Die Umsetzung neuer Religionssysteme bedient sich derselben Mittel, wie auch all die ökonomischen und politischen Systeme oder das weltliche Technikum. Das Heidentum wollte das christliche System vernichten, danach wollten die Christen die Häretiker vernichten, und so will unter den weltlichen Systemen eines das andere vernichten.
Jedes Religionssystem zeigt dem Volk seine Vorteile und das Heil, Gott zu erlangen, und genauso zeigt das weltliche System das Heil und seine schnellstmögliche Erlangung in den Vollkommenheiten. Beider Rede läuft auf das Heil hinaus - aber auf welches Heil? Das eine System sieht das Heil im geistigen Sein mit einem geistigen Gott; welches aber ist das Heil des anderen? Es läuft auf dasselbe hinaus, wenn man die Entwicklung der Technik in Betracht zieht, die den Körper von der physischen Arbeit befreien soll, indem sie alle Arbeit auf sich nimmt. Was aber soll der Körper machen? Ist er befreit, glaube ich nicht, dass er sich auf die Rolle des Fressers beschränken wird, er sollte andere Bedürfnisse haben: ein neues physisches Leben im Geistigen. Und wenn nicht, dann wird er nach der Befreiung des Körpers vom Physischen den Beweis dafür erbringen, dass er ein Paradies erbaut beziehungsweise wiedererrichtet hat, in dem der Mensch die Stellung Adams einnehmen wird. Das wird denselben Himmel meinen, zu dem die Kirche, die Religion ihre Gemeinde führen will, mit dem einen Unterschied, dass die eine ihre Gemeinde ohne Körper bringt, sie bringt nur die Seele, während die andere ihre Gemeinde in ihrem Körper belässt. 
Berücksichtigt man jedoch die Wiederkunft Christi zu richten über die Sünder, dann sieht man, dass alle Verstorbenen sich in einen Körper kleiden und bereits als solche in den Himmel eintreten, so dass in den beiden Systemen der Religion und der Fabrik dieselben Vollkommenheiten liegen: ein Gott und ein Heil; und wenn es gegenseitige Vorwürfe der Voreingenommenheit gibt, dann sind diese für mich unverständlich. Die Religion liest ihrer Gemeinde heilige Schriften über die Vollkommenheit ihrer Heiligen, die Fabrik liest aus eigenen wissenschaftlichen Werken über die Vollkommenheit. 
Erstere lehrt in heiligen Schriften, wie man religiöse Vollkommenheit erlangen kann, um ein Heiliger zu werden, das Technikum der Fabrik lehrt dasselbe, nämlich wie man Gelehrter wird. Unter allen Studenten der Religion finden sich im Laufe von Jahrhunderten oder eines Jahrhunderts nur vereinzelt Heilige, ähnlich trifft man auch unter Hunderttausenden Gelehrter nur vereinzelt vollkommene Menschen, alle anderen bleiben Sünder hier wie dort. 
Die Religion oder die Kirche nimmt in die Schar der Heiligen alle auf, die an den technischen Gebrechen des Menschen Wunder vollbracht haben. Die Fabrik rechnet der Schar der Gelehrten jene hinzu, die ebenfalls Wunder an den technischen Unzulänglichkeiten des menschlichen Lebens vollbracht haben. Beide haben sie ihre Heiden, die den Verkündern des Glaubens und der industriellen Vollkommenheit den Garaus machen wollen. Die einen wie die andern wurden verbrannt, ertränkt oder verfolgt. Die einen wie die anderen kämpfen für die Vollkommenheit, kämpfen für Gott. 

