(...) Bald wird es dunkel, dachte er, dann kann ich nicht mehr zielen.
In Wahrheit erwartete er sehnsüchtig den Abend und die Nacht,
die danach herabsinken würde, damit er sich endlich aus diesem
verfluchten Hinterhalt davonmachen konnte. Doch der Tag schlich nur
langsam davon, als bereite es ihm Vergnügen, ihn als Geisel zu
halten. Dies war in seinem Leben schon der zweite Hinterhalt, um
Blutrache zu üben, doch der Mann, den er töten
mußte, war der gleiche wie beim ersten Mal. Also war der
zweite Hinterhalt
eigentlich die Fortführung des ersten.
Wieder wurden seine Füße kalt, und wieder bewegte er die Knie, als könne er so die Kälte daran hindern, nach oben zu steigen. Doch die Kälte saß schon lange in seinem Bauch, in seiner Brust, ja selbst in seinem Kopf. Es war, als habe sie das Gehirn zu einem Klumpen erstarren lassen, so wie den Schnee dort drüben, jenseits der Straße.
Unfähig, seine Gedanken zu einem vollständigen, logischen Zusammenhang zu ordnen, empfand er nur Feindseligkeit gegenüber den wilden Granatapfelsträuchern und den Schneefladen, und manchmal war ihm, als hätte er den Hinterhalt schon längst verlassen, wären nur sie nicht dagewesen. Doch sie waren da, reglose Zeugen, und so konnte er nicht weggehen.
In der Biegung der Straße tauchte zum hundertsten Mal an diesem Nachmittag der Todgeweihte auf. Er ging mit kurzen Schritten, und über seiner rechten Schulter ragte tief schwarz der Lauf des Gewehres auf. Der Mann im Hinterhalt fuhr zusammen: das war nun keine Einbildung mehr. Der Erwartete kam wirklich.
Wie schon hundertmal vorher richtete Gjorg den Lauf des Gewehrs auf den herankommenden Mann und zielte auf seinen Kopf. Dieser schien ihn foppen zu wollen und hüpfte immer wieder aus dem Visier, ja, Gjorg glaubte sogar zu erkennen, daß er zuletzt noch spöttisch grinste. Sechs Monate zuvor war ihm das gleiche passiert. Um das Gesicht des Opfers nicht zu entstellen (wovor er im letzten Moment zurückscheute), hatte er den Lauf ein wenig sinken lassen, und aus diesem Grund hatte er es nicht getötet, sondern nur am Hals verwundet.
Der so lange Erwartete näherte sich. Hoffentlich verwunde ich ihn nicht nur, dachte Gjorg flehentlich. Die Buße für die erste Verwundung war gerade erst bezahlt, und eine weitere würde die Familie wirtschaftlich ruinieren. Auf einen Tod dagegen stand keine Forderung.
Der Erwartete kam immer näher. Besser, ich verfehle ihn ganz, als daß ich ihn verwunde, dachte Gjorg. Er versuchte das Denken abzustellen. Das erste Mal hatte er zuviel nachgedacht und die ganze Sache deshalb verdorben. Er hatte Mitleid empfunden, Scham, und im letzten Moment war ihm, gleichsam als Rechtfertigung seines Tuns, noch der alte Spruch in den Sinn gekommen: Wer das Gewehr zur Hand nimmt, muß auch töten!
Es gibt nichts mehr nachzudenken, sagte er sich. Tu, was getan werden muß. Wie hundertmal zuvor das Trugbild, so rief er jetzt auch den herankommenden Mann an, ehe er schoß, genau wie der Brauch es verlangte. Weder in diesem Moment noch später hätte er mit Gewißheit sagen können, ob er tatsächlich gerufen oder ob ihm die Stimme versagt hatte. Tatsache war, daß das Opfer plötzlich herüberschaute. Gjorg nahm eine rasche Bewegung des Armes wahr, die darauf gerichtet schien, das Gewehr von der Schulter zu reißen, und schoß. Er ließ das Gewehr sinken und beobachtete fast verblüfft, was gleich darauf geschah. Der Tote (zwar war der Mann noch auf den Beinen, doch Gjorg wußte sicher, daß er nicht mehr lebte) tat noch einen halben Schritt vorwärts, sein Gewehr fiel auf die eine Seite, und gleich darauf fiel er selbst auf die andere.
