"Siddhartha"
Eine indische Dichtung zur Sinnwelt protestantischer Gottsuche
"Siddhartha" von Hermann Hesse war für mich das
prägende
Literaturereignis in jungen Jahren, welchem es gelang, mich mit seiner
ihm
eigenen Faszination in die Welt der Literatur zu entführen. Es
war wohl weniger
das von Hesse abgehandelte Thema der Selbstfindung, als die
charismatische Figur
des Siddhartha, die sich vor meinem inneren Auge zu fleischlicher
Wirklichkeit
verdichtete und deren spirituelle Kraft mich zu ihrem Jünger
erwählte. So wie
manche Andere in ihrem Alltag die Bibel mit sich führen, so
trug ich den "Siddhartha"
bei mir, um in Augenblicken des Verharrens der Dichtung stille Weisheit
in mich
aufzunehmen.
Zwischenzeitlich
sind Jahre der Besinnung an mir
vorübergezogen, die Distanz und Vergessen gegenüber
dem Buch meiner Jugend
brachten. Dass es mir früher einmal ein Kultbuch war, scheint
mir heute kaum
noch vorstellbar zu sein, und die einstmalig rituelle Verehrung ist
einer kühl
gestimmten analytischen Betrachtungsweise gewichen. Ungeteilte
Ehrerbietung,
sehr wohl, sei diesem Buche nach wie vor zugestanden, welches als
indische
Dichtung von deutscherem und protestantischerem Gemüt ist, als
man nach
erstmaliger Lektüre vermeinen könnte.
"Siddhartha" ist in der Tat ein sehr persönliches Buch des
Hermann
Hesse, der auf die Figur des Brahmanensohns Siddhartha viel von seinem
eigenen
Streben, Zweifeln und Suchen überträgt. Biografische
Elemente zu Siddhartha
finden sich bereits in frühester Kindheit Hermann Hesses,
welcher am 2. Juli
1877 als Sohn des baltischen Missionars und späteren Leiter
des "Calwer
Verlagshaus" Johannes Hesse (1847-1916) in ein intellektuell wie auch
spirituell anregendes Milieu hineingeboren wurde. Der jugendliche
Hermann erwies
sich anfänglich als zu sensibel für die Anforderungen
seiner Umwelt, was
Verzweiflungshandlungen zur Folge hatte, wie etwa 1892 die Flucht aus
dem
evangelischen Klosterseminar in Maulbronn, in welchem Hermann ab
September 1891
Seminarist gewesen war. Seine Schulkarriere ist aus heutiger Sicht
nicht als
Ruhmesblatt zu deuten, doch besagt der Umstand des Scheiterns eines
späteren
Literaturnobelpreisträgers einiges über negative
Auslesemechanismen im
Schulwesen jener Tage. 1894 bis 1895 war Hermann für 15 Monate
Praktikant in
der Calwer Turmuhrenfabrik "Perrot". 1895 bis 1898 absolvierte Hermann
Hesse eine Buchhändlerlehre in Tübingen und
publizierte im Oktober 1898 sein
erstes Buch "Romantische Lieder". Seine ab 1900 aufgenommene
Tätigkeit
als Verfasser von Artikeln und Rezensionen für die "Allgemeine
Schweizer
Zeitung" begründete ihm einen lokalen Ruf als begabter
Schriftsteller,
welcher sich ab 1904 mit der Veröffentlichung des "Peter
Camenzind"
über den ganzen deutschen Kulturraum ausweitete. Die
Indienreise von 1911 und
die psychotherapeutische Behandlung durch den C.G.
Jung-Schüler J.B. Lang (ab
1916) und später (ab 1921) durch C.G. Jung persönlich
sind im Hinblick auf den
1922 bei S. Fischer, Berlin, erscheinenden "Siddhartha" als
werksbiografische Eckpunkte zu beachten. Hatte sich Hesse mit
Kriegsbeginn 1914
noch als Freiwilliger zum Kriegsdienst gemeldet - und dafür
den Befund seiner
Dienstuntauglichkeit eingeheimst - so verfasste er ab 1916 zahlreiche
politische
Aufsätze und Mahnrufe zum kriegerischen Zeitgeschehen in
deutschen,
schweizerischen und österreichischen Zeitungen. Hesse, der
seit 1924 wieder
Staatsbürger der Schweiz war (die Schweiz war ihm immer schon
eine Art Heimat
gewesen), trat 1931 aus der Sektion für Dichtkunst der
Preußischen Akademie
der Künste aus, unter deren Mitglieder er chauvinistische
Tendenzen zu erkennen
meinte, womit eine Wiederauflage des Unglücks von 1914 sich
anbahne. 1935 wurde
der S. Fischer Verlag (Hesses Verleger) in einen von Peter Suhrkamp
geleiteten
reichsdeutschen Teil und in den von Gottfried Bermann Fischer
geleiteten
Emigrationsverlag geteilt. Erste persönliche Begegnungen mit
Peter Suhrkamp im
September 1936 führten in der Folge zu einer fruchtbaren
Partnerschaft zwischen
diesen beiden Heroen deutscher Sprachkultur. Peter Suhrkamp, den 1944
die
Gestapo verhaftete, gründete 1950, nach Ermutigung durch Hesse
den
Suhrkamp-Verlag, welcher ab dann Hesses Werke verlegte. Das Werk
Hermann Hesses
wurde 1946 als Ausdruck eines anderen, eines humanistischen
Deutschlands mit dem
Nobelpreis
für Literatur gewürdigt. Am 9. August 1962
verstarb Hermann Hesse
in Montagnola, Tessin, in der Schweiz.
