Carlo Collodi: "Pinocchio"

"Pinocchio ist wahrhaftig Italiens großes Buch. Für mich ist es größer als Manzonis Verlobte. Ein Buch, das nie aufhört, uns zu ernähren, uns zum Staunen zu bringen, uns zu trösten: ein kleines, so vollkommenes Universum mit seinen Gesetzen, die wir nie mehr verleugnen werden." (Federico Fellini über Pinocchio)

Zur Person
Carlo Collodi wurde am 24. November 1826 in Florenz in bescheidenen Verhältnissen geboren. Er hatte elf Geschwister, sein Vater war von Beruf Koch. Der Dienstherr seiner Eltern förderte den jungen Mann und finanzierte ihm eine fundierte Ausbildung. Collodi studierte Philosophie und Rhetorik. Nach seinem Abschluss nahm er eine Stelle als Bibliothekar an, dann wurde er Journalist und schließlich Verfasser von Kinderbüchern.

Collodis richtiger Name war Carlo Lorenzini. Sein Pseudonym, für das der Geburtsort seiner Mutter Pate stand, legte er sich um 1860 zu.
Zu dieser Zeit war Italien noch geteilt. Bevor Rom zur Hauptstadt des Landes erklärt wurde, nahm Florenz einige Jahre diese Position ein und herrschte als kunst- und literatursinnige Kapitale über Dörfer wie beispielsweise Collodi, einem ländlichen Idyll in der Toskana. Von dieser Umgebung lässt sich Lorenzini zu seinem berühmten Helden inspirieren. Dieses ländliche Universum beeinflusste ihn auch noch, als er sich bereits endgültig in Florenz niedergelassen hatte.
Dort besuchte er literarische Kreise und traf mit Persönlichkeiten der kulturellen Welt Italiens zusammen. Aber er machte auch die Bekanntschaft ausländischer, insbesondere französischer Künstler. Man gewährte ihm Einblick in das Universum der Maler und Karikaturisten von Florenz.

Collodi arbeitete mit zahlreichen politischen Zeitschriften zusammen. Er selbst war Herausgeber einiger Satireblätter, die wegen ihres scharfen und kritischen Blicks sehr angesehen waren, und leistete einen wichtigen Beitrag zur Identität Italiens. Als streitbarer Mensch und Mann mit Prinzipien verspottete er die damaligen Sitten und zeichnete mit scharfer Feder ein Bild der Justiz und des Unterrichtswesens, das sich in der zauberhaften Welt Pinocchios wiederfindet. In dem noch unvereinten Italien wurde er als politisch engagierter Autor bekannt, der für die Unabhängigkeit kämpfte und sich gegen die österreichische Besatzung und die Allmacht der katholischen Kirche zur Wehr setzte. Collodi galt als Trinker und Spieler, und so wurde von der Qualität seiner Arbeit keine Notiz genommen. Es hieß, er würde hier und da etwas schreiben, um seine Spielschulden zu begleichen, er hätte zahllose Liebesabenteuer, und er wäre "stinkfaul". Doch das alles hielt ihn weder vom Schreiben noch von seiner journalistischen Arbeit ab, die er niemals aufgab. Er sagte: "Wer einmal in die Haut eines Journalisten geschlüpft ist, bekommt sie nie wieder los."

Unter dem Dach seines vermögenden Bruders, eines Industriellen, arbeitet er intensiv weiter. Hier bringt er auch die ersten Abenteuer von Pinocchio zu Papier. Das erste Abenteuer wurde am 7. Juli 1881 in "Giornale per i bambini" veröffentlicht, einer der ersten Wochenzeitschriften für Kinder. Diese Zeitschrift dürfte jedoch einem Großteil der italienischen Kinder, die weder eine Schule besuchten noch lesen und schreiben konnten, nicht bekannt gewesen sein.

Von nun an brachten die Schelmenabenteuer der Holzpuppe Millionen von Lesern zum Lachen, zum Weinen und zum Träumen. Collodi beherrschte die Kunst, für die kindliche Seele zu schreiben. Die Welt der Possenreißer, in der sich die Menschen in Esel verwandeln, die Tiere sprechen können und die Kinder das Sagen haben ...

Collodi entdeckte die Geheimnisse dieser Wunderwelt, als er 1875 die Märchensammlung von Charles Perrault übersetzte:. "Rotkäppchen", "Die Siebenmeilenstiefel" ... Für sein eigenes Märchenuniversum schöpfte Collodi in den alten toskanischen Traditionen. Die der Marionetten war damals sehr lebendig: Jede Familie stellte Holzpuppen her, getreue Abbilder ihrer verstorbenen Vorfahren, ausgewanderten Onkel, Nachbarn, die auf Reisen oder unterwegs in himmlische Gefilde waren. In dieser geschlossenen, dieser armen, ländlichen Welt, die ihre Wurzeln und Traditionen verteidigt, schuf der Zauber von Collodi ein Universum der Fantasie, einen Raum der Freiheit.

