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Aus den Traumtagebüchern
Gestern Nacht
erschien mir die Schlange. Ich war überrascht, obwohl mich eigentlich
nur noch wenig zu überraschen vermag. Sie war schöner, als ich sie in
Erinnerung hatte. Ihre schuppige grüne Haut schimmerte wie das
Regenwasser auf den Bananenpflanzen, die wir auf dem kleinen Stück Land
hinter den Traumhöhlen großzogen. Vielleicht ist es so, dass ich nun, da
ich älter werde, Schönheit auch dort wahrnehmen kann, wo ich sie früher
nie erwartet hätte.
Es ist schon eine Weile her, meine Freundin, sagte ich. Aber ich gebe
dir nicht die Schuld daran. Jetzt nicht mehr.
Um mir zu zeigen, dass auch sie mir nichts nachtrug, weitete die
Schlange ihre Augen. Es war, als wenn ein Sonnenstrahl auf einen
Spiegelsplitter fällt.
Das letzte Mal, als sie mir erschienen war, hatte es große Veränderungen
in meinem Leben gegeben. Es war eine Zeit, die neue Möglichkeiten
versprach – und Dunkelheit brachte. Danach war sie nicht mehr
zurückgekehrt, obgleich ich geweint und nach ihr gerufen hatte, bis
meine Stimme mich verließ.
Warum kam sie jetzt, da ich endlich in Frieden lebte, mich mit all
meinen Verlusten und all den getroffenen Vereinbarungen abgefunden
hatte? Da ich meine Fäuste geöffnet und all die Dinge, nach denen ich
mich sehnte, hatte hinausgleiten lassen?
Ein Licht erleuchtete ihren Körper. Es war ein klares, intensives Licht
mit einer Spur von Küstenvioletttönen – ein Spätnachmittag inmitten der
Zypressen entlang des Pazifiks.
Ich betrachtete sie für eine Weile und wusste, dass sie gekommen war, um
mir eine weitere Veränderung vorherzusagen.
Aber um wen mochte es dabei gehen, und von welcher Art mochte die
Veränderung sein?
Gewiss keine Geburt. Das würde sich Rakhi nicht antun, wo sie doch
bereits allein erziehende Mutter ist. Wenngleich dieses Kind schon mein
ganzes Leben lang immer das Unerwartete getan hat.
Möglicherweise eine Vereinigung? Kehrte Rakhi zu Sonny zurück, wie ich
es insgeheim immer noch hoffte? Oder trat vielleicht ein neuer Mann in
ihr Leben?
Die Schlange verlor langsam ihr Leuchten. Es wurde immer schwächer, bis
sie die Farbe von Unkraut trug, das auf der Wasseroberfläche schwimmt,
nur noch ein schwacher Nachklang in grünlichem Schlick.
Sie sagte einen Tod
voraus.
Mein Herz begann zu pochen, langsam, unrhythmisch. Ein arthritisches
Hämmern, das in jeder Höhlung meines Körpers widerhallte.
Lass es nicht Rakhi sein und auch nicht Sonny oder Jonaki. Lass es nicht
mein Ehemann sein, den ich in so vielerlei Hinsicht enttäuscht habe. Die
Schlange war schon beinahe unsichtbar, als sie sich schließlich
zusammenrollte und langsam wieder streckte. Geheimnisvolle Zeichen,
Verwicklungen, Entwirrungen.
Ich begriff.
Wird es wehtun?, flüsterte ich. Wird es sehr wehtun?
Die Schlange schlug mit ihrem Schwanz. Die Luft hatte die Farbe von
alten Telegrafenleitungen.
Wird es wenigstens schnell gehen?
Ihre Schuppen blinzelten ein Ja. Rauch zog von irgendwoher auf und
hüllte sie ein. Oder gehörte der Rauch zu dem, was kommen würde?
Wird es schon bald geschehen?
Im Funkeln ihrer Augen lag eine kleine Irritation. In der Welt, in der
sie lebte, hatte „bald“ keine Bedeutung. Ich hatte wieder einmal die
falsche Frage gestellt.
Sie begann sich davonzuschlängeln. Ihre Zunge war wie eine dünne,
rosafarbene Peitsche. Mich überkam das absurde Verlangen, sie zu
berühren.
So warte doch! Wie kann ich mich darauf vorbereiten?
Die Schlange wandte mir das flache Oval ihres Kopfes zu. Ich streckte
die Hand aus. Ihre Zunge – aber sie war ja gar nicht wie eine Peitsche,
sondern ganz weich und voller Traurigkeit, wie aus alter Seide gemacht!
Ich glaube, sie sagte: Es gibt keine andere Vorbereitung, als zu
verstehen.
Aber was soll
ich denn verstehen?
Der Tod beendet alles, aber er kann auch ein Anfang sein. Eine
Gelegenheit, das gutzumachen, was du verpfuscht hast. Kannst du dich
überhaupt noch daran erinnern, was das gewesen ist?