Gjorg verließ den Hinterhalt und ging zu dem Erschossenen. Die Straße war völlig leer. Nur seine Schritte waren darauf zu hören. Der Tote lag auf dem Gesicht. Gjorg beugte sich hinab und packte ihn an der Schulter, als wolle er ihn aufwecken. Was mache ich da nur? dachte er. Seine Hand berührte erneut die Schulter des Getöteten, wie um ihn ins Leben zurückzurufen. Warum tue ich das? fragte er sich. Und plötzlich war ihm klar, daß er sich nicht über den Erschossenen gebeugt hatte, um ihn aus dem Schlaf des Todes zu erwecken, sondern nur, um ihn auf den Rücken zu drehen. Ja, er wollte den Leichnam nur umdrehen, wie der Brauch es verlangte. Die wilden Granatapfelsträucher und die Schneeklumpen waren noch da und sahen alles.
Er richtete sich auf und wollte weggehen, da fiel ihm ein, daß er noch das Gewehr an den Kopf legen mußte.
Gjorg handelte wie im Traum. Ihm wurde übel, und immer wieder dachte er: Das Blut hat mich befallen. Dann faßte er sich und ging hastig über die verlassene Straße davon.
Die Dämmerung sank herab. Mehrmals blickte er sich um, ohne zu wissen, warum. Die Straße war immer noch völlig leer. Sie zog sich zwischen Sträuchern und Gehölzen dahin, mitten durch den Tag, der sich dem Ende zuneigte.
Irgendwo vor ihm waren
Maultierglocken und dann Stimmen zu hören. Leute kamen ihm auf
der Großen Straße entgegen, auf dem Weg zu einem
Besuch, vielleicht aber auch Bergbauern, die vom Markt heimkehrten.
Schneller als erwartet fand er sich ihnen gegenüber.
Männer, dazwischen aber auch junge Frauen und Kinder. Sie
sagten »Guten Abend!«, und er blieb stehen. Noch
ehe er sie ansprach, machte er eine Handbewegung in die Richtung, aus
der er kam.»Ich habe einen Mann getötet, dort, an
der Biegung der Großen Straße«, sagte er
mit erstickter Stimme. »Dreht ihn auf den Rücken und
legt ihm das Gewehr an den Kopf, gute Leute!«In der Gruppe
der Wanderer
herrschte einen Augenblick lang Schweigen.»Hat dich das Blut
befallen?« fragte jemand.Er antwortete nicht. Offenbar gab
ihm einer Ratschläge, was gegen die Wirkung des Blutes zu tun
sei, doch Gjorg hörte nicht zu. Er hatte sich wieder in
Bewegung gesetzt. Nun, da der Auftrag erteilt war, den
Getöteten umzudrehen, empfand er eine gewisse Erleichterung.
Ob er selbst den Leichnam auf den Rücken gedreht hatte,
wußte er nicht. Der Kanun berücksichtigte die
Erschütterung nach dem Mord und gestattete es, Passanten mit
etwas zu beauftragen, zu dem man selbst nicht in der Lage gewesen war.
Doch den Toten auf dem Gesicht und sein Gewehr irgendwo abseits liegen
zu lassen, das war eine unverzeihliche Schande.Noch vor Einbruch der
Dunkelheit erreichte er das Dorf. Es war noch sein besonderer Tag. Die
Tür zum Turm war nur angelehnt. Er stieß sie mit der
Schulter auf und trat ein. »Und«, fragte jemand von
drinnen. Er nickte.»Wann?«»Gerade
eben.«Die hölzerne Treppe knarrte unter den
Schritten der Herabkommenden. »Du hast
Blut
an den Händen«, sagte der Vater. »Geh,
wasch es ab.« Gjorg betrachtete erstaunt seine
Hände. »Das war wohl, als ich ihn
umdrehte«, sagte er. Umsonst hatte er sich unterwegs Sorgen
gemacht. Er brauchte nur seine Hände anzusehen, um zu wissen,
daß er alles, was zu tun gewesen war, auch getan hatte. Im
Turm roch es nach frischgebrühtem
Kaffee. Seltsamerweise war
er müde. Er mußte sogar zweimal gähnen. Die
Augen der kleinen Schwester an seiner linken Schulter glänzten
von weit her, wie zwei Sterne hinter einem Hügel.
