Streifzüge durch die zeitgenössische Literatur anderer Länder

Slowenien

(von Thomas Strobl)


Unser südöstlicher Nachbar ist - es sei nicht verschwiegen - noch im Besitz eines gut erhaltenen Dual (grammatikalische Kategorie der Zweizahl neben den auch andernorts bekannten Einzahl und Mehrzahl) und seit der Unabhängigkeitserklärung im Jahre 1991 zum ersten Mal in der Geschichte eines eigenen Staates; nachdem Slowenien in seiner Geschichte je nach den jeweiligen Machtverhältnissen abwechselnd unter deutsch-österreichischem und venezianischem Einfluss stand und nach dem Ersten Weltkrieg den nördlichsten Teil Jugoslawiens bildete. Die nunmehrige Republik Slowenien wird von etwas über 2 Millionen Slowenen bewohnt und erstreckt sich über eine Fläche von 20.251 Quadratkilometern, mit so unterschiedlichen Landschaften wie der pannonischen Ebene im Osten, den Kalkalpen mit märchenhaft schönen Tälern im Norden, dem berühmten Karst und einem schmalen Küstenstreifen im Süden, dazu kommen zwei Großstädte, Maribor und Ljubljana, mit dem Stadtkern unverwechselbar aus der Habsburger Zeit. Slowenen leben außerhalb ihres Staatsgebiets im Süden Kärntens und der Steiermark, auf der zur Republik Kroatien gehörenden Halbinsel Istrien, in Italien rund um die Stadt Triest sowie natürlich in Übersee. In der Gegend um Triest lebt auch der Schriftsteller Alojz Rebula, und ebendort spielt auch der Großteil seines 1998 erschienenen Buches "Abschied im Wermutjahr".

MILLE ET NON PLUS MILLE -Tausend und keine Tausend mehr - kürzlich erst genauso hochaktuell wie zur Zeit, da Rebulas Geschichte spielt, dem Jahre 999 nach Christus. Wie viele Andere damals und heute befindet sich auch der Buchverzierer und Bauer Nitard aus Burgund in Weltuntergangsstimmung, allerdings äußert sich diese bei ihm als frommem Christen mehr als frohe Erwartung auf das Kommen des Herrn. Da das Erscheinen Christi angeblich auf dem Berg Sinai stattfinden soll, verlässt Nitard seine Frau, mit der er, wie auf wenigen Seiten anschaulich und schön beschrieben wird, tatsächlich glücklich verheiratet ist (!), und bricht zu einer Pilgerreise nach Jerusalem auf. Doch endet seine Reise frühzeitig in dem Benediktinerkloster Stivan (nahe dem heutigen Triest). Denn er fühlt sich in der Menschlichkeit der wenigen Klosterinsassen und in der maßvollen Reife des alten, blinden Abtes so geborgen, dass er beschließt, hier auf die Stunde Null zu warten. Seine einzige Pflicht hierbei ist es, dem Abt, der selbst mitnichten an einen Weltuntergang glaubt, jeden Abend aus der Offenbarung des Johannes vorzulesen. Nahtlos fügt er sich in die Klostergemeinschaft mit ihren grundverschiedenen und doch ein Ganzes ergebenden Charakteren ein, während er einen Gutteil seiner übrigen Zeit damit verbringt, sich von den Elementen von Gottes Schöpfung, Wolken, Bäumen, Bergen, Sonne und so weiter, zu verabschieden.
Es handelt sich um ein ruhiges, kontemplatives Buch, in dessen Zentrum das Stivaner Kloster mit den Hauptfiguren steht, dem Abt, Nitard und den anderen Mönchen, die bei allem Unterschied von Temperament und Intellekt doch ihre spirituelle Ausrichtung gemeinsam haben. Ihre und so auch des Lesers Themen sind rechtes Maß bei allen irdischen Vorlieben - das Hässliche nicht zu verachten und das Schöne zu lieben ohne daran zu hängen, Diskussionen und Erinnerungen an Paradies und Sündenfall oder - wie etwa im Fall von Nitard - die unaufgelöste Spannung zwischen sinnlicher Liebe zum Irdischen - wenn auch, wie schon gesagt, zuallererst in Gestalt seiner Frau - und Sehnsucht nach dem Göttlichen. Mit dieser spirituellen Grundatmosfäre korrespondieren auch Technik und Form des Buches. Rebula lässt Ereignisse, wo man als moderner, zur Sensationsgier erzogener Mensch erwarten würde, dass er länger bei ihnen verweilt oder sie zum Gegenstand einer Reflexion macht, nur kurz anklingen und schafft so mit einfachen Mitteln ein neues Wertgefüge.

