Hermann Hesse (1877-1962)

"Siddhartha"
Eine indische Dichtung zur Sinnwelt protestantischer Gottsuche


"Siddhartha" von Hermann Hesse war für mich das prägende Literaturereignis in jungen Jahren, welchem es gelang, mich mit seiner ihm eigenen Faszination in die Welt der Literatur zu entführen. Es war wohl weniger das von Hesse abgehandelte Thema der Selbstfindung, als die charismatische Figur des Siddhartha, die sich vor meinem inneren Auge zu fleischlicher Wirklichkeit verdichtete und deren spirituelle Kraft mich zu ihrem Jünger erwählte. So wie manche Andere in ihrem Alltag die Bibel mit sich führen, so trug ich den "Siddhartha" bei mir, um in Augenblicken des Verharrens der Dichtung stille Weisheit in mich aufzunehmen. 

Zwischenzeitlich sind Jahre der Besinnung an mir vorübergezogen, die Distanz und Vergessen gegenüber dem Buch meiner Jugend brachten. Dass es mir früher einmal ein Kultbuch war, scheint mir heute kaum noch vorstellbar zu sein, und die einstmalig rituelle Verehrung ist einer kühl gestimmten analytischen Betrachtungsweise gewichen. Ungeteilte Ehrerbietung, sehr wohl, sei diesem Buche nach wie vor zugestanden, welches als indische Dichtung von deutscherem und protestantischerem Gemüt ist, als man nach erstmaliger Lektüre vermeinen könnte.

"Siddhartha" ist in der Tat ein sehr persönliches Buch des Hermann Hesse, der auf die Figur des Brahmanensohns Siddhartha viel von seinem eigenen Streben, Zweifeln und Suchen überträgt. Biografische Elemente zu Siddhartha finden sich bereits in frühester Kindheit Hermann Hesses, welcher am 2. Juli 1877 als Sohn des baltischen Missionars und späteren Leiter des "Calwer Verlagshaus" Johannes Hesse (1847-1916) in ein intellektuell wie auch spirituell anregendes Milieu hineingeboren wurde. Der jugendliche Hermann erwies sich anfänglich als zu sensibel für die Anforderungen seiner Umwelt, was Verzweiflungshandlungen zur Folge hatte, wie etwa 1892 die Flucht aus dem evangelischen Klosterseminar in Maulbronn, in welchem Hermann ab September 1891 Seminarist gewesen war. Seine Schulkarriere ist aus heutiger Sicht nicht als Ruhmesblatt zu deuten, doch besagt der Umstand des Scheiterns eines späteren Literaturnobelpreisträgers einiges über negative Auslesemechanismen im Schulwesen jener Tage. 1894 bis 1895 war Hermann für 15 Monate Praktikant in der Calwer Turmuhrenfabrik "Perrot". 1895 bis 1898 absolvierte Hermann Hesse eine Buchhändlerlehre in Tübingen und publizierte im Oktober 1898 sein erstes Buch "Romantische Lieder". Seine ab 1900 aufgenommene Tätigkeit als Verfasser von Artikeln und Rezensionen für die "Allgemeine Schweizer Zeitung" begründete ihm einen lokalen Ruf als begabter Schriftsteller, welcher sich ab 1904 mit der Veröffentlichung des "Peter Camenzind" über den ganzen deutschen Kulturraum ausweitete. Die Indienreise von 1911 und die psychotherapeutische Behandlung durch den C.G. Jung-Schüler J.B. Lang (ab 1916) und später (ab 1921) durch C.G. Jung persönlich sind im Hinblick auf den 1922 bei S. Fischer, Berlin, erscheinenden "Siddhartha" als werksbiografische Eckpunkte zu beachten. Hatte sich Hesse mit Kriegsbeginn 1914 noch als Freiwilliger zum Kriegsdienst gemeldet - und dafür den Befund seiner Dienstuntauglichkeit eingeheimst - so verfasste er ab 1916 zahlreiche politische Aufsätze und Mahnrufe zum kriegerischen Zeitgeschehen in deutschen, schweizerischen und österreichischen Zeitungen. Hesse, der seit 1924 wieder Staatsbürger der Schweiz war (die Schweiz war ihm immer schon eine Art Heimat gewesen), trat 1931 aus der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste aus, unter deren Mitglieder er chauvinistische Tendenzen zu erkennen meinte, womit eine Wiederauflage des Unglücks von 1914 sich anbahne. 1935 wurde der S. Fischer Verlag (Hesses Verleger) in einen von Peter Suhrkamp geleiteten reichsdeutschen Teil und in den von Gottfried Bermann Fischer geleiteten Emigrationsverlag geteilt. Erste persönliche Begegnungen mit Peter Suhrkamp im September 1936 führten in der Folge zu einer fruchtbaren Partnerschaft zwischen diesen beiden Heroen deutscher Sprachkultur. Peter Suhrkamp, den 1944 die Gestapo verhaftete, gründete 1950, nach Ermutigung durch Hesse den Suhrkamp-Verlag, welcher ab dann Hesses Werke verlegte. Das Werk Hermann Hesses wurde 1946 als Ausdruck eines anderen, eines humanistischen Deutschlands mit dem Nobelpreis für Literatur gewürdigt. Am 9. August 1962 verstarb Hermann Hesse in Montagnola, Tessin, in der Schweiz.