Ich versuchte mich zurückzuversetzen. Es war, als würde man durch
Milchglas blicken. Die mit Sand gefüllten Höhlen. Die
Unterrichtsstunden. Als Novizinnen lernten wir die Träume von Bettlern
und Königen und Heiligen zu deuten. Ravana, Tunga-dhwaja, Varada Muni …
Aber ich hatte auf halbem Wege aufgegeben.
Die Schlange verschwand langsam. Ein Gedanke strich wie ein Atemzug über
meine Haut.
Aber nur, wenn du den günstigen Augenblick wahrnimmst. Nur, wenn du …
Dann war sie fort.
Meine Mutter
schlief immer allein. Bis zum Alter von acht Jahren machte ich mir
darüber keine Gedanken. Es gehörte einfach zu unserem abendlichen
Ritual. Zuerst brachte sie mich zu Bett, saß noch eine Weile lang auf
der Bettkante und strich mir im Halbdunkel summend und mit sanften
Fingern über das Haar.
Der nächste Teil des Rituals bestand aus dem Erzählen von Geschichten.
Ich war diejenige, die die Geschichten erfand. Sie handelten von
Nina-Miki, einem Mädchen in meinem Alter, das auf einem Planeten namens
Agosolin III wohnte und ein erstaunlich abenteuerliches Leben führte. Es
wäre mir lieber gewesen, wenn meine Mutter Geschichten erzählt hätte,
Geschichten aus
Indien, dem Land, in dem sie aufgewachsen war und das mir
unendlich geheimnisvoll erschien. Aber meine Mutter sagte, dass sie
keine guten Geschichten kenne und dass Indien gar nicht so geheimnisvoll
sei. Sie behauptete, es sei lediglich irgendein Land, im Grunde gar
nicht so viel anders als Kalifornien. Ich war nicht überzeugt, quengelte
aber nicht allzu sehr, denn Nina-Mikis Abenteuer waren – meiner eigenen
bescheidenen Meinung nach – ziemlich spannend, und ich war stolz darauf,
dass ich sie erfunden hatte und meine Mutter, die eine gute Zuhörerin
war, als mein Publikum fungierte.
Wenn ich mit meiner Geschichte geendet hatte, küsste mich Mutter auf die
Stirn, mit Lippen, die so kühl wie Silber waren. Schlaf jetzt, flüsterte
sie im Hinausgehen und schloss die Tür hinter sich. Doch ich blieb noch
für eine Weile wach liegen und lauschte dem leisen, baumwollenen
Rascheln ihres saris. Sie ging durch den Flur, verharrte vor der Tür zum
Schlafzimmer meines Vaters – denn genau das war dieser große, dunkle
Raum im hinteren Teil des Hauses mit dem allzu weichen Bett und der
gebatikten Tagesdecke für mich –, und ich vernahm das freundliche
Gemurmel ihrer Stimmen. Einige Minuten später hörte ich, wie sich seine
Tür schloss und ihre Schritte davonstrebten. Sie bewegte sich leise und
selbstsicher, so, wie sich Hirsche wohl inmitten der Tiefen der Wälder
fortbewegen, und das Rascheln ihrer Kleidung glich dem leisen Rauschen
der Blätter.
Ich lauschte für gewöhnlich, bis sich die Tür zum Nähzimmer geöffnet und
geschlossen, ich das Seufzen der Angeln vernommen hatte. Dann ließ ich
mich in die Schokoladensirup-Welt meiner Träume fallen.
Ich träumte sehr viel in jenen Jahren, und meine Träume waren oft von
einer erdrückenden Intensität. Ich erwachte daraus mit so heftig
klopfendem Herzen, dass ich befürchtete, es würde zerspringen. Wenn ich
mich dann wieder zu bewegen vermochte, tastete ich mich den dunklen
Korridor entlang bis zum Nähzimmer. Unter meinen Fingern waren die Wände
rau und fremd, gewellt wie Dinosaurierhaut. Ich hatte keine Ahnung,
warum sie das Zimmer so nannte – sie nähte nie.
Wenn ich die seufzende Tür geöffnet hatte, erblickte ich meine Mutter
auf dem Boden, das Gesicht zur Wand gedreht, die Decke bis über den Kopf
gezogen, so regungslos, dass ich einen Moment lang befürchtete, sie sei
tot. Doch sie wachte sofort auf, ganz so, als hätte sie mich gerochen,
wie ein Tier sein Junges riecht. Ich versuchte unter ihre Decke zu
kriechen, doch sie brachte mich jedes Mal freundlich, aber bestimmt in
mein eigenes Bett zurück. Sie legte sich neben mich und strich mir über
das Haar, und manchmal, wenn der Albtraum besonders schlimm gewesen war,
sagte sie Worte, die ich nicht verstand, bis ich wieder eingeschlafen
war. Doch sie blieb niemals bei mir. Wenn ich am Morgen aufgewacht war,
stand sie in der Küche und bereitete Rühreier zu. Das Nähzimmer war
wieder leer – ich fand nie heraus, wo sie ihr Bettzeug aufbewahrte. Der
Teppich war nicht einmal eingedrückt, nichts deutete darauf hin, dass
dort jemand geschlafen hatte.
