(...) Da war der Wald aus und ich sah mich auf dem Berge stehen, welcher der Heimatstadt gegenüber liegt; aber welchen Anblick bot diese! Der Fluß war zehnmal breiter als sonst und glänzte wie ein Spiegel; die Häuser waren alle so groß wie sonst die Münsterkirche, von der fabelhaftesten Bauart, und glänzten im Sonnenschein, die Fenster mit einer Fülle von Blumen geziert, die schwer über die mit Bildwerken bedeckten Mauern herabhingen. Die Linden stiegen unabsehbar in den dunkelblauen durchsichtigen Himmel hinein, der ein einziger Edelstein schien, und die riesigen Lindenwipfel wehten dran hin und her, als ob sie ihn noch blanker fegen wollten, und zuletzt wuchsen sie in die durchsichtige blaue Kristallmasse hinein.
Zwischen den grünen Laubgebirgen der Linden stiegen die Münstertürme empor, während das ungeheure Steinschiff unter Hügeln von Millionen herzförmiger Lindenblätter lag und nur da oder dort eine purpurrote oder blaue Glasscheibe hervorfunkelte, von einem verlorenen Sonnenstrahl durchschossen. Die goldenen Kronen aber, welche die Turmknöpfe bildeten, schimmerten in der Himmelshöhe und waren voll junger Mädchen; die streckten ihre Lockenköpfe rings durch den gotischen Zierat in die Welt hinaus. Obgleich ich jedes Lindenblatt scharf umrissen erkannte, vermochte ich doch nicht zu sehen, wer alle diese Mädchen waren, und ich beeilte mich, hinüberzukommen, da es mich sehr wundernahm, wer alle diese Mitbürgerinnen sein möchten.
Zur rechten Zeit sah ich den Goldfuchs neben mir stehen, legte ihm den Mantelsack auf und begann den jähen Staffelweg hinunterzureiten, der zur Brücke führte. Jede Staffel war aber ein geschliffener Bergkristall und darin eingeschlossen lag ein spannelanges Weibchen, gleichsam schlafend, von unbeschreiblichem Ebenmaß und Schönheit der Gliederchen. Während der Goldfuchs den halsbrechenden Weg hinunterstieg und jeden Augenblick seinen Reiter in die Tiefe zu stürzen drohte, bog ich mich links und rechts vom Sattel und suchte mit sehnsuchtsvollen Blicken in den Kern der Kristallstufen zu dringen.
»Tausend noch einmal!« rief ich lüstern vor mich hin, »was mögen das nur für allerliebste Wesen sein in dieser verwünschten Treppe?«
Ohne daß ich mich im geringsten wunderte, fing das Pferd plötzlich an zu sprechen, indem es den Kopf zurückwandte und antwortete: »Was wird's sein? Das sind nur die guten Dinge und Ideen, welche der Boden der Heimat in sich schließt und die derjenige herausklopft, der im Lande bleibt und sich redlich nährt!«
»Zum Teufel!« rief ich, »ich werde gleich morgen hier herausgehen und mir einige Stufen aufschlagen!«
Und ich konnte meine Blicke nicht wegwenden von der langen Treppe, die sich schon glänzend hinter mir den Berg hinanschmiegte. Das Pferd aber sagte, das sei nur eine leichte Anschürfung, der ganze Boden stecke voll von solchen Sachen. Wir langten jetzt unten bei der Brücke an. Das war aber nicht mehr die alte Holzbrücke, sondern ein Marmorpalast, der in zwei Stockwerken eine endlose Säulenhalle bildete und so als eine nie gesehene Prachtbrücke über den Fluß führte. Was sich doch alles verändert und vorwärts schreitet, wenn man nur einige Jahre weg ist! dachte ich, als ich gemächlich und neugierig in die weite Brückenhalle ritt. Während das Gebäude von außen nur in weißem, rötlichem und schwarzem Marmor glänzte, waren die Wände des Innern mit zahllosen Malereien bedeckt, welche die ganze Geschichte und alle Tätigkeiten des Landes darstellten. Das ganze abgeschiedene Volk war sozusagen bis auf den letzten Mann, der soeben gegangen, an die Wand gemalt und schien mit dem lebendigen, das auf der Brücke verkehrte, eines zu sein; ja manche der gemalten Figuren traten aus den Bildern heraus und wirkten unter den Lebendigen mit, während von diesen manche unter die Gemalten gingen und an die Wand versetzt wurden. Beide Parteien bestanden aus Helden und Weibern, Pfaffen und Laien, Herren und Bauern, Ehrenleuten und Lumpenhunden; der Eingang und Ausgang der Brücke aber war offen und unbewacht, und indem der Zug über dieselbe beständig im Gange blieb und der Austausch zwischen dem gemalten und wirklichen Leben unausgesetzt stattfand, schien auf dieser wunderbar belebten Brücke Vergangenheit und Zukunft nur ein Ding zu sein.
