Ein Toter bin ich nun, eine Leiche auf dem Grund eines Brunnens. Schon längst tat ich meinen letzten Atemzug, schlug mein Herz ein letztes Mal, doch niemand weiß, was mir geschah, nur mein ruchloser Mörder. Der aber, widerlicher Schuft, hat auf meinen Atem gehorcht und mir den Puls gefühlt, um sicherzugehen, dass ich wirklich tot war, dann hat er mir einen Tritt in die Weiche versetzt, mich zum Brunnen geschleppt, hochgezerrt und hineinfallen lassen. Mein Schädel, eingeschlagen von einem Stein, wurde beim Sturz in den Brunnen gänzlich zertrümmert, meine Stirn, meine Wangen wurden zerdrückt und waren hin, meine Knochen brachen, mein Mund füllte sich mit Blut.

Vor vier Tagen schon hätte ich heimkommen müssen - meine Frau und die Kinder sind auf der Suche nach mir. Meine Tochter, ganz erschöpft vom Weinen, blickt zum Gartentor; aller Augen sind auf die Straße, auf das Tor gerichtet.
Sind die Augen wirklich auf das Tor gerichtet? Auch das weiß ich nicht. Vielleicht haben sich alle mit der Lage schon abgefunden, wie schrecklich! Hat man doch an diesem Ort einfach das Gefühl, jenes Leben, das man hinter sich ließ, ginge weiter wie bisher. Eine unendliche Zeit war vergangen bis zu meiner Geburt. Und jetzt nach meinem Tod kommt wieder eine unendlich währende Zeit! Nie habe ich darüber nachgedacht, als ich noch am Leben war; ich ging meiner Wege und weilte im Licht zwischen den beiden Zeiten der Dunkelheit.
Ich war glücklich, muss glücklich gewesen sein, das begreife ich jetzt. Meine Goldverzierungen waren die besten in der Werkstatt unseres Padischahs, und keiner der anderen Vergolder konnte es mit mir aufnehmen in dieser Meisterschaft. Zusammen mit solchen Arbeiten, die man mir noch außerhalb der Werkstatt gab, bekam ich hundert Asper im Monat auf die Hand. Dies alles macht meinen Tod natürlich noch unerträglicher.
Mir oblag nur das Ornamentieren und das Vergolden. Ich schmückte die Seitenränder, setzte Farbiges in den Rahmen, zeichnete bunte Blätter, Blüten, Zweige, Rosen und Vögel ein. Wolkenkringel im chinesischen Stil, dicht deckendes Blattwerk, bunte Wälder mit darin verborgenen Antilopen, Galeeren, Sultane, Bäume, Paläste, Pferde, Jäger ... Früher hatte ich hin und wieder das Innere eines Tellers ausgeschmückt, manchmal die Rückseite eines Spiegels oder die Hohlseite eines Löffels, manchmal die Zimmerdecke einer Villa am Ufer des Bosporus oder auch die eines Landhauses, manchmal auch eine Truhe ... In den letzten Jahren jedoch habe ich nur an Buchseiten gearbeitet, weil unser Sultan für Bücher mit Bildern viel Geld bezahlte. Dass ich begriffen hätte, als mir der Tod begegnete, wie unwichtig das Geld im Leben ist, kann ich nicht sagen. Die Bedeutung des Geldes ist dem Menschen auch dann noch bewusst, wenn er das Leben verloren hat.

Was ihr jetzt erlebt, ist ein Wunder, denn ihr könnt meine Stimme trotz meines Zustandes vernehmen, und ich weiß, ihr werdet nun Folgendes denken: Lass das im Leben erworbene Geld! Beschreibe, was dir dort widerfährt. Was kommt nach dem Tod, wo ist deine Seele, wie sind sie, Paradies und Hölle, was siehst du dort? Wie ist das Sterben, hast du Schmerzen? Ihr habt recht. Ich weiß ja, dass der Mensch im Leben nur allzugern erfahren möchte, was im Jenseits vor sich geht. Erzählt man doch eine Geschichte von einem, der nur dieser Wissbegier wegen auf blutigen Schlachtfeldern zwischen den Leichen umhergewandert ist ... Dieser Mann, der meinte, unter den sterbenden Kriegern vielleicht einen zu finden, der nach dem Hinscheiden wieder zum Leben erwacht war und ihm die Geheimnisse der anderen Welt verraten könnte, wurde von Timurs Soldaten als Feind betrachtet und deswegen mit einem Schwerthieb in zwei Teile gespalten, so dass er am Ende glaubte, die Menschen seien zweigeteilt in der anderen Welt.