»Und nun?« sagte er plötzlich, ohne jemand
direkt anzusprechen.
» Der Tod muß im Dorf bekanntgegeben
werden«, antwortete der Vater. Er war dabei, seine Opanken
anzuziehen, wie Gjorg erst jetzt bemerkte. Als er den Kaffee trank, den
ihm die Mutter zubereitet hatte, war von draußen die erste
Stimme zu hören:» Gjorg von den Berisha hat Zef
Kryeqyqe erschossen!« Eigenartig mischte sich darin der
Tonfall eines Ausrufers von Regierungsverordnungen mit dem Klang eines
alten Psalms. Diese nichtmenschliche Stimme riß ihn einen
Augenblick lang aus seiner Lethargie. Ihm war, als ob sein Name aus ihm
selbst herausgetreten sei, Brustkorb und Haut durchdrungen habe, um
draußen grausam zu wüten. Das geschah ihm zum ersten
Mal. Gjorg von den Berisha, hallte in ihm die Stimme des gnadenlosen
Herolds wider. Er war sechsundzwanzig Jahre alt, und zum ersten Mal
drang sein Name in die Fundamente des Lebens ein.»Gjorg von
den Berisha hat Zef Kryeqyqe erschossen«, wiederholte, aus
einer anderen Richtung kommend, eine andere Stimme. (...)
aus
"Der zerrissene April" von Ismail Kadare
Roman. Aus dem Albanischen von Joachim Röhm
Der zerrissene April handelt von der albanischen Blutrache, einer
Geißel der Menschen Albaniens, die auch heute noch
gemäß dem jahrhundertealten Gesetz handeln
müssen, wollen sie der Ehre nicht verlustig gehen: Der Kanun
besagt, daß vergossenes
Blut nur mit zu vergießendem Blut gesühnt werden
kann.
Seit
70 Jahren geht die Fehde zwischen zwei Familien aus demselben Dorf. 44
Opfer
sind zu beklagen. Die beiden Familien sind gleichermaßen
Opfer wie Täter, die nicht etwa Haß, sondern der
Kanun in seinen starren Mechanismus zwingt. Kadare skelettiert
minutiös dieses tödliche Gesetz und absurd mag
erscheinen, wie dem Todgeweihten, einem Bauernjungen, eine letzte Frist
gewährt wird, genau 30 Tage, bis auch er sein Ende finden
wird. Noch wenige Tage bleiben ihm, der Monat April.
Der
Junge begegnet während dieser Frist einer Städterin,
einer jungen schönen Frau, und während er, der
unglückliche Todesbote, für sie zu einem Zeichen der
Vergänglichkeit ihres behüteten urbanen Daseins wird,
wird sie für ihn zum Inbegriff des Lebens. (Ammann)
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Ismail Kadare: "Das
verflixte Jahr"
Eine außerordentlich sympathische Truppe von
Freischärlern tritt an, für ihre Heimat Albanien ins
Feld zu ziehen. Ihre Helden sind der Anführer Shestan Verdha,
der singende Doska Mokrari und der lange Alush Gjati, zu groß
für jeden Sarg. Anfangs zu fünft, später in
Hundertschaften kämpfen sie, gegen wen da zu kämpfen
ist, ganz gleich ob der Feind Holländer, Türke,
Österreicher, Franzose, Bulgare oder Montenegriner ist. Und
dann soll ausgerechnet ein deutscher Prinz König von Albanien
sein? Nur wenn er beschnitten ist, witzeln Konsuln und Offiziere jeder
Couleur, die sich im Salon der maltesischen Kurtisane Sara Stringa die
Klinke in die Hand reichen.
Ismail Kadare erzählt von den Wirren der albanischen
Geschichte, packt sie in ein einziges verflixtes Jahr und verbindet
Realismus und tragische Komik zu einer Liebeserklärung an
seine Heimat, die der Leser mit einem lachenden und mit einem weinenden
Auge, doch unvermindert mit Begeisterung liest.
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