Ein warmer Wind fegte von Süden über
die Ibn-Assaker-Straße. Der Tag hatte seine graue Maske noch nicht abgestreift.
Hinter der Altstadtmauer erwachte Damaskus unwillig wie ein verwöhntes
Mädchen.
Die ersten Busse und kleinen Transporter fuhren mit höllischem
Lärm über die lange Straße. Sie transportierten Hilfsarbeiter aus den
umliegenden Dörfern zu den vielen Baustellen im neuen Stadtviertel. Einer der
Bauarbeiter, ein Mann von kleiner Statur, lief am Straßenrand auf und ab, von
Bab Kisan, dem Eingang der Buloskapelle, ein Stück Richtung Osttor und wieder
zurück. Er wartete auf seinen Bus. In der linken Hand trug er wie alle Arbeiter
aus dem bäuerlichen Umland sein Proviantbündel aus verblichenem blauem Stoff.
Mit der rechten gestikulierte er heftig, als ob er auf einen unsichtbaren
Gesprächspartner einreden würde. Die Schleife, die er ging, wurde immer länger,
als wünschte er, dass der
Bus bei der
nächsten Kehrtwende auftauchte.
Gerade als die Sonne die oberste Kante
der alten Stadtmauer golden erleuchtete, drehte er sich wieder um. Dabei
richtete er die Augen kurz nach Süden. Sein Blick fiel auf den großen Korb, der
über dem Eingang der Buloskapelle hing, dem Ort, wo der Legende nach der
geläuterte Kirchengründer Bulos nach seinem Damaskus-Erlebnis in einem Korb
seinen Häschern über die Mauer entkam.
Aus dem immer noch im Schatten
hängenden Korb reckte sich eine Hand, als gehörte sie einem
Ertrinkenden. Noch
im selben Moment wusste der Bauarbeiter, dass der Mann, dem diese Hand gehörte,
tot war. Auf einmal wurde ihm alles andere gleichgültig: der Bus, die Fliesen,
die er auf seinem Rücken drei Treppen hoch schleppen musste, und sogar der
Streit mit seinem geizigen Meister.
"Da ist ein Toter im Korb!", schrie
er vor Aufregung, und als endlich ein Polizist vorbeikam, der verschlafen zu
seinem Revier am Osttor radelte, wandte er sich so heftig an ihn, dass der
beleibte Beamte nur mühsam das Gleichgewicht hielt. Entsetzen überzog das
Gesicht des Polizisten, als der kleine Mann wie von Sinnen an seiner Lenkstange
rüttelte und unentwegt wiederholte: "Ein Toter! Ein Toter!"
Ein
Verrückter, dachte der Polizist. Widerwillig wandte er den Blick zu der Stelle,
auf die der Arbeiter ständig deutete, und sah den inzwischen ganz ins
Morgenlicht getauchten großen Korb.
"Was für ein Toter? Sind Sie verrückt
geworden? Lassen Sie mein Rad los!" Er hatte in seinen dreißig Dienstjahren
überall Tote gesehen: im Bett, im Kanal und sogar
erhängt auf einer Toilette,
aber noch nie in einem Korb über der Stadtmauer. "Beruhigen Sie sich!",
versuchte er auf den Mann einzureden. "Da ist kein Toter. Die Christen feiern
nur die Erinnerung an ihren Apostel
Bulos, der hier an dieser Stelle floh." Und er beäugte noch einmal den Korb,
der schon seit Wochen über dem Tor hing.
Doch statt in den Bus
einzusteigen, der endlich kam, ereiferte sich der Bauarbeiter weiter. Er
klammerte sich an das Fahrrad des Polizisten. "Und ich sage Ihnen, da liegt ein
Toter drin", brüllte er heiser.
Der Busfahrer, der neugierig geworden
war, schaltete den Motor ab und stieg aus dem Wagen. Ihm folgten mehrere
Fahrgäste. Alle umringten den Polizisten und bestärkten ihren Kollegen in seiner
Vermutung.
Endlich lenkte der Polizist ein und versprach, die
Kriminalpolizei zu verständigen, doch zugleich bestand er darauf, den Mann, der
ihm den Morgen verdorben hatte, als Zeugen zu benennen. Er schrieb die
Personalien auf und ermahnte ihn, sich jederzeit zur Verfügung zu halten. Dann
radelte er weiter. Auch der Busfahrer setzte seine Fahrt gen Norden
fort.
(Aus "Die dunkle Seite der Liebe" von Rafik Schami.)
Rafik Schami erzählt die dramatische
Geschichte der Liebe zwischen Farid Muschtak und Rana Schahin, die in Damaskus
von Verfolgung und Mord bedroht wird. Er spannt einen weiten Bogen über ein
Jahrhundert syrischer Geschichte, in dem Politik und Religionen ein Volk nicht
zur Ruhe kommen lassen. Ein Roman von ungeheurer Wucht und zugleich
eine
Liebeserklärung an seine Heimatstadt Damaskus. (Hanser)
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