Nichts dergleichen. Mehr noch, ich kann euch sagen, dass hier sogar die im Diesseits zwiegespaltenen Seelen wieder eins geworden sind. Im Gegensatz zu dem aber, was die Gottlosen, Ungläubigen, Ketzer und dem Teufel ergebenen Lästermäuler behaupten, gibt es ein Jenseits, Allah sei Dank. Dass ich von dort zu euch spreche, ist der Beweis dafür. Gestorben bin ich, doch nicht verschwunden, wie ihr seht. Andererseits muss ich zugeben, dass mir nirgendwo eins der goldenen oder silbernen Paradiesschlösschen über fließenden Wassern oder die Bäume mit riesigen Blättern und prallen Früchten oder die schönen Jungfrauen begegnet sind, von denen der Koran spricht. Indessen erinnere ich mich jetzt sehr wohl daran, wie oft und mit welchem Vergnügen ich die großäugigen Huris im Paradies gezeichnet habe, welche die Sure Al-Wakiah beschreibt. Natürlich konnte ich ebensowenig irgendwo jene vier Flüsse aus Milch, Wein, süßem Wasser und Honig ausmachen, die so große Fantasiebegabte wie Ibn Arabi in den verlockendsten Farben geschildert haben. Da ich die vielen Menschen, die zu Recht in ihren hoffnungsvollen Vorstellungen von der anderen Welt leben, nicht zum Unglauben verleiten will, muss ich sofort darauf verweisen, dass all diese Dinge mit meiner besonderen Lage zusammenhängen: Jeder gläubige Moslem, der ein wenig Wissen über das Leben nach dem Tode besitzt, wird mir zustimmen, dass ein Friedloser wie ich in meinem Zustand sich schwertut, die Ströme des Paradieses zu gewahren.
(...)
Wer ist mein Mörder, gegen den ich eine solche Wut empfinde, und warum hat er mich auf diese gänzlich unerwartete Weise umgebracht? Versucht es herauszufinden! Die Welt ist voller gemeiner Mörder, die alle nichts taugen, der eine wie der andere, was soll's, sagt ihr? Dann will ich euch sogleich warnen: Hinter meinem Tod steht eine widerwärtige Verschwörung gegen unseren Glauben, unsere Tradition und unsere Art, die Welt zu sehen. Öffnet eure Augen, erkundet, warum die Feinde des Islam, die Feinde jenes Lebens, an das ihr glaubt, mich umbrachten und eines Tages auch euch umbringen könnten. All die Worte des großen Predigers und Hodschas, Nusret von Erzurum, denen ich mit Tränen in den Augen gelauscht habe, bewahrheiten sich eins nach dem anderen. Selbst die größten Meister unter den Illustratoren würden nicht einmal in Bildern wiedergeben können, was uns geschieht, wenn man es als Geschichte in einem Buch niederschriebe, das lasst euch gesagt sein. Die erschütternde Kraft eines solchen Buches kommt genau wie beim Koran - Allah bewahre uns vor einem Missverständnis! - aus der Art seiner Entstehung, die niemals in Bildern wiedergegeben werden kann. Ich zweifle, ob ihr imstande seid, das zu begreifen.
Seht ihr, auch ich fürchtete mich in der Zeit meiner Lehre vor der Stimme, die aus den Tiefen der Wahrheit, aus dem Jenseits kam, achtete aber nicht darauf, machte mich lustig darüber. Ich fand mein Ende am Boden dieses elenden Brunnens. Das gleiche kann auch euch geschehen, seid wachsam! Nun kann ich nichts weiter tun als hoffen, dass man mich vielleicht durch den eklen Geruch der Fäulnis findet, wenn ich so recht in Verwesung übergehe; und mir außerdem die Foltern vorzustellen, die ein Wohlmeinender an meinem gemeinen Mörder vornehmen wird, wenn man ihn gefunden hat.


(Aus "Rot ist mein Name" von Orhan Pamuk.
Aus dem Türkischen von Ingrid Iren.)

Man schreibt das Jahr 1591, Istanbul ist vom Schnee bedeckt. Ein Toter spricht zu uns aus der Tiefe eines Brunnens. Er kennt seinen Mörder, und er kennt auch die Ursache für den Mord: ein Komplott gegen das gesamte Osmanische Reich, seine Religion, seine Kultur, seine Tradition. Darin verwickelt sind die Miniaturenmaler, die beauftragt sind, für den Sultan zehn Buchblätter zu malen, ein Liebender und der Mörder, der den Leser bis zum Schluss zum Narren hält. Ein spannender Roman, der, als historischer Krimi verkleidet, immer wieder auch auf die gegenwärtige Spannung zwischen Orient und Okzident verweist.
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