Lezama Lima sein religiöses Grundverständnis
direkt anspricht, die heimliche Sehnsucht nach Erlösung hervor, nach der
Auferstehung
im Wort. Und so schließt "Inferno. Oppiano Licario" das
außergewöhnlichste Diptychon der spanischen Sprache und bildet
gleichermaßen den Schlusspunkt, die Versiegelung, des literarischen
Werks von José Lezama Lima. (Ammann)
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"Spiel der Enthauptungen.
Erzählungen"
(Frankfurter Verlagsanstalt)
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Weitere
Buchtipps:
Nina Preyer: "Severo Sarduys Zeichenkosmos. Theorie und Praxis einer
Romanpoetik des neobarroco cubano"
In den letzten vier Dekaden hat der Begriff "neobarroco" als
Charakterisierung der hispanoamerikanischen Literatur des 20.
Jahrhunderts zunehmend an Konsistenz verloren. In der vorliegenden
Studie wird erstmals zwischen dem "neobarroco cubano" als spezifischer
Romanpoetik, die sich aus dem Werk von Severo Sarduy ableiten lässt,
und dem "neobarroco" als bezeichnendem Phänomen der Literaturen
Hispanoamerikas unterschieden. Die poetischen Mechanismen des
"neobarroco cubano" lassen sich, wie in der Untersuchung der
literaturtheoretischen Texte Sarduys deutlich wird, sowohl auf
kulturtheoretische Denkfiguren von Lezama Lima als auch auf
semiotische und psycho-analytische Theoreme zurückführen, die Sarduy
als Freund einiger Mitglieder der Gruppe Tel Quel rezipiert und
weitergedacht hat. Anhand der Analyse ausgewählter Romane von Severo
Sarduy, Reinaldo Arenas, Guillermo Cabrera Infante, Virgilio Piñera
und José Lezama Lima werden die Genese und Rezeption der Poetik des
"neobarroco cubano" dargelegt und anschließend mit Lezama Limas
"barroco americano", dem bedeutendsten Konzept des "neobarroco",
kontextualisiert. (Universitätsverlag Winter)
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Jürgen
Schaefer:
"Gebrauchsanweisung für Kuba"
Jahrzehntelang herrschte Stillstand auf der Insel der Revolution, doch
mit den neuesten politischen Entwicklungen kommt Schwung in die Heimat
Fidel
Castros. Kenntnisreich zeichnet Jürgen Schaefer ein lebhaftes
Bild des Karibikinselstaats. Er führt durch die Innenstadt Havannas,
stellt die touristischen Glanzlichter und die Einzigartigkeit des
Naturparadieses vor. Er verrät, warum kubanische Zigarren so gut sind,
wo es den besten Mojito gibt, was ein Rikimbili ist und wie Blogger
auf Kuba für ihre Freiheit kämpfen. Bei diesem Streifzug lernt man die
Insel intensiv kennen, erfährt mehr über die Ansichten der Menschen,
das Leben im Sozialismus und die faszinierende Atmosphäre, die
Besucher nie wieder loslässt. (Piper)
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Ángel
Santiesteban:
"Wölfe in der Nacht. 16 Geschichten aus Kuba"
Der Erzählungsband "Wölfe in der Nacht" des kubanischen Autors Ángel
Santiesteban erzählt von einem anderen Kuba, fern der Postkartenidylle
und des scheinbar so karibisch-leichten Lebensflairs: verstörend,
eindringlich, hochpolitisch.
Unbeirrbar erhebt der Kubaner Ángel Santiesteban seine Stimme gegen
Willkür und Unterdrückung. Seine Erzählungen
sind durchwebt von eigenen Erfahrungen, ihr Spektrum reicht von
fantastisch bis zu erschütternd real: Da verschwindet eine Figur aus
ihrem Roman, um der Zensur zu entgehen; eine hungrige Meute Männer
zieht im Dunkel der Nacht los, um das Fleisch toter Rinder zu stehlen;
inmitten einer ausgelassenen Feier suchen einen Soldaten Erinnerungen
an den Angola-Krieg heim. (S. Fischer)
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Leseprobe:
"Fronesis' Vater, nunmehr besonnener Großrechtsanwalt von Cubanacán,
war Sohn eines kubanischen Diplomaten in Wien", begann Foción.