Die 1922 erschienene Erzählung "Siddhartha" ist Ergebnis einer jahrelangen Befassung Hesses mit asiatischer Philosophie und Spiritualität, die bis in seine früheste Kindheit zurückreicht (Großvater Gundert hatte eine besondere Affinität zur indischen Kultur und war Verfasser eines Malajalam-Lexikons wie auch eines Malajalam-Liederbuchs; Lieder, die in der Familie Hesse gemeinschaftlich gesungen wurden). "Siddhartha" ist die Geschichte des Brahmanensohnes Siddhartha, welche in vorchristlicher Zeit (etwa um 560 vor Chr.) angesiedelt ist, nämlich zu Lebzeiten des historischen (doch sagenhaft verklärten) Begründers des Buddhismus namens Siddharta Gotama (in Palitexten) oder Gautama (in Sanskrittexten), der in Hesses Erzählung als Person auftritt und im dritten Kapitel des ersten Teils mit Siddhartha eine freundliche Meinungsverschiedenheit hat, in welcher Siddhartha gegenüber dem erhabenen Buddha den Sinn spiritueller Anleitung durch einen Meister in Frage stellt. Der Erzähltext selbst beginnt mit dem Auszug des wegen vorzüglicher Gaben allseits gerühmten und bewunderten Brahmanensohns Siddharthas aus den geordneten Verhältnissen seiner Kaste, die ihm eine gesicherte Existenz in Ehr und Würden vorherbestimmen. Siddhartha kann in der Aussicht seines traditionsbestimmten Werdegangs nur Stagnation und Selbstverlust erkennen, bricht seinen verheißungsvollen Werdegang zum hochgestellten Brahmanen ab und schließt sich stattdessen der radikalen, alle Lebensbindung verneinenden Pilgerbewegung der Samanas an. Er führt ein Leben der Selbstverleugnung und Askese bis zu jenem Tag, an dem eine persönliche Begegnung mit dem Buddha Gotama ihn von der Zwecklosigkeit selbstquälerischer Praktiken überzeugt. Die Lehre des Buddha vom umfassenden Lebensleid und sein Heilsweg des "endgültigen Verlöschens" können Siddhartha jedoch nicht überzeugen, der dem Erhabenen entgegenhält, dass wahre Erkenntnis nicht aus Lehren, sondern nur aus eigener Erfahrung gewonnen werden kann. Siddhartha, der seines letztlich geführten Lebens rigoroser Weltverneinung überdrüssig geworden ist, öffnet seine Sinne wieder den Freuden dieser Welt, führt ein gutbürgerliches Leben als erfolgreicher Kaufmann, erlernt bei der Kurtisane Kamala die Kunst erotischer Liebe, bis zu jenen Tagen, als auch diese bald schon zur unschönen Routine erstarrte Existenzweise dem innerlich unbefriedigten Sinnsucher schal und verworfen erscheint und er voll Selbstekel in ein neues letztes Lebensabenteuer aufbricht. Wie schon zuvor ist der Identitätswechsel radikal vollzogen. Der reiche und ebenso dekadente Geldmensch verwandelt sich über Nacht in einen selbstbescheidenen Fährmann, dessen größte Freude es ist den vorbeiziehenden Wassermassen seines Flusses zu lauschen. Eine letzte Phase der Verzweiflung wiederfährt Siddhartha durch die ihn betreffende Ablehnung seines leiblichen Sohnes, welchen er gegen Ende seiner großbürgerlichen Lebensweise, mit der Kurtisane Kamala gezeugt hatte und der nach dem Tod seiner Mutter ein Leben bei dem absonderlichen Vater, fernab vom spaßigen Trubel der Stadt mittels seiner Flucht verweigert. Noch lange brennt der Schmerz verletzter Vaterliebe in ihm, doch dann erleuchtet sich sein Wesen im Erlebnis göttlicher Einheit, die alle Widersprüche von Leben und Geist, Dogmen und Lehren, auf sich und in sich zurückführt. Siddhartha hat den Weg zum innerweltlichen Heil gefunden und dieser Weg beschreibt sich als Weg der Irrwege, die es zu gehen galt. Nicht in Askese und Abwendung vom Leben liegt die Antwort auf die Frage nach Sinn und Zweck des Lebens, sondern über die Hingabe an das Leben, mit all seinen Irrungen, findet der Mensch zu einem Leben aus dem Selbst. Hermann Hesse entwirft solcherart das Konzept zu einer religiös verbrämten Heilslehre, welche - auf der Tiefenpsychologie von C.G. Jung basierend - die quälende Frage des Ich-Bewusstseins nach Sinn und Zweck seiner Existenz, über Auflösung des Ich durch seine Rückführung auf eine überindividuelle Ebene (C.G. Jung spricht vom kollektivem Unbewussten), in den unmittelbaren Lebensvollzug integriert.

