Aurelius Augustinus (354-430)

"Bekenntnisse"

Aber ich in meiner Jugend
wich von dir ab,
verirrte mich weit von dir,
mein Gott,
der mein Halt sein sollte,
und ward mir selbst
eine Stätte des Darbens.
(Aurelius Augustinus: "Confessiones")


Man kann zu seiner Philosophie stehen, wie man will. Seine Sprache jedoch ist von überirdischer Schönheit und noch allemal eine weitergehende Befassung wert.

Die wirkmächtigste Schöpfung seines reichhaltigen Werkes stellen gewiss seine "Bekenntnisse" (lat. "Confessiones") dar, welche im Ausklang der Antike das Erbe antiker Philosophie aufgreift und in ansprechender Weise die Grundlagen für eine eigenständige christliche Philosophie aufbereitet, welche nicht mehr in der römischen Reichsidee wurzelt.

Aurelius Augustinus wurde am 13. November 354 n. Chr. in Thagaste/Numidien geboren, war also Nordafrikaner. Jene Region war zu dieser Zeit Teil des weströmischen Reiches, wie auch sein Vater römischer Provinzbeamter war. Aurelius wurde nicht nur im Geiste römischer Kultur erzogen, sondern insbesondere durch seine Mutter Monnica mit dem Christentum vertraut gemacht, welches im Imperium längst schon toleriert und unter Kaiser Theodosius (379-395 n. Chr.) zur offiziellen Staatsreligion erhoben worden war. Auf Betreiben seiner Mutter hatte sich Aurelius zwar schon in jungen Jahren mit den Schriften des Neuen Testaments befasst, doch schreckte ihn die rigide Strenge christlicher Moral ab, und er fühlte sich von der seines Erachtens ungelehrten Sprache der Bibel zurückgestoßen. Dank eines begüterten Gönners war es Augustinus ermöglicht, sich in der Provinzhauptstadt Karthago dem Studium von Philosophie und Rhetorik zu widmen, derweil er sich einem lästerlichen Triebleben hingab. Geldmangel zwang ihn zum Studienabbruch, nach Hause zurückgekehrt trieb er sein Unwesen als Mitglied einer Jugendbande, bis er neuerlich in Karthago ein Jurastudium aufnehmen durfte, welches er diesmal zu einem Abschluss bringen konnte. Nachdem er sich eine Zeitlang mit nur mäßigem Erfolg in Karthago und Rom als Lehrer für Rhetorik versucht hatte, ging er nach Mailand, wo neuerdings der Kaiser residierte, und avancierte an dessen Hof dank bester Beziehungen (u. a. zu einflussreichen Manichäern) zum offiziellen Redner imperialer Herrschaft. Wir würden ihn heute als den Pressesprecher des Kaisers bezeichnen.

In den Zwiespalt zwischen dem missionarischen Eifer seiner dominanten Mutter Monnica und der ihn beherrschenden Sinneslust gezwängt, suchte Aurelius Augustinus verzweifelt nach moralischem Halt und geistiger Orientierung, welche ihm die zur bloßen Formelhaftigkeit degenerierten heidnischen Kulte nicht mehr gewährleisten konnten. Seine Mutter, welche ihrem nestflüchtigen Sohn nach Mailand gefolgt war, erzwang seine Trennung von seiner nordafrikanischen Geliebten, mit der er bereits ein uneheliches Kind hatte, und verlobte ihn ganz karrierebewusst mit einem Mädchen aus bester Gesellschaft, welches jedoch noch nicht ein heiratsfähiges Alter erreicht hatte. Es sollte nie zur Ehe kommen.

Aurelius, der sich ursprünglich den im römischen Reich florierenden Manichäern zugewandt hatte, einer streng dualistischen Religion (Gut und Böse, Geist und Materie, Licht und Finsternis), synkretisiert aus gnostischen, persischen und christlichen Elementen, näherte sich unter dem Einfluss des charismatischen Bischofs Ambrosius (339-397) dem Christentum an, bis ihn ein, in den Bekenntnissen geschildertes, dramatisches Bekehrungserlebnis ganz zum Christen werden ließ.