Das Streben des Menschen nach Einheit ist ein unklares Streben nach einer Einheit, verstanden als eine allumfassende Lenkung in Gott, das meint eine Einheit, bestehend in der Dreifaltigkeit als Lenkung des Universums und im Menschen als Lenkung seines allmenschlichen Lebens. Das menschliche Leben hat sich indessen in zweierlei Begriffe oder Erkenntnisse des Lebens aufgeteilt. Die eine Erkenntnis sieht das Leben im Geist als Erkenntnis und Dienst an Gott; und sie hat sich einen Tempel oder eine Kirche erbaut, worin das Leben als Dienst abläuft, wofür es die für den Dienst notwendige Produktion von Mitteln erzeugt. Die andere Erkenntnis sieht das Leben als Dienst an der Selbstvervollkommnung, sie hat sich eine Fabrik errichtet, worin der Dienst ausschließlich in der Schaffung technischer Mittel besteht. 
Erstere Erkenntnis schafft die geistige Vollkommenheit, letztere die körperliche. Ihr Unterschied - der Kampf zwischen Materie und Geist - zwingt zur Annahme, Körper und Geist seien zwei irgendwie feindliche Prinzipien, die selbstständig und unabhängig voneinander existieren, doch warum kämpfen sie dann miteinander? Etwa deswegen, weil ihre Bindung vor dem Beginn der Ewigkeit entstanden ist und sie sich jetzt voneinander lösen und jedes für sich, nach eigenen Plänen, leben möchte. Andererseits kann der Geist nicht ohne die Materie leben, wie auch die Materie nicht ohne den Geist, und drittens erhebt sich die Frage: existiert die Materie überhaupt?
Ist das, was wir Materie nennen, nichts Anderes als geistige Bewegungen, oder aber ist es vielleicht doch so, dass alles, was wir Geist nennen, die Bewegung der Materie ist? Wie dem auch sei, ob sich nun das eine oder das andere bestätigt, ist zunächst einmal unwichtig, wichtig ist die Definition des Lebens: Es erscheint ein drittes Prinzip, das definiert, was Leben ist, und von dieser Definition hängt ab, in was sich Materie als Geist oder Geist als Materie verwandeln. Im einen Fall gilt als wahr nur das Leben im Geiste, im andern ist die Wahrheit in der Materie - so entstanden die beiden Bewegungen des geistigen und des materiellen Lebens. Folglich gab es die angenommene Bindung zweier Prinzipien nicht, denn es gab ein einziges Prinzip, das auf zweierlei Ebenen betrachtet wurde. 
Was ist das aber für ein Prinzip? Ich übergehe einmal die beiden letztgenannten und setze als Prinzip die Erregung. Gibt es in ihr Geist oder Materie? Meinen Annahmen zufolge gibt es (in ihr) keine Materie, denn unter Materie verstehe ich ein unteilbares Teilchen, das es nach meinen Schlussfolgerungen im Universum nicht gibt; Dichte wiederum ist teilbar und kann somit nicht Materie sein, und auch unter dem Geistigen versteht die Allgemeinheit jenen besonderen Zustand, der die religiöse Bewegung steuert. Die Geisthaftigkeit wirkt in Gott; andererseits sind das Geistige und der Geist voneinander verschieden: Der Geist kann überall sein, im Göttlichen und im Nichtgöttlichen; wenn wir beispielsweise sagen, wir müssen den Geist der Truppe stärken, dann zeitigt diese Stärkung des Geistes Resultate: die Einnahme der Festung, die Vernichtung ihrer Besatzung; will man aber den geistigen [d.h. pneumatischen] Zustand stärken, dann geht die Armee von den Schlachtfeldern in die Kirchen. So sind denn Geist und Materie Prinzipien, welche die Allgemeinheit auf ihre Urteile anwendet und so umsetzt - also eine rein gegenständliche, technische Anwendung und falsch aufgeteilte und unrichtig verstandene Prinzipien! 
Indem wir Dichte für Materie halten, beginnen wir mit dem Aufbau einer Weltanschauung als etwas Realem, Wirklichem, so dass genau so, wie wir die Grundlage verstehen, auch der Realismus oder die Wirklichkeit aussehen wird: wie das Fundament, so das Gebäude. Man kann sagen, der Mensch hat noch kein einziges Gebäude zu Ende gebaut, denn die existierenden Weltanschauungen führen Streit miteinander, sie sind eben nur Urteile über Unbekanntes und möglicherweise Nichtexistentes. Ein [fertiges] Gebäude gibt es noch nicht, und ich bin nicht sicher, ob es je eines geben wird; es wird nie eines geben, weil der Mensch bemüht ist, alles auf einem Fundament, auf Gesetzmäßigkeiten, Sinn, Logik, Zweckmäßigkeit aufzubauen, d.h. auf etwas, was in den von ihm festgesetzten Grundlagen gar nicht existiert. Wenn er beispielsweise als Grundlage die Existenz der Materie annimmt, wird er eine materielle Welt als Wirklichkeit aufbauen; hat er das Geistige zu Grunde gelegt, wird er das Geistige aufbauen. Doch alle beiden Beweise sind umstritten, folglich findet sich bei den Streitenden die Wirklichkeit des Seins bei dem einen als geistige, bei dem anderen als materielle - daher verfügt der Mensch in seinem Gemeinschaftsleben über zwei Welt- oder Lebensrealitäten, vielleicht sind es sogar mehr. So errichtet sich der eine sein Leben oder sein Gebäude nach dem Gesetz der Materie oder nach der Realität, der andere nach dem geistigen Gesetz, und beide haben sie Augen zu sehen, doch sieht der Materialist bloß, dass der Mensch mit seinem geistigen Realismus ein Gebäude ohne festes Fundament baut, ja, er glaubt nicht einmal, dass da ein Fundament existiert; der andere sieht beim Materialisten dasselbe, so dass es letztendlich für keinen eine objektive Realität gibt, sondern für jeden nur seine subjektive. 
Der Streit unter den Menschen geht weiter, und das Gebäude steht immer noch nicht, beide wollen den Beweis für die gegenständliche Basis als das einzig Haltbare erbringen, aber in Wirklichkeit verharren beide im Ungegenständlichen.


(Aus "Gott ist nicht gestürzt! Schriften zu Kunst, Kirche, Fabrik" von Kasimir Malevic. 
Herausgegeben und kommentiert von Aage A. Hansen-Löve.
Aus dem Russischen von Thomas Kleinbub und Aage A. Hansen-Löve.)

Die theoretischen Schriften des russischen Künstlers Kazimir Malevic, reich kommentiert von Aage A. Hansen-Löve, einem der besten Kenner der Avantgarde. So wird ein "Kunstdenker" in all seiner Sperrigkeit und Grandiosität sichtbar, der für die europäische Moderne zum Säulenheiligen wurde. 
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