Zum Gedicht "Eine Leichenrede" von Kurt Marti
als sie mit zwanzig ein kind erwartete wurde ihr heirat befohlen als sie geheiratet hatte wurde ihr verzicht auf alle studienpläne befohlen als sie mit dreißig noch unternehmungslust zeigte wurde ihr dienst im hause befohlen als sie mit vierzig noch einmal zu leben versuchte wurde ihr anstand und tugend befohlen als sie mit fünfzig verbraucht und enttäuscht war zog ihr mann zu einer jüngeren frau liebe gemeinde wir befehlen zu viel wir gehorchen zu viel wir leben zu wenig |
Das Gedicht ist in freien Rhythmen gehalten,
die ihrerseits allerdings in ein strenges, schlichtes und nüchternes Strophengefüge
gesperrt sind.
Schon dadurch kommt zum Ausdruck, dass das Individuum, (dem innerhalb des
Gedichtes ein einzelnes Wort entsprechen mag), zwar von Natur aus frei ist; dass
es jedoch, sobald eine Gemeinschaft entsteht, einen festen Platz zugewiesen
bekommt und somit weitgehend unfrei wird. Eine mögliche Schlussfolgerung
daraus: Der Preis für Zusammenhalt innerhalb eines Sinngefüges ist
folglich der Verlust der individuellen Freiheit ... |
Auffallend ist weiters die durchgehende
Kleinschreibung, welche die abgeschliffene Eintönigkeit des thematisierten
Frauenschicksals darstellen mag, wie auch das (Schrift-)Bild gleichsam die Unterdrückung der Frau
abbildet: hier wie dort fehlen Höhen und Abwechslung.
Der jeweils wortgleiche Beginn der ersten fünf
Strophen zeigt die Hoffnungslosigkeit auf, von der die Versuche der Frau, aus
ihrem trostlosen Dasein auszubrechen, begleitet und zunehmend geprägt wurden.
Die ständige Wiederholung der Worte "als sie" klingt wie die Beschwörung
eines verzweifelten, sinnlosen Anlaufs zu einem Sprung aus der fremdbestimmten
Schablone. Ein Sprung, der nicht gelingen wollte/konnte; ein konserviertes
Scheitern auf Raten als Überbleibsel.
Jeder aktiven Handlung der Frau folgt umgehend
eine Maßregelung, die im Passiv gehalten ist. Darum wirkt es, als wäre
jeglicher Versuch oder Wunsch der Frau sofort von einer von außen kommenden
Anordnung im Keim erstickt worden.
Die Verstorbene musste wohl ihr Leben zur Gänze nach den Bedürfnissen und
Vorstellungen anderer Menschen ausrichten und war gezwungen, ihre nackte
Existenz, die offenbar ihren einzigen tatsächlichen Besitz darstellte, anderen
zu opfern, indem sie - gezwungenermaßen - heiratete, auf ein Studium
verzichtete und schließlich in stummer Verzweiflung resignierte.
Kurt Martis Gedicht kann auch als versteckter
Aufruf zu mehr Mut an die Leser verstanden werden, zwar nicht "über
Leichen zu gehen", aber doch mehr Rücksicht auf die (eigenen wie jene
anderer) Wünsche zu nehmen, solange man Zeit hat. Eindeutig prangert die letzte
Strophe die Rahmenbedingungen, die das Individuum in der Gesellschaft vorfindet,
an. Denn allen technischen und medizinischen Errungenschaften zum Trotz:
"Wir leben zu wenig!"
Auch kritisiert Kurt Marti die in einer "Männerwelt"
bisweilen vorherrschende Überheblichkeit, die dazu führt, es als gottgewollt und
gottgegeben anzusehen, zu jeder Zeit und an jedem Ort über Frauen herrschen und
bestimmen zu können. Doch der willkürliche Missbrauch naturgesetzlicher
Ordnungen hat erfahrungsgemäß seinen Preis.
Zwar haben Frauen (nicht nur) hierzulande
mittlerweile immerhin mehr Mut zur Selbstverwirklichung gefasst, doch das Recht,
die eigenen Vorstellungen umzusetzen, wird ihnen nach wie vor von manchen
"Herren der Schöpfung" nicht zugestanden.
In der fünften Strophe wird die männliche
Sichtweise, die Partnerin stelle eine Art "Gebrauchsgegenstand" dar,
thematisiert. Sobald nämlich ein solcher Gebrauchsgegenstand Abnützungserscheinungen
aufweist, wird er kurzerhand durch einen neuen, schöneren ersetzt.