»Nun möcht ich wohl wissen, was das für eine muntere Sache ist!« summte ich in mich hinein, und das Pferd antwortete auf der Stelle: »Dies nennt man die Identität der Nation!«
»Ei, du bist ein sehr gelehrter Gaul!« rief ich, »der Hafer muß dich wirklich stechen! Woher nimmst du derartige Brocken?«
»Erinnere dich«, sagte der Goldfuchs, »auf wem du reitest! Bin ich nicht aus Gold entstanden? Gold aber ist Reichtum und Reichtum ist Einsicht.«
Bei diesen Worten merkte ich sogleich, daß mein Mantelsack statt mit Gewand jetzt gänzlich mit jenen goldenen Münzen angefüllt war. Statt zu grübeln, woher sie so unvermutet wieder gekommen, fühlte ich mich höchst zufrieden in ihrem Besitze, und obschon ich dem weisen Gaule nicht mit gutem Gewissen recht geben konnte, daß Reichtum Einsicht sei, fand ich mich doch unvermutet so einsichtsvoll, daß ich wenigstens nichts erwiderte und gemütlich weiterritt.
»Nun sage mir, du weiser Salomo!« begann ich nach einer Weile von neuem: »Heißt eigentlich die Brücke die Identität oder die Leute, so darauf sind? Welches von beiden nennst du so?«
»Beide zusammen sind die Identität, sonst spräche man ja nicht davon!«
»Der Nation?«
»Der Nation, versteht sich!«
»Also ist die Brücke auch eine Nation?«
»Ei, seit wann«, rief das Pferd unwillig, »kann denn ein Vehikel, so schön es ist, eine Nation sein? Nur Leute können eine sein, folglich sind es die Leute hier!«
»So! und doch sagtest du soeben, die Nation und die Brücke machen zusammen eine Identität aus!«
»Das sagt ich auch und bleibe dabei!«
»Nun also?«
»Wisse«, antwortete der Gaul bedächtig, indem er sich auf allen vieren spreizte, »wisse, wer diese heikle Frage zu beantworten und den Widerspruch zu lösen versteht, der ist ein Meister und arbeitet an der Identität selber mit. Wenn ich die richtige Antwort, die mir wohl so im Munde herumläuft, rund zu formulieren verstände, so wäre ich nicht ein Pferd, sondern längst hier an die Wand gemalt. Übrigens erinnere dich, daß ich nur ein von dir geträumtes Pferd bin und also unser ganzes Gespräch eine Ausgeburt und Grübelei deines eigenen Gehirns ist. Mithin magst du fernere Fragen dir nur selbst beantworten aus der allerersten Hand!«
»Ha! du widerspenstige Bestie!« schrie ich und stieß dem Tiere die Fersen in die Weichen, »um so mehr, du undankbarer Klepper! bist du mir zu Red und Antwort verpflichtet, da ich dich aus meinem so mühselig ergänzten Blute erzeugen und diesen Traum lang speisen und nähren muß!«
»Hat auch was Rechtes auf sich!« sagte das Pferd gelassen. »Dieses ganze Gespräch, überhaupt unsere ganze werte Bekanntschaft ist das Werk und die Dauer von kaum drei Sekunden und kostet dich kaum einen Hauch von deinem geehrten Körperlichen!«
»Wie, drei Sekunden? Ist es nicht schon wenigstens eine Stunde, seit wir auf dieser endlosen Brücke reiten?«
»Drei Sekunden dauert der Hufschlag des nächtlichen Reiters, der meine Erscheinung in dir hervorgerufen; mit ihm wird sie verschwinden, und du kannst wieder zu Fuß gehen!«
»Um des Himmels willen! So verliere keine weitere Zeit sonst geht der Augenblick vorüber, ehe ich über diese schöne Brücke im reinen bin!«
»Es eilt gar nicht! Alles, was wir für jetzt zu erleben und zu erfahren haben, geht vollkommen in das Maß des wackeren Pferdetrittes hinein, und wenn der richtig denkende Psalmist den Herrn seinen Gott anschrie: ›Tausend Jahre sind vor dir wie ein Augenblick‹! so ist diese Hypothese von hinten gelesen eine und dieselbe Wahrheit: Ein Augenblick ist wie tausend Jahre! Wir könnten noch tausendmal mehr sehen und hören während dieses Hufschlages, wenn wir nur das Zeug dazu in uns hätten, lieber Mann! Alles Drängen oder Zögern hilft da nichts, alles hat seine bequemliche Erfüllung, und wir können uns ganz gemächlich Zeit lassen mit unserm Traum, er ist, was er ist, und nicht mehr noch minder!«
Ich hörte nicht länger auf die Rede des Pferdes, weil ich bemerkte, daß ich von allen Seiten mit biederer Achtung begrüßt wurde; denn schon mehr als einer der Vorübergehenden hatte mit eigentümlichem Griffe meinen strotzenden Mantelsack betastet, ungefähr wie die Metzger tun, wenn sie in den Bauernställen oder auf Märkten ein Stück Rindvieh auf seine Fettigkeit prüfen und ihm Kreuz und Lenden bekneifen.