Als Collodi seinem Verleger die erste Folge schickte, hieß es in seinem Begleitschreiben: "Ich sende dir diese Kinderei. Wenn du sie veröffentlichst, versuche, mich angemessen zu bezahlen, damit ich Lust zum Weitermachen bekomme."
Die Geschichte der Marionette ist so erfolgreich, dass Collodi sich dem Druck seiner Leser beugt und neue Abenteuer erfindet. Und die Geschichte der Holzpuppe, die über dem Ast der großen Eiche hängt, wird zu einem regelrechten Heldenepos. Weit entfernt vom erhobenen Zeigefinger der Fabeln und den damaligen pädagogischen Prinzipien, hatte Collodi eine wunderbare Welt erschaffen. Carlo Collodi musste offensichtlich dazu angetrieben werden, beständig und pünktlich neue Folgen der Pinocchio-Geschichte abzuliefern. Wäre der eifrige Redakteur der Zeitschrift "Giornale per i bambini", Guido Biagi, nicht gewesen, hätte es das wunderbare Märchen von Pinocchio vielleicht nie gegeben.

Die Folgen - insgesamt 36 - erschienen zwischen 1881 und 1883 in unregelmäßigen Abständen in der Kinderzeitschrift. Der ursprüngliche Titel der Fortsetzungsgeschichte lautete "La storia di un burattino" - die Geschichte eines Hampelmanns.
Die Erstveröffentlichung als Buch erschien 1883 mit Illustrationen von Enrico Mazzanti. Das Buch machte den Autor mit einem Schlag weltberühmt. Die Geschichte von Pinocchio wurde in beinahe alle Sprachen übersetzt und ist eines der weltweit meistgelesenen Kinderbücher.
Die kleine, naive Holzpuppe ist heute ein italienischer Nationalheld - Pinocchio, das Geisteskind des politisch engagierten Carlo Lorenzini.

Lorenzini starb 1890 in Florenz.

"Pinocchio"
Über Pinocchio ist schon sehr viel erzählt und spekuliert worden. Er hat es mit der Zeit zu großen Ehren gebracht, die für eine erfundene Figur wohl einzigartig sind. Jedes Jahr gibt es Kongresse, die sich speziell mit Pinocchio beschäftigen. Die "Pinocchiologie" ist für zahlreiche Forscher ein lehrreicher Gegenstand. Einer der heutzutage besten Autoren Nordamerikas, Paul Auster, schreibt in seinem Buch "Die Erfindung der Einsamkeit" von seiner Vorliebe für Pinocchio. Er meinte im Übrigen, dass der Autor, Collodi (Lorenzini) sich durch das Schreiben des Buches von der Marionette, die er selbst war, befreit habe. Es gibt sehr viel Mythos rund um die Figur des Pinocchio. Die Interpretationen sind weitläufig, und das Universum an Verfilmungen ist einzigartig. Jene filmische Annährung aus dem Jahre 1972 mit Nino Manfredi als Gepetto und Gina Lollobrigida als Fee gilt auch in Fachkreisen als gelungenste. Besonderes Element des Films ist die Verwandlungsmentalität des Pinocchio, der von Andrea Ballestri verkörpert wird. Pinocchio wird zwischenzeitlich immer wieder zum Menschen, um dann durch Unachtsamkeiten und schlechtes Betragen das Schicksal einer Holzpuppe ertragen zu müssen. Dies ist different zu der vielen Kindern bekannten 52-teiligen Zeichentrick-Serie, wo Pinocchio bald von Gina, dem Küken, durch alle möglichen Abenteuer begleitet wird, von denen einige mit dem Buch inkohärent sind.
Ein Püppchen wird lebendig und macht seinem Schöpfer allerlei Kummer und Sorgen. Kinder spielen gern mit Puppen oder Figuren. Das Kasperletheater ist im europäischen Kulturkreis zu einer Institution geworden, die nicht wegzudenken ist. Und Pinocchio ist ein wahrhaftig lebendiger Protagonist dieser magischen Welt, die für Kinder von grenzenloser Bedeutung ist. Die bemerkenswerteste Szene des Pinocchio ist wohl auch das Zusammentreffen mit den Marionetten, die im Übrigen ebenso lebendig wie er selbst wirken. Wenngleich Pinocchio als "Entwicklungsroman" betrachtet werden kann, ist es doch in erster Linie die Verselbstständigung einer Idee, aus der jene Abenteuer wuchern, die für Klein und Groß von immenser Bedeutung sind. Pinocchio kann nicht als entwicklungspsychologischer Kontext aus dem magischen Zentrum herausgelöst werden, dem Millionen von Kindern Jahr für Jahr unterliegen.
Entscheidende Figur neben Pinocchio ist die Fee, welche als Mutter und Schwester fungiert, die einzig und allein für die "gesunde Entwicklung" des suchenden Knaben verantwortlich sein kann. Bei der Fee handelt es sich jedoch keineswegs um die Idealisierung einer Mutterfigur. Es ist eher genau umgekehrt: Indem die Fee Pinocchio immer wieder ins Verderben rennen lässt, erkennt der Knabe erst die Qualität einer Mutter, die zu verzeihen und viel Liebe zu geben imstande ist.
Äußerst tragisch etwa, dass Pinocchio einen Grabstein entziffert, auf dem vom Tode der Fee zu lesen ist, die sich so sehr über Pinocchio gegrämt hat. Das wirkt unheimlich brutal. Doch der Junge kann in dieser Situation nur auf diese Weise zur Räson gebracht werden.

Die Geschichte zeigt auf wie wichtig es ist, von den Erwachsenen zu lernen und böse Zeichen interpretieren zu können. Es gilt, niemandem auf dem Leim und schon als Kind seinen Weg zu gehen. Man könnte fast glauben, dass der Autor von Pinocchio seinen jungen Lesern das "Freidenkertum" als Grundvoraussetzung persönlichen Wachstums suggeriert hat. Den eigenen Weg zu gehen mag gerade für Kinder von acht oder neun Jahren nur schwer nachvollziehbar sein. Sie sind direkt in familiäre Strukturen eingebunden, die gerade heutzutage häufig zerrüttet sind. Doch schon für Kinder wäre es wichtig, einen Einblick in die Welt zu bekommen, die vor der Haustür auf einen lauert. Die Gefahren sind nicht hausgemacht, sondern real. Und mit Schicksalsschlägen können Kinder intuitiv besser umgehen als Erwachsene. Es ist also keineswegs falsch, Kinder dazu anzuregen, Gedanken zu artikulieren, die in ihrem Kopf herumschwirren und völlig abseitig erwachsener Konformität gedeihen mögen. Pinocchio bietet unendlich viel Raum für Fantasie. Und somit sehr viel Gesprächsstoff zwischen Kindern und Erwachsenen.

Was bedeutet eigentlich der Name "Pinocchio"? Im Italienischen ist der Sinn nicht eindeutig. Zuerst mag man an die florentinische Form von "pinolo" denken, das heißt "Pinienkern" sowohl im Sinne des süßen, essbaren Samens aus dem Zapfen als auch des harten Kernholzes der Pinie, aus dem Hampelmänner geschnitzt werden. Aber in Collodis Geheimsprache, die in der Toskana mündlich überliefert ist, soll "pinolo" die Bedeutung von "Hungerleider" haben und ein anderer Name für den in Vergessenheit geratenen "Stenterello", den Harlekin der florentinischen Commedia dell'Arte sein, der immer ein paar gemeine Scherze auf Lager hatte. Demnach trüge die kleine Holzpuppe den Namen der bekannten florentinischen Bühnengestalt, der sie wie ein Bruder gleichen soll. Etwas unsauber ausgesprochen klingt der Name allerdings auch wie das umgangsprachliche italienische Schimpfwort "finocchio", das "kleiner Schwuler" bedeutet.

In psychoanalytischer Hinsicht wurde Pinocchio freilich schon vielfach gedeutet. Es wäre jedoch verwegen, aus dieser wunderbaren Figur Dinge abzuleiten, die weit über das hinausgehen, was uns Collodi mit der Geschichte sagen wollte. Jeder Leser sollte sich seinen eigenen Reim darauf machen. Tollkühne Abenteuer führen letztlich dazu, dass Pinocchio den Weg aus dem "Wald der Verfehlungen" findet. Die Begegnung mit Gepetto im Walfisch ist eine großartige Darstellung der inneren Zerstreuung, die nur durch das Wagnis eines "Ausbruchs aus althergebrachten Illusionen" aufgelöst werden kann. Gepetto und Pinocchio sind endlich vereint, und das Leben ist nunmehr innerlich von der Magie erfasst, die das Buch von Geschichte zu Geschichte erhellt hat.

Die zahlreichen Informationen über den Erfinder des Pinocchio hat der Rezensent einem wunderbaren Themenabend des Fernsehsenders "Arte" zu verdanken. In den einschlägigen Literaturlexika konnte nur wenig eruiert werden. Umso höher ist der Fundus von "Arte" zu schätzen.

(Jürgen Heimlich)


Carlo Collodi: "Pinocchio"
Aus dem Italienischen von Helga Legers.
Diogenes, 2003. 224 Seiten.
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Weiterführende Lektüre:

Dieter Richter: "Carlo Collodi und sein Pinocchio"

Das vorliegende Buch beschäftigt sich u.a. auch mit dem Autor, der Entstehungsgeschichte des "Pinocchio" und spezifischen psychologischen bzw. psychoanalytischen Mustern, die der Geschichte eingeordnet sind. (Rezension)