Mag sein, dass einige Männer immer noch die
Ansicht vertreten, Frauen hätten kein Recht auf Bildung, weil ihre gottgewollte
Bestimmung einzig und allein im Gebären und Umsorgen der Familie bestehe. Diese
Männer lesen - man vermutet es zumindest - aber ohnedies leider keine Gedichte ...
Die Mehrzahl der Leser teilt wohl Kurt Martis
Grundeinstellung: Jeder Mensch ist gleich viel wert, hat ein Recht auf Bildung,
Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung. Auch wenn das mitunter in der praktischen
Umsetzung bedeutet, dass man mit aller Kraft daran arbeiten muss und dabei
niemals das eigene Wohl vernachlässigt. Dies freilich unter der Prämisse der
gegenseitigen, partnerschaftlichen Rücksichtnahme! Und, Hand aufs Herz: Welcher
kluge Mann fühlt sich schon auf Dauer an der Seite einer Partnerin wohl, die
seine Interessen nicht teilt und sich nicht weiterentwickeln möchte?
Überhaupt richtet sich die
letzte Strophe des Gedichtes an uns alle, unabhängig vom Geschlecht. Drei
simple Sätze:
"wir befehlen zu viel
wir gehorchen zu viel
wir leben zu wenig"
(Doris Krestan)
Kurt Marti wurde am 31. Jänner 1921 in Bern geboren. Er studierte Jura, dann
Theologie, und arbeitete als Pfarrer. Kurt Marti war
Ehrendoktor der theologischen Fakultät Bern, Mitbegründer der "Erklärung
von Bern" und der "Gruppe Olten" und gehörte zu den bedeutendsten
deutschsprachigen Gegenwartsautoren. Er wurde vielfach ausgezeichnet, etwa mit
dem "Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik" 1997 und mit dem
"Karl Barth-Preis" 2002.
Kurt Marti starb am 11. Februar 2017 im
Alter von 96 Jahren in Bern.
Einige Buchtipps:
Kurt Marti: "Leichenreden"
Man soll von Toten nichts Schlechtes sagen, heißt es. In seinen
"Leichenreden" hinterfragt Kurt Marti diese Konvention und wehrt sich
gegen die gängigen Abschiedsrituale, gegen die gut gemeinten Worte und tröstenden
Phrasen. Er schreibt ehrlich und schonungslos über das Leben, das Sterben und
den Tod, immer verbunden mit einem tiefen Verständnis für Angst, Verdrängung
und Abwehr, die den Verlust eines Menschen begleiten. Martis lyrische Totenreden
sind ein Klassiker der Schweizer Literatur. Seit ihrer Erstveröffentlichung
haben sie nichts von ihrer Aktualität und Brillanz verloren. Selten wurde so
offen über den Tod und die Trauer geschrieben. (dtv)
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Kurt Marti: "Der Traum, geboren zu sein.
Ausgewählte Gedichte"
Die Lyrik Kurt Martis ist kanonische Schweizer Literaturgeschichte. Marti
hat die konkrete Lyrik mit politischen Inhalten verbunden, die Dialektlyrik
"an die Weltsprache der Poesie angeschlossen", die religiöse Lyrik
auf provokante Art von kirchlichen Konventionen befreit, eine Liebeslyrik von
eigener Schönheit geschaffen. (Nagel & Kimche)
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Kurt Marti: "Ein Topf
voll Zeit 1928-1948"
Er gehört zu den wichtigsten
Nachkriegsschriftstellern der
Schweiz und ist ihr bedeutendster Lyriker. Er
beeinflusste viele jüngere Kollegen und war außerdem der prominenteste
Protestant des Landes. Nun erzählt Kurt Marti von seiner Kindheit in Bern,
seinen Schuljahren und der ersten Liebe, seiner Jazzbegeisterung, dem
Aktivdienst in den Bergen, der Motivation durch Karl Barth und dem Studium der
Theologie, dem Berner Kirchenstreit und den Erkundungen im Umfeld der Existenzialisten.
Eindrücklich vermittelt Marti ein Stück gelebter Geschichte durch seine
Erinnerungen an eine Zeit, die die Schweizer Gegenwart geprägt hat wie danach
keine mehr. (Nagel & Kimche)
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"zoé zebra" zur Rezension ...