Leseprobe aus "Familienbrand"
von Vladimir Zarev


Erstes Kapitel

1

Das war ein Leben lang nie anders gewesen, selbst als er ihr die Kinder machte. Immer hatte er sie zum Narren gehalten. Als er nun auf dem Bett lag, mit trunkenen, schweißgebadeten Zügen und zerzaustem Schnurrbart, und sie um eine Kerze bat, wollte sie ihm einfach nicht glauben, sondern musste laut lachen. Zum Scherz steckte sie ihm eine Stange Lauch zwischen die gefalteten Hände. Doch dann sah sie, wie sich sein Gesicht verkrampfte, wie sein Mund sich plötzlich öffnete, dann, wie er die Zähne bleckte, und schließlich, wie sein schwacher letzter Seufzer die Flamme des Petroleumlichtes neben der Schlafstatt glattstrich.
"Ja, willst du denn im Ernst ...?", fragte sie mehr sich selbst - und begann zu weinen. Ihre Tränen flossen nicht so sehr aus Schmerz als vielmehr aus dem schalen Gefühl heraus, dass er es wieder einmal geschafft hatte, sich aus der Affäre zu ziehen und sie dabei an der Nase herumzuführen. Sie empfand eine bodenlose Einsamkeit und zugleich etwas Erhabenes. Durch das Dach des Hauses spürte sie die Sterne, den Frühlingshimmel, kalt und feierlich wie die Kuppel eines Doms. Das Zimmer kam ihr auf einmal furchterregend leer vor, so, als hätte eine unsichtbare Gestalt alles hinausgetragen, sogar ihr Leben. Sie biss sich auf die Lippen, schaute sich hilflos um. Seine Finger waren schon in Totenstarre um den Lauch gekrallt, so dass sie ihn mit ihrem zahnlosen Mund abknabbern musste. Der scharfe Saft mischte sich in ihrem Hals angenehm mit dem Salz der heruntergeschluckten Tränen, klärte ihren Kopf und trieb sie zur Eile an: Die Dinge der Tradition duldeten keinen Aufschub.
Mühsam entkleidete sie ihn, durchtrennte mit der Schere den groben Stoff seiner langen Wollhose und blickte verdattert auf die wächserne Durchsichtigkeit seiner abgemagerten Beine. Nein, das war nicht der Mann, den sie kannte, sondern eine Elfenbeinpuppe, die einem toten Menschen glich. Sie wurde müde. Alles kam ihr lautlos vor, rätselhaft, wie in der Zeitlupe eines Traums.
Er war ein schuldbeladener, ein gütiger und ein grausamer Mensch zugleich gewesen, mit einer Jugend, die ein blutiges Geheimnis barg, und einem Alter voller Laster. Er ging bis zuletzt zu den Zigeunern, brachte ihnen Wein und kleine Münzen, und sie heiterten ihn dafür mit ihrem Klarinettenspiel auf. Die Zigeunerinnen setzten sich ihm auf den Schoß, zerstrubbelten seinen seidigen Schnurrbart, und wenn es heiß war, fächelten sie ihm mit ihren Röcken Luft zu und warteten, dass er sie mit einem Fünf-Lewa-Schein zwischen den Brüsten oder am Hintern streichelte. Es gab auch eine verwitwete Walachin mit weißen Schenkeln, die ihm abends das Tor ihres ärmlichen Häuschens auftat, von seiner Altersschwäche kostete und ihn mit ihrer gesalbten Haut vergiftete. Manchmal betrank er sich oder saß beim Würfelspiel in den Kneipen. Doch er versäumte es nie, in die Kirche zu gehen. Während der Liturgie liefen ihm die Tränen herunter. Und wenn er beim Abendmahl die Hostie von Vater Anissi entgegennahm, erzitterte sein weiß gewordenes Haar.
Er war ein großer Mann mit einem harten Leben und einer harten Hand gewesen. Er hatte Gott und die Menschen mehr als sich selbst geliebt, was ihn aber nicht daran gehindert hatte, nur nach eigenem Wissen und Gewissen zu handeln. In seinem Gemüt lebten ein Judas und ein barmherziger Engel brüderlich nebeneinander. Sie, Petruniza, verzieh ihm mit derselben Hartnäckigkeit, mit der er sündigte, denn sie hatte von ihm eine Glasperlenkette, fünf Kinder und ebenso viele Kattunkleider.
Er hatte sie sich gleich zu Beginn ihrer Ehe gefügig gemacht. Abends fand er sie zwischen den Webdecken, unter denen sie schliefen, und umfing sie mit Zärtlichkeit, vor allem aber mit roher Gewalt. Sie fuhr auf, wenn er im Schlaf Dinge murmelte wie: "Ich hau dich in Stücke! Auf dieser Welt gibt es keinen Platz für uns beide." Sie erinnerte sich auch an ein besonders schlimmes jener jährlichen Hochwasser, die zur Zeit der Kirschblüte die Donau anschwellen ließen und daher in Widin "Kirschflut" genannt wurden. Die Wassermassen brausten auf die Häuser zu, als hielte Gott eine Strafpredigt. Brüllend füllte die Flut die Keller, stauchte die