Die 1922 erschienene Erzählung "Siddhartha" ist Ergebnis einer
jahrelangen Befassung Hesses mit asiatischer Philosophie und
Spiritualität, die
bis in seine früheste Kindheit zurückreicht
(Großvater Gundert hatte eine
besondere Affinität zur indischen Kultur und war Verfasser
eines
Malajalam-Lexikons wie auch eines Malajalam-Liederbuchs; Lieder, die in
der
Familie Hesse gemeinschaftlich gesungen wurden). "Siddhartha" ist die
Geschichte des Brahmanensohnes Siddhartha, welche in vorchristlicher
Zeit (etwa
um 560 vor Chr.) angesiedelt ist, nämlich zu Lebzeiten des
historischen (doch
sagenhaft verklärten) Begründers
des
Buddhismus namens Siddharta Gotama (in Palitexten) oder
Gautama (in
Sanskrittexten), der in Hesses Erzählung als Person auftritt
und im dritten
Kapitel des ersten Teils mit Siddhartha eine freundliche
Meinungsverschiedenheit
hat, in welcher Siddhartha gegenüber dem erhabenen Buddha den
Sinn spiritueller
Anleitung durch einen Meister in Frage stellt. Der Erzähltext
selbst beginnt
mit dem Auszug des wegen vorzüglicher Gaben allseits
gerühmten und bewunderten
Brahmanensohns Siddharthas aus den geordneten Verhältnissen
seiner Kaste, die
ihm eine gesicherte Existenz in Ehr und Würden
vorherbestimmen. Siddhartha kann
in der Aussicht seines traditionsbestimmten Werdegangs nur Stagnation
und
Selbstverlust erkennen, bricht seinen verheißungsvollen
Werdegang zum
hochgestellten Brahmanen ab und schließt sich stattdessen der
radikalen, alle
Lebensbindung verneinenden Pilgerbewegung der Samanas an. Er
führt ein Leben
der Selbstverleugnung und Askese bis zu jenem Tag, an dem eine
persönliche
Begegnung mit dem Buddha Gotama ihn von der Zwecklosigkeit
selbstquälerischer
Praktiken überzeugt. Die Lehre des Buddha vom umfassenden
Lebensleid und sein
Heilsweg des "endgültigen Verlöschens"
können Siddhartha jedoch
nicht überzeugen, der dem Erhabenen entgegenhält,
dass wahre Erkenntnis nicht
aus Lehren, sondern nur aus eigener Erfahrung gewonnen werden kann.
Siddhartha,
der seines letztlich geführten Lebens rigoroser Weltverneinung
überdrüssig
geworden ist, öffnet seine Sinne wieder den Freuden dieser
Welt, führt ein
gutbürgerliches Leben als erfolgreicher Kaufmann, erlernt bei
der Kurtisane
Kamala die Kunst erotischer Liebe, bis zu jenen Tagen, als auch diese
bald schon
zur unschönen Routine erstarrte Existenzweise dem innerlich
unbefriedigten
Sinnsucher schal und verworfen erscheint und er voll Selbstekel in ein
neues
letztes Lebensabenteuer aufbricht. Wie schon zuvor ist der
Identitätswechsel
radikal vollzogen. Der reiche und ebenso dekadente Geldmensch
verwandelt sich über
Nacht in einen selbstbescheidenen Fährmann, dessen
größte Freude es ist den
vorbeiziehenden Wassermassen seines Flusses zu lauschen. Eine letzte
Phase der
Verzweiflung wiederfährt Siddhartha durch die ihn betreffende
Ablehnung seines
leiblichen Sohnes, welchen er gegen Ende seiner
großbürgerlichen Lebensweise,
mit der Kurtisane Kamala gezeugt hatte und der nach dem Tod seiner
Mutter ein
Leben bei dem absonderlichen Vater, fernab vom spaßigen
Trubel der Stadt
mittels seiner Flucht verweigert. Noch lange brennt der Schmerz
verletzter
Vaterliebe in ihm, doch dann erleuchtet sich sein Wesen im Erlebnis
göttlicher
Einheit, die alle Widersprüche von Leben und Geist, Dogmen und
Lehren, auf sich
und in sich zurückführt. Siddhartha hat den Weg zum
innerweltlichen Heil
gefunden und dieser Weg beschreibt sich als Weg der Irrwege, die es zu
gehen
galt. Nicht in Askese und Abwendung vom Leben liegt die Antwort auf die
Frage
nach Sinn und Zweck des Lebens, sondern über die Hingabe an
das Leben, mit all
seinen Irrungen, findet der Mensch zu einem Leben aus dem Selbst.