»Das sind ja absonderliche Manieren!« sagte ich endlich; »ich glaubte, es kenne mich kein Mensch hier!«
»Es gilt auch nicht dir«, meinte der Goldfuchs, »sondern deinem Quersack, deiner dicken Goldwurst, die mir das Kreuz drückt!«
»So? Also das ist die Lösung und das Geheimnis deiner ganzen Identitätsfrage, das gemünzte Gold? Denn du bist ja aus gleichem Stoff, ohne daß dich ein einziger betastet!«
»Hm!« machte das Pferd, »das ist nicht so genau zu nehmen. Die Leute haben allerdings ihr Augenmerk darauf gerichtet, ihre Identität, die sie in diesem Falle Unabhängigkeit nennen, zu behaupten und gegen jeglichen Angriff zu verteidigen. Nun wissen sie aber, daß ein kampffähiger guter Soldat wohlgenährt sein und ein Frühstück im Magen haben muß, wenn er sich schlagen soll. Da dies aber nur durch allerhand Gemünztes zu erreichen und zu sichern ist, so betrachten sie jeden, der damit versehen, als einen gerüsteten Verteidiger und Unterstützer der Identität und sehen ihn drum an. Da läuft es denn freilich mit unter, daß sie ihre Privatsachen mit den öffentlichen Dingen für identisch halten, wie man denn in der Übung jeglicher Energie nicht leicht zuviel tun kann, und so gewinnt dieser oder jener das Ansehen eines habsüchtigen Esels. Sei dem, wie ihm wolle, ich rate dir, dein Kapital hier noch ein wenig in Umlauf zu setzen und zu vermehren. Wenn die Meinung der Leute im allgemeinen auch eine irrige ist, so steht es doch jedem frei, sie für sich zu einer Wahrheit und so seine Stellung zu einer angenehmen zu machen.«
Ich griff in den Sack und warf einige Hände voll Goldmünzen in die Höhe, welche sogleich von hundert in der Luft zappelnden Händen aufgefangen und weitergeworfen wurden, nachdem jeder das Gold erst besehen und an seinem eigenen Golde gerieben hatte, wodurch beide Stücke sich verdoppelten. Bald kehrten alle meine Münzen in Gesellschaft von anderem Golde zurück und hingen sich an das Pferd; es regnete förmlich Gold, welches sich klumpenweise an alle seine vier Beine setzte gleich dem Blumenstaub, der den Bienen Höschen macht, so daß es bald nicht mehr gehen konnte. Es bildeten sich aber noch große Flügel an dem Tiere und es glich zuletzt einer Riesenbiene und flog wie eine solche über die Köpfe des Volkes weg. Erst jetzt schütteten wir zusammen einen rechten Goldregen nieder, so daß zuletzt ein ungeheures Gesindel von Goldhungrigen hinter uns her war. Alte und Junge, Weiber und Männer purzelten übereinander, das Gold zu raffen. Diebe, die von Wächtern transportiert wurden, stürzten sich samt diesen in den Haufen; Bäckerlehrlinge warfen ihr Brot in das Wasser und füllten ihre Körbe mit Gold; Priester, die zur Kirche gingen, um zu predigen, schürzten ihre Talare, wie bohnenpflückende Bäuerinnen die Röcke, und schöpften Gold hinein; Magistratspersonen, die vom Rathause kamen, schlichen herbei und schoben verschämt ein paar zur Seite rollende Stücklein in die Tasche; selbst aus einem an die Wand gemalten Gerichte liefen die toten Richter vom Tische, ließen den Angeklagten stehen und stiegen herunter, um hinter mir her zu streichen, und schließlich kam der gemalte Verbrecher auch noch gesprungen, um nach Gold zu schreien.
Ganz geschwollen vom Bewußtsein des Reichtums schwebte ich endlich aus der Brückenhalle hinaus und schwang mich auf dem goldenen Bienenpferde hochmütig in die Luft, wo ich hoch über den Münsterkronen kreiste wie ein Falke, mich bald wählig niederließ, bald wieder aufstieg und das kindische Traumvergnügen des Fliegens und Reitens zugleich in vollen Zügen genoß. Aus den Kronen fingerten hundert weiße Hände nach meinem Golde empor, Augen und Wänglein blühten wie Vergißmeinnicht und Rosen im Sonnenschein. Das Pferd sagte: »Nun wähle, das sind die heiratsfähigen Mägdlein des Landes! Das Beste ist eine artige Frau!« Ich äugelte auch richtig stolz und lüstern auf sie hinunter und gedachte, meine Irrfahrten und erlebten Kümmernisse mit einer konvenablen Heirat abzuschließen, als plötzlich eine harte Stimme erscholl, die rief: »Ist denn niemand da, den Landverderber aus der Luft herabzuholen?«
»Ich bin schon da!« antwortete der dicke Wilhelm Tell, der in einer Lindenkrone verborgen saß, die Armbrust auf mich anlegte und mich mit seinem Pfeile herunterschoß. Ein neuer Ikarus, stürzte ich samt dem Goldfuchs prasselnd aufs Kirchendach und rutschte von dort jämmerlich auf die Straße hinab, woran ich erwachte und mich erschüttert fand, wie wenn ich wirklich gefallen wäre. (...)


(aus "Der grüne Heinrich" von Gottfried Keller)
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