Vielleicht noch das Beispiel einer solchen Episode, die im ganzen Buch gerade ein paar Zeilen in Anspruch nimmt: auch einige ehemalige Seeräuber suchen gegen Ende Dezember das Kloster auf, um sich von einem ebenso vitalen wie trinkfreudigen Pater die Beichte abnehmen zu lassen. Nur einer bleibt zurück und antwortet auf eine diesbezügliche Frage, zuerst müsse Gott bei ihm bereuen, dass er ihn erschaffen habe. Später lässt sie der Pater vom Klosterwein, dem von ihm heißgeliebten Pucincan, kosten. Wieder fehlt derselbe Mann, wenn er jenes abgelehnt habe, müsse er es auch bei diesem tun. Worauf der Pater den Mann eigenhändig in den Keller zieht, ihm zu trinken gibt und ihn dann fragt, ob er dem Herrgott wenigstens für das Vergehen verzeihe, den Wein erschaffen zu haben.
"Diese Absolution versagte der Seemann dem Schöpfer keineswegs ..."

Wir wandern ein paar Kilometer die Küste entlang nach Istrien und tauchen ein in eine Welt, wo Weiden spotten, Grashalme fluchen und die Dragonja gute Ratschläge zu geben und wunderschöne Wiegenlieder zu singen weiß. Das ist die Welt von Boskin, dem Helden von Marjan Tomšics Novelle "OSTRIGECA" (Zauberei). Boskin ist ein mythologisches Wesen, verwandt etwa dem mittelalterlichen Narren, Tomšic selbst nennt seine Figur ewigen Wanderer und Vagabunden, oder auch Landstreicher und König der Heimatlosen. Und in der Tat ist Boskin ohne fixe Wohnstätte ständig unterwegs, dabei schläft er im Freien oder in Ställen, allerhöchstens ein paar Tage hält er es bei den Menschen aus, denn diese sind im Vergleich zur übrigen Natur - nun, man weiß, wie sie sind. Doch einmal in Menschengesellschaft beweist der Held angesichts ihrer Schwächen große Sanftmut und hilft ihnen, wo immer er mit seinen gar nicht geringen magischen Kräften nur kann. Dafür bekommt er von ihnen etwas Warmes zu essen und vor allem Wein zu trinken (wie es scheint, ein wahres Lebenselixier für die Slowenen), um sich entsprechend illuminiert wieder auf den Weg zu machen. Unterwegs sehen wir Boskin mit den Bäumen, Flüssen, ja, mit Luna höchstpersönlich Zwiesprache halten. Und damit nicht genug, ist da auch noch seine Gegenspielerin, die ebenfalls mancher Zaubertricks kundige und ziemlich böse Hexe Babura Stafura, mit der er sich das ganze Buch hindurch herumschlagen muss, zu seinem Verdruss, aber sehr zum Vorteil des Lesers, der so in den Genuss manch grotesker Szenen voll derber Komik und bizarrer magischer Wendungen kommt.

Den besonderen Wert des Buches macht der magisch-psychotische Grundcharakter verbunden mit einer starken, beinah greifbaren Erdigkeit aus. Mit Letzterer sind einerseits die ganz konkreten, geografisch korrekten Ortsangaben gemeint, bestimmte Dörfer Istriens, oder Landschaften mit typisch istrischer Flora, andererseits vermitteln einem auch die fantastischen Szenen das Gefühl, Tomšic habe sich zuvor eifrig in Sagen und Märchen der Region vertieft und andere volkskundliche Studien betrieben und dabei manche Perle zutage gefördert. Und schließlich auch die Sprache selbst: Tomšic benützt istrische Regionaldialekte mit einem hohen Fremdwörteranteil (italienisch, deutsch. . . ), was in der Übersetzung natürlich nicht immer wiedergegeben werden kann, und es ist die Kunst des Autors, dem Leser zumindest eine Ahnung von der magischen Dimension der (geschriebenen und gesprochenen) Sprache zu geben.