Zeit, stauchte das Licht, säte Angst und Schrecken und lehrte die Widiner so aufs Neue ein bisschen Demut. Da hatte sie ihn das erste Mal wehrlos erlebt. Sein kraftvoller Körper zuckte, als züngelten Flammen darin auf; seine Augen waren fassungslos und unverstellt gleichsam auf die Ewigkeit selbst gerichtet, auf eine ferne Bestimmung, die vor seiner Geburt lag. Er sah fürchterlich und erbarmungswürdig zugleich aus und wiederholte mit der suchenden Stimme eines Blinden: "Fleisch ... Ich muss Fleisch essen! Fleisch ..." Und sie, verstört und sanft, hin und her gerissen zwischen der rauschenden Naturgewalt des Wassers draußen und der geballten Naturgewalt in seiner Seele, gab ihm das letzte Stück Speck, das sie für die Kinder gehortet hatte. Sie wusste nicht, was in ihm vorging, doch es wiederholte sich alle paar Jahre. Dann füllte eine urgewaltige Wut seinen Mund mit Schaum, versetzte seinen ganzen Leib in Zuckungen. Es sah aus, als empfinge er eine Offenbarung. Der gesunde Menschenverstand trat ihm aus den Augen, er zerbiss das Fleisch, seine Kiefer kauten hastig und gierig, dann beruhigte er sich unversehens und, ohne irgendetwas zu erklären, ging er in seine eigene Kneipe, trank einen Liter vom Zweijährigen und kehrte zurück, um Liebe mit ihr zu machen, sie mit neuer Frucht zu füllen. Petruniza fragte nicht, weil sie ihn liebte. Mag es denn so sein, dachte sie, wenn der Schrecken vorüber war, wenn Gott es so gewollt hat ... Es hilft nichts, aber es schadet auch nichts. Also mag es denn so sein!
Die Kinder wuchsen heran, während er in der Düsternis seiner Kneipe in immergleicher Trance, bis unter die Haarspitzen gespannt, in unerklärlicher und schmerzlicher Ungeduld darauf lauerte, endlich etwas noch nie Dagewesenes zu vollbringen, irgendeine grandiose Helden- oder Untat. Er barst vor Verlangen, entweder zu ihr zurückzukehren oder sie einfach zu verlassen, sich auf und davon zu machen, frei und ungezügelt wie das Leben selbst. Die alte Petruniza wusste nicht, wofür er gelebt hatte, doch sie fühlte, dass sein Leben im Guten wie im Bösen einen Sinn gehabt hatte.
Nun lag er da, nackt, kalt und vor allem verlassen, mit dem abgenagten Stück Lauch zwischen seinen zusammengekrallten Fingern. Seine Kraft war von ihm gewichen, zusammen mit seinem Atem und jener ewigen Zeit, die er sechsundsechzig Jahre lang um sich her geschaffen hatte. Sie wusch ihn mit den gleichmäßigen, gedehnten Bögen einer Volksliedmelodie und fühlte, dass sie ihm bald schon nachfolgen musste. In der Sorgfalt ihrer Trauer sah es aus, als sei sie untrennbar mit ihm verbunden.
Sie holte ein Stück Holzkohle aus dem Feuer, blies darauf und hielt die Glut an das Ende seiner weißen Schnurrbartspitzen. "Zur Reinigung", stieß sie beklommen hervor und erschnupperte den Geruch verbrannter Wolle. Sie warf die Kohle in den kleinen Kupferkessel, der daraufhin dreimal Blasen warf, und ihr schien, dass das ein gutes Omen war. Dann löste sie mit leichter Hand ihre Zöpfe und begann, wie es sich gehörte, zu wehklagen, denn die Nachbarn mussten von seinem Tod hören, bevor die Kirchenglocken ihn dem Himmel verkündeten. (...)


Vladimir Zarev: "Familienbrand"
Übersetzt von Thomas Frahm.
Deuticke im Zsolnay Verlag, 2009. 784 Seiten.
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Vladimir Zarev, den nicht nur Dimitré Dinev als einen der wichtigsten Autoren in Bulgarien ansieht, erzählt im Roman "Familienbrand" die Familiengeschichte der Weltschevs. Petruniza, die Witwe des alten Assen Weltschev, lebt mit ihren fünf Kindern in Widin, einer verschlafenen Kleinstadt am Unterlauf der Donau. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird auch Widin in den Strom der Politik gerissen; in diesen unruhigen Zeiten suchen die Brüder Weltschev ihr Glück auf unterschiedliche Weise: Panto macht Karriere als Bankier, Ilija als Fabrikant und Ausbeuter. Christo, der sich für den Sozialismus begeistert, wird zum Helden wider Willen, und Jordan will eine Kirche bauen, einen Ort der Buße, doch es wird eine Raststätte, ein Ort der Muße für Sünder aller Art. Die Zukunft aber, die kann nur Jonka erkennen, die als Einzige in der Familie hellseherische Fähigkeiten hat. Ein großes Epos aus Bulgarien im 20. Jahrhundert.