Ich machte meine Entdeckung an einem Nachmittag, als ich mich zum
Spielen im Haus einer Klassenkameradin aufhielt. Das kam selten vor,
denn trotz des Drängens meiner Mutter spielte ich nur wenig mit Kindern
meines Alters, weil sie mich nicht besonders interessierten. Ich zog es
vor, bei meiner Mutter im Haus zu bleiben, obwohl sie mich nicht dazu
ermutigte. Gelegentlich lauschte ich hinter einer Tür, während sie
telefonierte, oder ich beobachtete sie, wenn sie mit geschlossenen Augen
und vor Konzentration gerunzelter Stirn auf dem Sofa saß. Ich fand es
erstaunlich, wie still sie dasitzen konnte, vollkommen in sich
versunken. Ich versuchte es hin und wieder auch, vermochte es aber nur
wenige Minuten durchzuhalten, bevor ich am ganzen Körper ein Kribbeln
verspürte.
Ich habe den Namen des Mädchens vergessen und auch, warum wir im Laufe
des Nachmittags in das Schlafzimmer ihrer Eltern gingen, aber ich
erinnere mich noch, dass es mich ermahnte, nicht auf das Bett ihrer Eltern zu
springen, da diese das nicht mochten.
»Soll das heißen, dass deine Mutter hier schläft – bei deinem Vater?«,
fragte ich überrascht und ein wenig empört.
»Natürlich«, erwiderte meine Klassenkameradin. »Tut das deine Mutter
denn nicht?«
Angesichts ihres ungläubigen Blicks ließ ich den Kopf sinken.
»Deine Familie ist wirklich seltsam«, stellte sie fest.
Von diesem Tag an begann ich ernsthafte Forschung zu betreiben. Ich
besuchte die Kinder, die ich kannte (und das waren nicht allzu viele),
eins nach dem anderen zu Hause und überprüfte zwischen Spielen und
Süßigkeiten und Fernsehen wie nebenbei die Schlafgewohnheiten ihrer
Mütter. Schließlich kam ich zwangsläufig zu dem Schluss, dass meine
Familie in der Tat seltsam war.
Mit den Statistiken bewaffnet, stellte ich meine Mutter zur Rede. Das
war der Moment, in dem ich die andere Entdeckung machte, die, die mir
während all der Jahre des Heranwachsens immer wieder einen Rippenstoß
versetzen, die an mir nagen und die sich über mich lustig machen sollte.
Meine Mutter war eine Traumdeuterin.
Diese Entdeckung fiel mir nicht etwa leicht. Meine Mutter sprach nicht
gern über sich und hatte im Laufe meiner Kindheit ihre Methoden, meinen
Fragen auszuweichen, perfektioniert. Dieses Mal blieb ich allerdings
beharrlich.
»Warum schläfst du nicht mit Vater in einem Zimmer?«, fragte ich immer
wieder. »Oder wenigstens mit mir, wie Mallikas Mutter es tut? Hast du
uns denn nicht lieb?«
Sie schwieg so lange, dass ich die Frage schon ein weiteres Mal stellen
wollte. Aber dann sagte sie: »Doch, ich habe euch lieb.« Ich konnte den
Widerwillen aus ihrer Stimme heraushören, er war wie Rost und machte
ihre Stimme schrill. »Ich schlafe nicht bei dir oder deinem Vater, weil
meine Aufgabe darin besteht zu träumen. Und das kann ich nicht, wenn
jemand mit mir im Bett liegt.«
Weil meine Aufgabe darin besteht zu träumen. Fasziniert ließ ich mir die
Worte durch den Kopf gehen. Ich verstand sie nicht, hatte mich aber
bereits in sie verliebt. Ich wünschte mir, sie eines Tages auch einmal
zu jemandem sagen zu können. Zugleich jagten sie mir Angst ein. Sie
schienen Mutter für mich unerreichbar zu machen.
»Was meinst du damit?«, fragte ich und verlieh meiner Stimme einen
wütenden Tonfall.
Ein ganz bestimmter Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht – ich hätte ihn
wohl als Verzweiflung erkannt, hätte ich ihn damals schon benennen
können. »Ich träume die Träume anderer Menschen«, sagte sie. »So kann
ich ihnen dabei helfen, ihr Leben zu leben.«
Ich verstand es immer noch nicht, aber ihr Gesicht war blass und
verkrampft, wirkte zusammengeschnürt wie ein Kokon, und sie hielt ihre
Hände im Schoß umklammert. Ich brachte es nicht über mich, ihr noch
weiter zuzusetzen. Hatte sie mir nicht die wichtigste Sache überhaupt
eingestanden: dass sie uns lieb hatte? Ich nickte, als sei ich zufrieden
mit ihrer Erklärung.
Ihr Lächeln spiegelte ihre Erleichterung. Sie umarmte mich. Ich spürte
die Reste von Steifheit in ihren Schultern. (...)
aus "Königin der Träume" von Chitra Divakaruni