Nun zu zwei politischen Büchern: jahrzehntelang hat der Schriftsteller Zarko Petan aus Ljubljana Material über das einstige jugoslawische Staatsoberhaupt, Marschall Tito, zusammengetragen. Gespräche mit Partisanenkameraden, ehemaligen Geliebten und anderen Genossen ergaben ein so anderes Bild des Marschalls, dass Petan die Operette als ideale Kunstform für diese Figur erachtete; in der kurz darauf entstandenen Prosafassung lautet der Titel "Das herrliche Leben des Josip B. Tito - Eine Farce in Prosa". Sie erleben Tito als Heiratsschwindler, Tito als begnadeten Tänzer, Tito als Verwandlungskünstler, Tito als Uniformfetischisten, Tito als geilen Bock, Tito als Oktoberrevolutionsignoranten und vieles mehr, geistreich, mit feinem Humor und boshaften Seitenhieben auf sein ehemaliges Staatsoberhaupt (Zarko Petan genießt übrigens einen besonderen Ruf in der seltenen Kunst der Aforistik) beschrieben, dazu in Nebenrollen Jaroslav Hašek, Anastasia Romanova und Robert Stolz.

Drago Jan
čar, ebenfalls wohnhaft in Ljubljana, ist der meistübersetzte Autor der zeitgenössischen slowenischen Literatur. Das hundertseitige Buch "Bericht über eine lange belagerte Stadt oder Gerechtigkeit für Sarajewo" (Wieser Verlag, 1996) ist seine persönliche Stellungnahme zum jugoslawischen Bürgerkrieg und im besonderen zum Schicksal der bosnischen Hauptstadt. Jančar besuchte Sarajewo während ihres Belagerungszustands (natürlich kannte er die Stadt auch schon von früher), sprach mit Politikern, hörte sich Erzählungen moslemischer, kroatischer und serbischer Schriftstellerkollegen an und sah vor allem mit eigenen Augen, was ein derartiger Alltag für die Psyche der Einwohner bedeutet. Der scharfe analytische Blick des Autors und - da Slowene - großes Insiderwissen bei gleichzeitiger Unparteilichkeit machen das Buch zu einem wertvollen und mancherorts wütenden Kommentar zur Katastrofe auf dem Balkan.

Ein existenzielles und wahrscheinlich weitgehend autobiografisches Buch Drago Jan
čars ist der Roman "Luzifers Lächeln" (Wieser Verlag, 1995). Der junge slowenische Schriftsteller Gregor Gradnik erhält einen Einjahresvertrag als Gastvortragender in der Schule für kreatives Schreiben des Professors Blaumann in New Orleans. Über die Beweggründe zu seiner Fahrt ins Blaue macht Gradnik bei seiner ersten Vorlesung oder Unterrichtsstunde eine Andeutung. Von allen Unglücken das größte, sagt er, sei der Wunsch, Gott und den Teufel zugleich in seinem Herzen wohnen zu lassen; und genau dies wolle die Literatur. Völliges Unverständnis rundum, denn diese Problematik ist gleichsam eine Nuss, die von ihm persönlich geknackt werden muss. Und so begibt sich der Held synchron zu seiner äußeren auch in innere Emigration, wird zum bloßen Beobachter, nicht nur des New Orleanser way of life (angesichts des ungeschriebenen panamerikanischen Gesetzes von "smile and be happy" denkt Gradnik: wie schön sind die Menschen, wenn sie weinen), sondern auch seiner eigenen tugendhaften und lasterhaften Taten. In Verbindung mit seinem Temperament - weniger Tendenz zu Selbstmitleid als zum Sichtreibenlassen - erzeugt das eine Stimmung, die ihn (und den Leser) vor allem die Schattenwelt von New Orleans erfahren lässt. Das Wappentier dieser Welt ist ohne Zweifel das lichtscheue und in dieser Stadt en masse vorhandene Rieseninsekt namens Kakerlak. Viel mehr möchte ich dazu eigentlich nicht sagen, bei einem so persönlichen Buch wie diesem ist es doppelt wahr, dass man selber lesen und selber miterleben muss. Dass der Anteil an schwarzen Jazzmusikern in New Orleans klarerweise größer als in Ljubljana oder Wien ist, dürfte ohnedies bekannt sein. Professor Blaumann ist bei all seiner liberalen Bürgerlichkeit übrigens auch nicht ganz koscher, sein Hauptwerk soll nämlich ein Buch über die melancholische Materie werden (Anatomie der Melancholie, Geschichte der Melancholie, Wechselwirkung von Körpersäften, Geist und Psyche, etc. ...), mit den besten Chancen, nie damit fertig zu werden. Und natürlich weiß ich nicht, ob oder inwieweit die Schlussvision des Romans etwas mit dem Knacken einer Nuss zu tun hat.

