(...) An jenem Tag auf dem Montparnasse
verweilte jeder noch ein wenig länger in dem sanften und sorgenvollen Gemurmel.
Aprilhimmel. Kühles Licht. Ein Paris ohne Autos. Und überall im Viertel die
unschlüssige Aufgeregtheit einer Menge, die schweren Herzens auseinandergeht.
Man begegnete hier und da Gesichtern, die von einem seltsamen Gefühl gezeichnet
waren. In den Cafés
am Boulevard Raspail und in der Rue Didot taten sich kleine Gruppen zusammen.
Aber es gab auch Männer und Frauen, die allein umherliefen, müßig, vielleicht
aus dem Wunsch heraus, diesen Augenblick zu verlängern. Ich war einer von ihnen.
Ich war wie jene zu Sartres Begräbnis gekommen. Anfänglich hatte die Stimmung
an ein Fest erinnert. Und nun endete es wie eine fehlgeschlagene Demo auf dem
Bürgersteig.
Ich erinnere mich, wie ich den Boulevard Edgar Quinet entlangging, bis zu jenem
tristen Gebäude, in dem Sartre gewohnt hatte. Dort bildete sich eine Menschenansammlung.
Sie bestand aus einer Gruppe von
Pakistani,
die eine alte Diskussion fortzusetzen schienen; einem sowjetischen Dissidenten,
den ich ein wenig kannte; einigen Kleinstädtern, deren Bus sie erwartete; einer
jungen, einsamen Frau, die sehr geweint haben musste; und, wie zu den Hoch-Zeiten
der Revolte, ein Ordnungsdienst aus Gewerkschaftern und Studenten, eine improvisierte
Wache, die den Gaffern das Recht streitig machte, sich auf diesem bereits geheiligten
Stückchen Asphalt länger aufzuhalten. Einen Moment lang betrachtete ich die
Fassade. Meine Augen wanderten bis zum neunten Stock, den ich manchmal besucht
hatte. Ich sah das kleine Appartement wieder vor mir, den Arbeitstisch, den
schmutzigen grauen Sessel, in dem sein letzter Sekretär gesessen hatte, die
halbleere Bibliothek.
Hatte dort der berühmte Mann tatsächlich gewohnt? Waren von dort jene Worte
ausgezogen, um zunächst den ganzen Planeten zu umkreisen und anschließend wie
ein hartnäckiger Bienenschwarm an diesem Nachmittag auf dem Friedhof zu uns
zurückzukehren? Würde es andere Sartres geben - oder war er der einzige seiner
Art, ein Einzelexemplar, oder vielleicht das letzte einer nun mit ihm ausgestorbenen
Gattung? Weshalb war ich selbst hier? Wie kam es, dass auch ich das Bedürfnis
empfand, diesem Mann die letzte Ehre zu erweisen, von dem ich mir weder sicher
war, ihn geliebt zu haben, noch umgekehrt, ihn nicht geliebt zu haben? Und erst
die Zeremonie selbst ... Tausende, möglicherweise Zehntausende von Männern und
Frauen, die aus allen Regionen dieser Welt angereist waren und in wenigen Minuten
die Friedhofswege gefüllt hatten. Lebende. Phantome. Aufständische und Kleinbürger,
in gedämpftem Stimmengewirr.
Linksradikale.
Kinder. Jene mondän in schwarz-rote Fahnen gehüllte Delegation der Postbediensteten
von Paris-Brune. Das Blumengebinde von der NRF (Nouvelle Revue Française) sowie
das von der Vereinigung der Algerier in Frankreich. Auf der Lauer liegende Paparazzi.