Augustinus wandte sich sodann von seinen Gefährtinnen fleischlicher Gelüste ab, zog sich aus seinem weltlichen Beruf zurück, ließ sich in der Osternacht 387 taufen und schlug fortan die Laufbahn eines Priesters und Kirchengelehrten ein. Nach einer zwischenzeitlichen Phase als Eremit wurde er anno 391 zum Priester geweiht und 395 von der Kirchenbürokratie mit dem Bischofssitz von Hippo Regius (heute Annaba in Algerien) betraut, wo er mit der Belagerung dieser Stadt durch die germanischen Vandalen im Jahre 430 persönlich den Zusammenbruch des römischen Reiches erleben sollte. Augustinus starb während dieser Belagerung.

Nicht die "Bekenntnisse" ("Confessiones"), sondern das im Grunde als politologisch zu erachtende Buch "Über den Gottesstaat" ("De civitate Dei") ist als sein Hauptwerk zu werten, mit welchem er bemüht war, die christliche Welt- und Heilsordnung von dem zerfallenden Imperium Romanum christianum ein für allemal loszulösen, was seit der für die spätantike Welt so schockierenden Eroberung Roms durch den germanischen Heiden Alarich, im Jahre 410 n. Chr., eine absolute Notwendigkeit geworden schien. "Rom als Idee" christlichen Staatsdenkens musste fallen, weil Rom als historische Tatsache gefallen war. Die in jenen Jahren in maßloser Übertreibung kolportierte - tatsächlich jedoch nicht erfolgte - materielle Zerstörung der "Ewigen Stadt" durch heidnische Barbaren musste eine von ideeller Abhängigkeit befreiende, geistige Zerstörung zur Konsequenz haben. Die Romkritik des philosophierenden Kirchenfürsten kannte folglich auch keine Gnade mit dem absterbenden Weltstaat, mit dem, nach Meinung vieler in Panik verfallener Zeitgenossen, der ganze christliche Erdkreis unterzugehen drohte.

Aus literarischer Sicht gleichermaßen erheblicher wie erbaulicher sind jedoch die "Confessiones" des großen Kirchengelehrten, welche ihn als Meister der poetischen Formulierung und des philosophischen Gedankens ausweisen. Im Großen und Ganzen liegt uns mit den "Bekenntnissen" eine philosophisch gehaltene Autobiografie vor, die mit erstaunlicher Schonungslosigkeit das eigene Leben vorführt und wegen der darin eingeflochtenen Gedankenfülle zu einem Standardwerk christlicher Philosophie wurde. Der an der Universität Wien lehrende Philosoph Konrad Paul Liessmann bemerkt in seinem Buch "Die großen Philosophen und ihre Probleme" dazu: "Seine Ehrlichkeit war Augustinus allerdings erst durch einen rhetorischen Kunstgriff möglich geworden; denn seine Confessiones sind von ihm in der Gestalt eines überdimensionierten Gebetes an Gott verfasst worden. Die Confessiones sind deshalb auch kein authentischer Erfahrungsbericht im modernen Sinn, sondern getränkt von antiker Rhetorik, durchsetzt von Bildern und Metaphern, deren unmittelbarer Wahrheitsgehalt wohl nicht immer gegeben ist. Trotzdem wurden die Bekenntnisse des Augustinus zum Prototyp eines subjektorientierten Philosophierens, eines Denkens, das von den Verstrickungen der eigenen Existenz ausgeht und in der vorbehaltlosen Reflexion auf dieses Subjekt vordringen will." - Es handelt sich eben schlicht und einfach um Philosophie, die sich aus der Selbstbetrachtung von Lebensfreude und Lebensleid entwickelt. Wobei Augustinus' Hauptproblem seine unbändige Sinnlichkeit war: die Sexualität.

In seinen "Bekenntnissen" skizziert sich Augustinus selbst als Typus des Sinnsuchenden, der, bis zu jenem dramatisch inszenierten Bekehrungserlebnis, zwischen den Polaritäten keuscher Enthaltsamkeit und der als Krankheit empfundenen Begehrlichkeit hin und her taumelt. Erst die Einordnung in einen objektiven Heilszusammenhang gewährt ihm Halt und Erlösung von seiner bedrohlich erlebten Sinnenlust. "Nicht in Fressen und Saufen, nicht in Kammern und Unzucht, nicht in Hader und Neid, sondern ziehet an den Herrn Jesus Christus und hütet euch vor den fleischlichen Gelüsten." Es ist dieser im - vermutlich erdichteten - Bekehrungserlebnis wiedergegebene Apostelspruch, welcher Augustinus Erlösung von seiner sexuellen Besessenheit verheißt. Er begreift die Bibelstelle als göttliche Anordnung zur Askese, lässt sich taufen, verkauft - so wie es die Bibel auch anordnet - sein Hab und Gut und wagt den Schritt in die Askese.