Zwei unzeitgenössische Tipps bzw. Informationen: anlässlich seines 150. Todestages erschien eine Ausgabe von France Prešerens Werken. Prešeren ist unter anderem der Dichter der slowenischen Nationalhymne (hat glaub' ich wieder was mit Wein zu tun).

Als bedeutendster slowenischer Dichter, Wegbereiter und gleichzeitig erster Höhepunkt der slowenischen Moderne gilt Ivan Cankar (1876-1918). In seinem Spätwerk "Traumbilder", diktiert von den Gräueln des Ersten Weltkriegs und des Dichters nahem Ende, zeigt sich Cankar als wahrer Meister der Sprache, der in mannigfaltigen Facetten und Formen die Situation des Menschen während des Kriegs, zwischen Barbarei und Transzendenz, beschreibt. 1998 sind im Drava-Verlag sämtliche Werke Cankars in einer wunderbaren Übersetzung erschienen.

Interessenten für slowenische Lyrik möchte ich zum ersten Einlesen und Selberentdecken die Anthologie "Nirgendwo eingewebte Spur", (Edition Atelier, Hrsg. Janko Ferk; 8007-3), empfehlen.

Dass keine österreichischen Slowenen besprochen wurden, hat vor allem damit zu tun, dass diese ohnehin Gegenstand unserer Rezensionen von Neuerscheinungen werden. Doch sei noch die in Graz lebende, deutsch und slowenisch dichtende Lyrikerin Maja Haderlap erwähnt, mit einer Sprache wie ein strahlend sonniger Mittfebruartag bei minus 2 Grad.

Und um einen Kreis zu schließen und weil es überhaupt ein schöner Schluss ist, beende ich meinen Streifzug mit dem Zitieren eines deutsch schreibenden Österreichers mit slowenischen Vorfahren, mit den letzten Sätzen von Peter Handkes Buch "Die Wiederholung":
Nachfahr, wenn ich nicht mehr hier bin, du erreichst mich im Land der Erzählung, im neunten Land. Erzähler in deiner verwachsenen Feldhütte, du mit dem Ortssinn, magst ruhig verstummen, schweigen vielleicht durch die Jahrhunderte, horchend nach außen, dich versenkend nach innen, doch dann, König, Kind, sammle dich, richte dich auf, stütze dich auf die Ellenbogen, lächle im Kreis, hole tief Atem und heb wieder an mit deinem allen Widerstreit schlichtenden. "Und ..."

SREČNO!


Im Artikel erwähnte Bücher:

Alojz Rebula: "Abschied im Wermutjahr"
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Marjan Tomšic: "Ostrigeca. Eine magische Novelle aus Istrien"
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Zarko Petan: "Das herrliche Leben des Josip B. Tito - Eine Farce in Prosa"
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Drago Jančar: "Bericht über eine lange belagerte Stadt oder Gerechtigkeit für Sarajewo"
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Drago Jančar: "Luzifers Lächeln"
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Ivan Cankar: "Traumbilder"
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Janko Ferk (Hrsg.): "Nirgendwo eingewebte Spur. Anthologie slowenischer Lyrik"
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