In Tränen aufgelöste Frauen. Trauben von Jugendlichen, die wahrscheinlich niemals
Sartre gelesen haben, aber gekommen waren und von den Bäumen aus, auf die sie
geklettert waren, zuschauten. Afrikaner. Asiaten. Mit der Ile de Lumière, dem
Krankenhausschiff, gerettete vietnamesische Boatpeople und solche von der
Ho-Chi-Minh-Fraktion
- gerne wären sie sich aus dem Weg gegangen, aber die Menge, die sich um derlei
Streitigkeiten nicht schert, stieß sie gegeneinander. Berühmte Gesichter. Anonyme.
Paare, die im Gedränge voneinander getrennt wurden, sich von Ferne noch etwas
zuriefen und sich schließlich ganz aus den Augen verloren. Die alten Gegner,
der glänzende Schädel des einen, der melancholische Blick des anderen - sie
wirkten dermaßen bewegt, dass man ihre Sarkasmen und Grausamkeiten von gestern
fast vergessen hätte. Und dann selbstverständlich, von der Menschenmenge verschluckt,
hin und her geworfen, manchmal vom Strom getragen, manchmal aus dem Trauerzug
herausgedrängt, der Zirkel der engen Vertrauten, die Apostel, deren Namen man
sich zuflüsterte, mit dem gebührenden Respekt, der den Anhängern des wahren
Glaubens ansteht; und noch weiter entfernt, vor dem offenen Grab auf einem Klappstuhl
sitzend, den Turban in Unordnung, auch sie zur Seite gestoßen, hart bedrängt,
trotz des Getreuen, der mit Fausthieben ein wenig freien Raum um sie herum zu
schaffen versuchte - eine schöne und tiefbetrübte Frau, in ihrer Trauer verloren.
Wer war dieser Mann, der solch ein Wunder zu vollbringen vermocht hatte? Aufgrund
welcher geheimnisvollen Verführungskraft konnte ein einziges Leben genügen,
um so viele und so verschiedenen Verehrer zu versammeln? Wie und weshalb war
es einer Stimme, einer einzigen Stimme, der trockenen und metallischen Stimme
Sartres, gelungen, sich in so vielen Sprachen Gehör zu verschaffen und für so
viele Einzelschicksale vernehmbar zu werden? War er ein großer Schriftsteller?
Ein Schmelztiegel für Gefühle und Verstandeskräfte? Eine Zuflucht für die Zeitgenossen?
Ein Kompass? Und nahmen wir, als er verschwand und wir ihm ein letztes Lebewohl
sagten, zugleich Abschied von einer Epoche?
Ich war dreißig Jahre alt. Vor mir lag eine endlose Zeit voller
Überschwänglichkeiten, Illusionen, Enttäuschungen. Ich wusste - oder ich hoffte
zumindest -, dass mir genügend Zeit bliebe, um mit meiner Generation dieser
merkwürdigen Geschichte auf den Grund zu gehen, die sein Tod im Raum stehen
ließ. Ich wusste auch - und zwar in jenem Augenblick -, dass ich eines Tages
dafür diesen Mann und die Bücher wiederentdecken müsste, die sich hinter so
vielen Fragen verbargen; ich wusste, dass ich früher oder später würde versuchen
müssen, jenes komplizierte, paradoxe und dunkle Abenteuer auszuloten, das den
Namen Sartre trägt.
(Aus "Sartre. Der Philosoph des
20. Jahrhunderts" von Bernard-Henri Lévy.
Aus dem Französischen von Petra Willim.)
Jean-Paul Sartre: radikaler Denker, Kämpfer für die Menschenrechte,
Lebensgefährte von Simone de
Beauvoir - wie kein anderer Philosoph verkörpert er das zwanzigste Jahrhundert.
Seine Irrtümer waren der Preis seiner radikalen Wahrhaftigkeit, aber sie brachten
das Denken weiter als die Vorsicht seiner Kontrahenten. Was aber bleibt von
Sartre, nachdem die Debatten über ihn verklungen sind? Lévy entwirft mit seiner
brillanten, intellektuellen Biografie, die
in Frankreich für großes Aufsehen
sorgte, ein neues zeitgemäßes Bild des großen Denkers.
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