Augustinus tat wirklich so, doch meinte die Kirchenpolitik nicht auf den großen Denker verzichten zu können und holte den Eremiten alsbald zurück in die herrschaftliche Funktion eines Bischofs.

Man könnte nun meinen, was für eine simple Erkenntnis diesen großen Mann doch bewog, sein Leben so grundlegend zu ändern. Er entdeckt in höchster emotionaler Erregung eine auf sein zentrales Lebensproblem passende biblische Textstelle und zieht daraus eine hysterische Konsequenz? Man könnte tatsächlich so argumentieren, doch war für Augustinus das Erleben von Selbsterkenntnis untrennbar mit der Hinwendung zu Gott verbunden: "Ich erkenne mich selbst nur im Licht der Wahrheit dessen, durch den ich immer schon erkannt (geschaffen) bin." Freilich delegiert Augustinus sein Lebensproblem an einen überindividuellen höherwertigen Wahrheitsbegriff, doch so war nun einmal sein selbstgewählter Lebensweg. Ein durchaus existenzialistischer Freiheitsbezug, den der Kirchengelehrte somit für sich in Anspruch nahm.

Die "Confessiones" untergliedern sich in zwei große Abschnitte. In den vorangehenden Textstellen beschreibt Augustinus seine lästerliche Lebensführung, Verzweiflung und innere Zerrissenheit in den Jahren vor der Bekehrung. Die nachfolgenden Schriftteile enthalten den eigentlich philosophischen Abschnitt, u.a. die faszinierende "Memoriallehre" sowie bewusstseinsphilosophische Erwägungen über die Erfahrung, die Wahrheitssuche, das Bewusstsein und die Zeit.
So stellt sich Augustinus etwa - im Abschnitt über die Zeit - die Frage nach dem Tun und Lassen Gottes, bevor er Himmel und Erde schuf. Seine Antwort dazu im Wortlaut: "Du, unser Gott, bist Schöpfer aller Kreatur, und wenn die Worte Himmel und Erde ein Inbegriff aller Kreatur sind, sage ich getrost: Ehe Gott Himmel und Erde machte, machte er nichts."
Hierbei handelt es sich keineswegs nur um das bloße Gedankenspiel eines versonnenen Theologen, sondern um eine Aussage von allgemeiner Erkenntniskraft. Gott tat nichts, und so ist es auch zu verstehen, denn wo nichts getan wird, dort ist auch nichts. Ohne den Akt der Schöpfung gibt es jedoch auch keine Zeit; vielmehr ist die Zeit selbst ein Geschöpf der Schöpfung und nicht außerhalb ihrer denkbar. Bevor Gott das Dasein schuf, tat er nichts und brütete in aller Ewigkeit vor sich hin. Und diese Ewigkeit bestimmt Augustinus erstmals nicht als unendliche Zeitdauer (es gab ja keine Zeit), sondern als ein Außerhalb-von-Zeit-Sein, als das Zeitlose, das nicht von jenem Sein und Werden berührt wird, wie es sich im Rahmen der Daseinskategorien von Raum und Zeit findet. Zeit bedeutet in erster Linie, dass Gegenwärtiges vergeht: "Muss man also nicht in Wahrheit sagen, dass Zeit nur darum sei, weil sie zum Nichtsein strebt?", fragt Augustinus. Jedoch, Zeit ist keine objektive Größe für sich genommen, sondern Zeit ist nur als "Gegenwart des Vergangenen, Gegenwart des Gegenwärtigen und Gegenwart des Zukünftigen" in der Seele und "anderswo sehe ich sie nicht." Und weiter konkretisiert Augustinus seinen psychologischen Zeitbegriff: "Gegenwart des Vergangenen ist die Erinnerung, Gegenwart des Gegenwärtigen die Anschauung, Gegenwart des Zukünftigen die Erwartung." Ohne - menschliches oder göttliches - Bewusstsein von der Zeit kann es keinen Zeitbegriff geben. Wirklich ist dann nur die Ewigkeit zeitlosen Vergehens des Seienden, das sich darin selbst genügt. Augustinus bedient sich bei der Erhellung des Zeitproblems also der psychologischen und nicht etwa einer substanziellen Betrachtungsweise (im Sinne von Physik), weshalb man hinsichtlich seiner Philosophie mit Fug und Recht von einer frühen Form der Bewusstseinsphilosophie sprechen kann, bzw. von einem Vorläufer der Tiefenpsychologie. In dieses psychologisierende Schema passen übrigens auch seine in dem Buch "Vom Gottesstaat" getätigten präfreudianischen Reflexionen über das Problem der Scham, welche die Menschen erstmals mit dem Sündenfall empfanden und zwar nicht wegen der plötzlichen Erkenntnis ihrer bloßen Nacktheit etwa, sondern, weil ihnen bewusst wird, dass " ... die betreffenden Glieder sozusagen nach eigenem Gesetz und durchaus nicht nur nach unserer Willkür erregt oder nicht erregt werden", also nicht der menschlichen Willenskraft unterworfen sind. Und folglich ist auch die sexuelle Begierde eine autonome - auf den Sündenfall zurückgehende - Kraft im Menschen, der er nicht Herr ist und derer er sich somit zu Recht schämt. Die Unwillentlichkeit der Erregung gilt es zu bekämpfen, gleich welcher Art die Erregung auch immer ist. (Auch der Verlust von Contenance gilt ja schließlich als Sünde.) Scham und Sünde fallen bei Augustinus reaktiv ineinander, und die Scham - wie etwa das Erröten - ist völlig gerechtfertigt, als peinliche Kenntnis leiblich anhaftender (erblich erworbener) Sündhaftigkeit, derer sich auch der keusche Wille kaum erwehren kann.

