(...)
Am 3. Hornung hörte er, ein Kind in Fouday sei gestorben, das Friederike hieß;
er faßte es auf wie eine fixe Idee. Er zog sich in sein Zimmer und fastete einen
Tag. Am 4. trat er plötzlich ins Zimmer zu Madame Oberlin; er hatte sich das
Gesicht mit Asche beschmiert und forderte einen alten Sack. Sie erschrak; man
gab ihm, was er verlangte. Er wickelte den Sack um sich, wie ein Büßender, und
schlug den Weg nach Fouday ein. Die Leute im Tale waren ihn schon gewohnt; man
erzählte sich allerlei Seltsames von ihm. Er kam ins Haus, wo das Kind lag.
Die Leute gingen gleichgültig ihrem Geschäft nach; man wies ihm eine Kammer:
das Kind lag im Hemde auf Stroh, auf einem Holztisch.
Lenz schauderte, wie er die kalten Glieder berührte und die halbgeöffneten gläsernen
Augen sah. Das Kind kam ihm so verlassen vor, und er sich so allein und einsam.
Er warf sich über die Leiche nieder. Der Tod erschreckte ihn, ein heftiger Schmerz
faßte ihn an: diese Züge, dieses stille Gesicht sollte verwesen - er warf sich
nieder; er betete mit allem Jammer der Verzweiflung, daß Gott ein Zeichen an
ihm tue und das Kind beleben möge; dann sank er ganz in sich und wühlte all
seinen Willen auf einen Punkt. So saß er lange starr. Dann erhob er sich und
faßte die Hände des Kindes und sprach laut und fest: "Stehe
auf und wandle!" Aber die Wände hallten ihm nüchtern den Ton nach,
daß es zu spotten schien, und die Leiche blieb kalt. Da stürzte er halb wahnsinnig
nieder; dann jagte es ihn auf, hinaus ins Gebirg. Wolken zogen rasch über
den Mond; bald alles im Finstern, bald zeigten sie die nebelhaft
verschwindende Landschaft im Mondschein. Er rannte auf und ab. In seiner Brust
war ein Triumphgesang der Hölle.
Der Wind klang wie ein Titanenlied.
Es war ihm, als könnte er eine ungeheure Faust hinauf
in den Himmel ballen und Gott herbeireißen und zwischen seinen Wolken
schleifen; als könnte er die Welt mit den Zähnen zermalmen und sie dem Schöpfer
ins Gesicht speien; er schwur, er lästerte. So kam er auf die Höhe des Gebirges,
und das ungewisse Licht dehnte sich hinunter, wo die weißen Steinmassen lagen,
und der Himmel war ein dummes blaues Aug, und der Mond stand ganz lächerlich
drin, einfältig. Lenz mußte laut lachen, und mit dem Lachen griff der Atheismus
in ihn und faßte ihn ganz sicher und ruhig und fest. Er wußte nicht mehr, was
ihn vorhin so bewegt hatte, es fror ihn; er dachte, er wolle jetzt zu Bette
gehn, und er ging kalt und unerschütterlich durch das unheimliche Dunkel - es
war ihm alles leer und hohl, er mußte laufen und ging zu Bette.
(...)
(aus "Lenz" von Georg Büchner)
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