Hermann Hesses "Siddhartha" ist eines der meistgelesenen Bücher dieser Welt, dessen millionenfache Verbreitung im asiatischen Raum ein Indiz für die authentische Übertragung buddhistischen und taoistischen Gedankenguts in seine "indische Dichtung" ist. Nichts desto weniger handelt es sich um ein zutiefst deutsches bzw. protestantisches Buch, dessen Thema die Dialektik von "Werden und Entwerden" ist, welche ihre Wurzeln in der europäischen Mystik (etwa eines Meister Eckhart) hat. Das Wachsen und Streben in der Natur, der tausendstimmige Gesang des Flusses, die Besinnung des Naturmenschen auf sein Selbst, all das sind ebenso westliche wie östliche Motive und das Suchen des Siddhartha nach dem Nirvana ist zugleich protestantische Gottsuche, zumal auch typisch buddhistische Motive wie die - ohne Seelensubstanz zu denkende - Wiedergeburtslehre und die karmische Tatvergeltung wesentlich ausgespart bleiben, stattdessen das europäische Motiv nach Selbstverwirklichung dominiert. Setzt man den Lebenslauf des Siddhartha in vergleichenden Bezug zur buddhistischen Lehre vom karmischen Kausalzusammenhang, demnach der Kreislauf karmischen Werdens nur durch Wissen über das Nichtwissen und die daraus folgenden Übel überwunden werden kann, so verhält sich Siddhartha gegenüber der buddhistischen Lehre protestantisch ignorant. Er gesteht sich ein Leben in Unwissenheit zu, lässt sich von karmagestaltenden Triebkräften beherrschen, nicht asiatische Hingabe an des Erhabenen Weisheitslehre, sondern europäisches Aufbegehren gegen Konventionen und Diktate des Begrifflichen, die Selbstsetzung zum Übermenschen moduliert sein Tun und Lassen. Und in der Tat erinnert Siddhartha in seiner konkreten Entworfenheit an eine poetische Inkarnation des Übermenschen, wie ihn Friedrich Nietzsche in seinen Umrissen skizziert hat. Freilich, auch - der ebenso aus dem protestantischen Kulturkreis entstammende - Nietzsche war ein profunder Kenner der buddhistischen Lehre und insofern schließt sich in der Figur des Übermenschen wieder der Kreis west-östlicher Motive.

Siddhartha mag als übermenschlich gezeichnete Person den reiferen autoritätskritischen Leser zu einer reservierteren Haltung verleiten, hingegen den jugendlichen oder religiös aufnahmebereiten Leser zu leidenschaftlicher Hingabe an die strahlende Herrlichkeit seines Charismas verführen. Wie ich schon zu Beginn der Buchbesprechung ausgeführt haben, ist mir beides widerfahren: Naive Hingabe an den aus sich wirkenden "Willen zur Macht" und kritische Distanziertheit gegenüber einem Charisma, das als charismatische Herrschaft lautlos zur Gefolgschaft ruft. Der im Stil biblischer Diktion verfasste Text verklärt allzu rasch die Person des Siddhartha zum verkappten Religionsgründer und es wundert gar nicht, wenn Henry Miller in einem bedeutungsschweren Denkspruch einst vermerkte, dass "Siddhartha" für ihn eine wirksamere Medizin als das Neue Testament ist. Bei diesen Worten fühlt man sich unwillkürlich an den von Nietzsche diagnostizierten Tod Gottes erinnert, dessen Erkenntnis dem Menschen nur dann erträglich ist, wenn er sich selbst zum Übermenschen vergöttlicht. "Siddhartha" beschreibt die Selbstvergöttlichung des starken, selbstherrlichen Menschen in einer gottlosen Welt. Eine kritische Textdeutung sollte zu dem Schluss kommen, dass die vorgebliche "indische Dichtung" genauso gut als "abendländisch-deutsche Dichtung" zu erkennen ist, und der augenscheinliche Wille zum buddhistischen Verlöschen sich als Wille zur protestantischen Erkenntnis des Göttlichen in der irdischen Kreatur offenbart.

(Tasso)


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