Als Persönlichkeit war und blieb Augustinus ein Zerrissener, der die Bedürfnisse seiner Leiblichkeit als feindselige Bedrohung seiner geistlichen Sittlichkeit erlebte und somit im Grunde den bipolaren manichäischen Denkprinzipien seiner jungen Jahre - trotz aller Distanzierungswut - unwillkürlich verbunden blieb. Unmöglich schien es ihm, scheinbare Widersprüche wie insbesondere Sexualität und Geistigkeit zum symbiotischen Ausgleich zu bringen. Das Ergebnis seines inneren Ringens war eine gewisse fanatische, wenn auch wortgewandt und mit bestechender Argumentationsgabe begründete Unduldsamkeit, die in der abendländischen Geistesgeschichte auf wohl fatale Weise wirkmächtig wurde. Die seinen "Confessiones" innewohnende Sexualfeindlichkeit sollte eine allgemeine - gelinde gesagt - sexualkritische Geisteshaltung im Christentum begünstigen, die selbst noch rund eineinhalbtausend Jahre später in etwa den großen Romancier Leo Tolstoj zu einer scharfen, christlich inspirierten, Absage menschlicher Sinnesgelüste verleitete, welche in seiner Novelle "Die Kreutzersonate" in schon beinahe obszöner Manier zur literarischen Manifestation geriet. Das Leben des Augustinus blieb bis zuletzt ein unglückliches Bewusstsein, ob der in ihm widerstreitenden sich selbst zerfleischenden Gegensatzpaare, deren unversöhnliche Begriffswidersprüche (Hell contra Dunkel, Geist contra Trieb) das Wesen des Mannes innerlich verhärteten, sodass er, in Glaubensdogmatismus erstarrt, als Kirchenfürst nicht davor zurückscheute erstmals in der noch jungen Geschichte der christlichen Reichskirche Militär gegen angebliche Häretiker anzufordern. Seine "Bekenntnisse" legen ein eindrucksvolles Zeugnis für die innere Zerrissenheit eines besonders begabten Menschen ab, der, seiner philosophischen Neigung gemäß, diesen nie enden wollenden inneren Konflikt als Rivalität überweltlicher Prinzipien auslegte und diesen in eine philosophisch-theologische Form fasste, deren gleichermaßen gedanklicher wie poetischer Reichtum den Leser in demütiges Staunen versetzt. Man ahnt das Drama des begabten Kindes und verstummt davor in stiller Betroffenheit.
Sein grandioses Werk gilt es jedoch zu erlesen, weil es von erlesener Güte ist.

(Harald Schulz)


Aurelius Augustinus: "Bekenntnisse"
dtv, 1997. 471 Seiten.
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