"Leidenschaftlicher Wissenstrieb und galante Spiele zerrten ihn
gleichmäßig stark am Rockschoß. Er lernte die Elfenbeinsammlung der
Habsburger ebenso gründlich kennen wie die verschiedenen Klassen der
Wiener Frauen. Die Wesenszüge, die dir bei Fronesis auffallen, waren
auch in seinem Vater, aber unentwickelt. Er suchte immer begierig die
andere Hälfte, die sich im Schatten verbirgt. Seine bemerkenswerte
kreolische Herrenhaftigkeit, überdies der Lebensstil, den er dank
seiner diplomatischen Stellung pflegte, erlaubten ihm, ein Freund Hofmannsthals,
Schnitzlers,
Alban
Bergs zu sein und gleichzeitig zu wissen, welche die letzte
Balletteuse war, die beim Verlassen des Theaters nicht nach Hause
ging. Welche man mit der flatterie des achtzehnten
Jahrhunderts zum Champagner einladen und welcher man einen gesunden
Klaps auf den Hintern geben mußte. Doch einmal, vielleicht nur das
eine Mal in seinem Leben, war er einer Situation nicht gewachsen und
versagte. Und das war sein Verderben ... oder gab seinem Leben eine
andere Richtung. Zwischen Sankt Petersburg und Paris zeigte Diaghilew
seine Schöpfungen in der vornehmen Gesellschaft Wiens mit Hilfe
einiger ballettbesessener junger Mädchen, die es ein Leben lang als
Ehre ansehen sollten, in einem Ensemble mitgewirkt zu haben, dessen
Primaballerina, die Tschernykowa, der Geschichte des Balletts in
seiner großen Epoche angehörte. Samt Erholungspausen, Ausflügen,
Palastbesuchen, Austausch zwischen Tanzakademien zog sich dieser
Aufenthalt einen Monat lang hin. Fronesis' Vater hatte Freundschaft
mit Diaghilew geschlossen, der ihn täglich sah und heißhungrig
ausfragte, mit jenem kosmologischen Heißhunger, der sein Hauptmerkmal
war, über Negerrhythmen, Yorubapauken, Zauberpraktiken und
Totenbeschwörung. Aus dem für Diaghilew zusammengestellten Wiener
Jungmädchenensemble starrte Fräulein Sunster mit erschrockenen
smaragdgrünen Augen jenen Kreolen an, den Diaghilew Tag und Nacht mit
seiner Suada bestürmte. Manchmal, wenn Vater Fronesis sprach, notierte
Diaghilew die Dinge, die er zum ersten Mal hörte, eher zeichnend als
schreibend, in ein Büchlein. Als Diaghilew dank der rasenden Energie,
mit der er, ein Mensch fast brutaler Entscheidungen, seinen
unmittelbaren Interessen nachging, die Vernarrtheit der Sunster für
den kreolischen Diplomaten sah, erzwang er eine eilige Lösung und lud
in einem für exotische Plaudereien geeigneten Separée zum Souper ein,
wo
Champagnerkorken knallten und ein mutwilliger Eros sich auf
eilfertiges Kitzeln mit Rokokogefächel verstand. Am Ende eines Monats
brach die Ballettgruppe ihre Zelte für eine lange Tournee in Paris
ab, und die Sunster, von einer vorbildlich gütigen Mutter, einem Vater
mit dem Beruf eines Ingenieurs und Schwestern mit der Neigung zu
paulinischen Mahnbriefen erzogen, floh in schweigener Übereinkunft mit
dem Kreolen aus ihrem Elternhaus. Die Familie, die sich auf die besten
Traditionen des Wiener Großbürgertums berief, wußte die Angelegenheit
so taktvoll zu behandelnt, daß sie nicht an die Öffentlichkeit
gelangte. Man sagte einfach, die Tschernykowa habe sich für die
erwachende Begabung der jungen Ballettbesessenen begeistert und ihrer
Familie empfohlen, sie mit nach Paris fahren zu lassen. Natürlich sei
die Familie ohne weiteres auf den Vorschlag eingegangen, der jeden mit
Stolz erfüllt hätte. Vater Fronesis schloß sich so eng der
Theatergesellschaft an, daß er von vielen für einen jungen
Bühnenbildner und Nebenbuhler Delaunays gehalten wurde. Kurze Zeit
darauf mußte die Sunster um jenen üblichen Urlaub bitten, der sie von
der Anwesenheit im Ensemble befreite. Ihre Füße hatten zu schwellen
begonnen, ihre Erschöpfungsseufzer, ihr voller werdendes Gesicht, das
die von den Wiener Statuen geforderte Symmetrie
einbüßte, offenbarten, daß du, falls es dein Begehr, nunmehr Ricardo
Fronesis begrüßen kannst, eingebunden in jene Mutterkuchenhalsbänder,
in seinen echten Nimbus unsterblicher Hypertelie. Doch da begann
Lächerlichkeit eine so liebenswerte und erzgewöhnliche romantische
Situation zu umstellen. Die ganze Situation, die ich dir in kurzen
Zügen geschildert habe, war nichts als eine Komödie der Irrungen und
Wirrungen."