Hermann Hesse
entwirft solcherart das Konzept zu einer religiös
verbrämten Heilslehre,
welche - auf der Tiefenpsychologie von C.G. Jung basierend - die
quälende Frage
des Ich-Bewusstseins nach Sinn und Zweck seiner Existenz, über
Auflösung des
Ich durch seine Rückführung auf eine
überindividuelle Ebene (C.G.
Jung
spricht vom kollektivem Unbewussten), in den unmittelbaren
Lebensvollzug
integriert.
Hermann Hesses "Siddhartha" ist eines der meistgelesenen
Bücher
dieser Welt, dessen millionenfache Verbreitung im asiatischen Raum ein
Indiz für
die authentische Übertragung buddhistischen und taoistischen
Gedankenguts in
seine "indische Dichtung" ist. Nichts desto weniger handelt es sich um
ein zutiefst deutsches bzw. protestantisches Buch, dessen Thema die
Dialektik
von "Werden und Entwerden" ist, welche ihre Wurzeln in der
europäischen
Mystik (etwa eines Meister
Eckhart) hat. Das Wachsen und Streben in der Natur, der
tausendstimmige
Gesang des Flusses, die Besinnung des Naturmenschen auf sein Selbst,
all das
sind ebenso westliche wie östliche Motive und das Suchen des
Siddhartha nach
dem Nirvana
ist zugleich protestantische Gottsuche, zumal auch typisch
buddhistische Motive
wie die - ohne Seelensubstanz zu denkende - Wiedergeburtslehre und die
karmische
Tatvergeltung wesentlich ausgespart bleiben, stattdessen das
europäische Motiv
nach Selbstverwirklichung dominiert. Setzt man den Lebenslauf des
Siddhartha in
vergleichenden Bezug zur buddhistischen Lehre vom karmischen
Kausalzusammenhang,
demnach der Kreislauf karmischen Werdens nur durch Wissen über
das Nichtwissen
und die daraus folgenden Übel überwunden werden kann,
so verhält sich
Siddhartha gegenüber der buddhistischen Lehre protestantisch
ignorant. Er
gesteht sich ein Leben in Unwissenheit zu, lässt sich von
karmagestaltenden
Triebkräften beherrschen, nicht asiatische Hingabe an des
Erhabenen
Weisheitslehre, sondern europäisches Aufbegehren gegen
Konventionen und Diktate
des Begrifflichen, die Selbstsetzung zum Übermenschen
moduliert sein Tun und
Lassen. Und in der Tat erinnert Siddhartha in seiner konkreten
Entworfenheit an
eine poetische Inkarnation des Übermenschen, wie ihn Friedrich
Nietzsche in
seinen Umrissen skizziert hat. Freilich, auch - der ebenso aus dem
protestantischen Kulturkreis entstammende - Nietzsche war ein profunder
Kenner
der buddhistischen Lehre und insofern schließt sich in der
Figur des Übermenschen
wieder der Kreis west-östlicher Motive.
Siddhartha mag als übermenschlich gezeichnete Person den
reiferen autoritätskritischen
Leser zu einer reservierteren Haltung verleiten, hingegen den
jugendlichen oder
religiös aufnahmebereiten Leser zu leidenschaftlicher Hingabe
an die strahlende
Herrlichkeit seines Charismas verführen. Wie ich schon zu
Beginn der
Buchbesprechung ausgeführt haben, ist mir beides widerfahren:
Naive Hingabe an
den aus sich wirkenden "Willen zur Macht" und kritische
Distanziertheit gegenüber einem Charisma, das als
charismatische Herrschaft
lautlos zur Gefolgschaft ruft. Der im Stil biblischer Diktion verfasste
Text
verklärt allzu rasch die Person des Siddhartha zum verkappten
Religionsgründer
und es wundert gar nicht, wenn Henry Miller in einem bedeutungsschweren
Denkspruch einst vermerkte, dass "Siddhartha" für ihn eine
wirksamere
Medizin als das Neue Testament ist. Bei diesen Worten fühlt
man sich unwillkürlich
an den von Nietzsche diagnostizierten Tod Gottes erinnert, dessen
Erkenntnis dem
Menschen nur dann erträglich ist, wenn er sich selbst zum
Übermenschen vergöttlicht.
"Siddhartha" beschreibt die Selbstvergöttlichung des starken,
selbstherrlichen Menschen in einer gottlosen Welt. Eine kritische
Textdeutung
sollte zu dem Schluss kommen, dass die vorgebliche "indische Dichtung"
genauso gut als "abendländisch-deutsche Dichtung" zu erkennen
ist,
und der augenscheinliche Wille zum buddhistischen Verlöschen
sich als Wille zur
protestantischen Erkenntnis des Göttlichen in der irdischen
Kreatur offenbart.
(Tasso)
Hermann
Hesse: "Siddharta"
Buch
bei amazon.de bestellen
Hier findet sich eine Arbeit zum Thema Hermann Hesse und Amerika