Hand an sich
legen
Diskurs über den Freitod
VORWORT
Wer die Bücher des
Verfassers kennt, und namentlich seine Studie "Über das Altern", als dessen
direkte Fortsetzung die hier nachfolgenden Überlegungen zum Problem des Freitods
gelten können, der muß nicht erst orientiert werden: er weiß, daß der vorliegende
Band nichts enthalten kann, was von näher oder fernher an wissenschaftliche
Arbeit gemahnen könnte.
Wem hingegen der Autor ein Unbekannter ist, der muß redlicherweise gewarnt werden.
Niemand wird aus den hier angestellten Erwägungen zu Einsichten gelangen, wie
die wissenschaftliche Selbstmordforschung, die "Suizidologie", sie darzubieten
sich anheischig macht. Weder wird er also erfahren, in welchem Lande und warum
gerade in diesem sich mehr Menschen töten als in einem anderen, noch wird er
über die seelischen und gesellschaftlichen Vorgänge (oder Vor-Verläufe), die
schließlich zum Freitod führen, Substantielles zu lesen bekommen. Keine Statistiken
werden sein Kenntnisvolumen erweitern, keine graphischen Darstellungen sind
da, wissenschaftliche Erkenntnis zu veranschaulichen, nirgendwo hat der Autor
ein Modell des Suizids entworfen.
Dieser Text ist jenseits von
Psychologie
und Soziologie
situiert. Er beginnt dort, wo die wissenschaftliche Suizidologie endigt. Ich
habe versucht, den Freitod nicht von außen zu sehen, aus der Welt der Lebenden
oder der Überlebenden, sondern aus dem Inneren derer, die im die Suizidäre oder
Suizidanten nenne.
"Phänomenologie des Freitods" also? Das wäre zu hoch gegriffen. Aller aus dem
Worte Logos abgeleiteten und sachbestimmten Begriffe habe im mir entschlagen:
aus Bescheidenheit vor der positiven Forschung. Auch aus Skepsis. Teile der
einschlägigen Literatur sind mir bekannt. Ich habe mich aber nur ausnahmsweise
da und dort an diese Literatur gehalten, weswegen ich darauf verzichtete, eine
Bibliographie beizufügen. Gleichwohl erscheint es mir als nötig, zu verweisen
auf Werke und Persönlichkeiten, denen ich Anregungen und Kenntnisse verdanke,
ohne die meine Schrift nicht hätte entstehen können. An erster Stelle steht
hier Jean-Paul
Sartre mit seinem gesamten opus. Wie radikal verschieden auch meine Option
und meine Konklusionen von denen Sartres seien, ich habe in geistigen Nöten
bei der Niederschrift so oft Zuflucht gesucht in seinem gewaltigen Denk-Bauwerk,
daß ich mich gehalten fühle, schon an dieser Stelle ganz ausdrücklich davon
zu sprechen. Des weiteren hat das sehr schöne und tiefsinnige, unbegreiflicherweise
nicht ins Deutsche übertragene Buch "La Mort" von Vladimir Jankelevitsch wesentliche
Einflüsse auf die hier wiedergegebenen Gedanken gehabt. Schließlich verdanke
ich einem wissenschaftlichen Werke, dem schon im ersten Hauptstück zitierten
(und bislang ebenfalls noch nicht übersetzten) bedeutenden Buch "Les Suicides"
von Jean Baechler, für mich völlig neue Einblicke in wissenschaftlich-objektive
Tatbestände.
Das Wesentliche aber ereignet in diesem Band sich jenseits der objektiven Forschung.
Ein ziemlich langes Leben intimen Umgangs mit dem Tod im allgemeinen, dem Freitod
im besonderen, Gespräche mit kenntnisreichen Freunden, lebensentscheidende individuelle
Erfahrungen gaben mir jene Selbst-Legitimation, die Bedingung des Schreibens
ist.
An manchen Stellen wird man mißverstehend vielleicht meinen, im hätte hier eine
Apologie des Freitods konzipiert. Solcher Fehlauffassung ist nachdrücklich vorzubeugen.
Was nämlich als apologetisch erscheinen mag, ist nur die Reaktion auf eine Forschung,
die dem "Selbstmord" nachgeht, ohne den seinen Freitod suchenden Menschen zu
kennen. Dessen Befindlichkeit ist eine absurde und paradoxe. Ich habe nichts
anderes versucht, als den unauflöslichen Widersprüchen der "condition suicidaire"
nachzugehen und von ihnen Zeugnis abzulegen - soweit die Sprache reicht.
Brüssel, Februar 1976
Jean Amery
Jean Améry: "Hand an sich legen.
Diskurs über den Freitod"
Das Verbot, mit dem Religion
und Gesellschaft den Freitod belegen, läßt ihn als ein Vergehen erscheinen,
als unnatürlichen und absurden Akt. Aber drückt sich in solchem Urteilen und
Aburteilen nicht die Scheinobjektivität, das Unbetroffensein der mit dem Weltlauf
Einverstandenen, der Überlebenden aus? Und hat nicht auch der "natürliche" Tod
sein Unnatürliches und Skandalöses?
"Wer abspringt, ist nicht notwendigerweise dem Wahnsinn verfallen, ist nicht
einmal unter allen Umständen ´gestört´ oder ´verstört´. Der Hang zum Freitod
ist keine Krankheit,
von der man geheilt werden muß wie von den Masern. ... Der Freitod ist ein Privileg
des Humanen.«
Jean Améry wurde am 31.10.1912 in Wien geboren, absolvierte eine Buchhändlerlehre
und studierte Philosophie und Literatur. 1938 emigrierte er nach Belgien, wo
er 1943 als Mitglied der Widerstandsbewegung verhaftet und ins KZ Auschwitz
deportiert wurde. Nach 1945 lebte er in Brüssel als freier Schriftsteller und
Rundfunk-Mitarbeiter. Jean Améry erhielt unter anderem den Deutschen Kritikerpreis
(1970), den Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (1972)
und den Lessingpreis der Stadt Hamburg (1977).
Am 17. Oktober 1978 hat Jean Améry in einem Salzburger Hotel den Freitod gewählt.
(Klett-Cotta)
Buch bei amazon.de bestellen
Weiterer Buchtipp:
Emmanuèle Bernheim: "Alles ist gutgegangen"
"Die Diagnose ist nicht berauschend."
88-jährig erleidet André Bernheim, Kunstsammler in Paris, schillernd, charmant, vital, einen schweren Schlaganfall. Nichts, was sein Leben ausmachte, ist ihm nun mehr geblieben, und so bittet er seine Tochter, ihm den Freitod zu ermöglichen.
Mit literarischer Intensität, dicht und präzise, erzählt Emmanuèle Bernheim, welche unendliche Zumutung dies für die
Familie ist, wie sie sich trotz unauflösbarer Gewissenskonflikte gemeinsam auf den Tod zubewegt.
Mit großer Offenheit spricht sie über eine der letzten tabuisierten Fragen unserer Zeit und eine sehr persönliche Entscheidung - sie berührt damit jeden von uns. Ein großes Buch über das Glück des Lebens und die Freiheit zu sterben.
Emmanuèle Bernheim, 1955 geboren, lebt als freie Schriftstellerin und Drehbuchautorin
in Paris. Sie wurde u. A. mit dem "Prix Médicis" ausgezeichnet. Ihre Romane wurden in 25 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschienen von ihr "Der rote Rock" (2002) und "Stallone" (2003). (Hanser)
Buch bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen