Thursday Next
... Das
Special Operations Network wurde zur Durchführung polizeilicher Maßnahmen ins
Leben gerufen, die entweder als zu ungewöhnlich oder aber zu speziell erachtet
wurden, um von den regulären Einsatzkräften bewältigt zu werden. Es gliedert
sich in insgesamt dreißig Teilbereiche, von der eher profanen Sektion
Nachbarschaftskonflikte (SO-30) über die sogenannten Literatur Agenten (SO-27)
bis zur Abteilung Kunst Verbrechen (SO-24). Die Wirkungsbereiche der Sektionen
SO-i bis SO-20 unterliegen strengster Geheimhaltung, obgleich allgemein bekannt
ist, dass die ChronoGarde als SO-12 und die Einheit TerrorBekämpfung als SO-9
firmieren. Gerüchten zufolge überwacht die Abteilung SO-1 ihrerseits die
SpecOps. Über die Aufgaben der übrigen Sektionen ist so gut wie nichts bekannt.
Fest steht nur, dass sich das Personal zumeist aus ehemaligen Soldaten oder
Polizeibeamten mit leichten psychischen Defekten rekrutiert. "Wer zu den SpecOps
will", so eine Redensart, "muss schon ein paar Schrauben locker
haben..."
Miuon de Floss
- Eine kurze Geschichte des Special
Operations Network
Mein Vater hat ein Gesicht, das eine Uhr stoppen
kann. Nicht dass er hässlich gewesen wäre; nein, mit diesem Ausdruck bezeichnet
die ChronoGarde Personen, die in der Lage sind, den reißenden Zeitstrom
sozusagen in ein zäh dahintröpfelndes Rinnsal zu verwandeln. Dad hatte als
Colonel in der ChronoGarde gedient und seine Arbeit stets geheimgehalten. So
geheim, dass wir von seinem Abgang erst erfuhren, als seine Chrono-Kollegen
eines Morgens mit einem unbefristeten, allzeit gültigen Haft- &
Eliminationsbefehl in unsere Behausung einfielen und wissen wollten, wo und wann
er steckte.
Seither ist mein Vater auf der Flucht; bei seinen späteren
Besuchen teilte er uns lediglich mit, dass er den gesamten ChronoDienst für
"moralisch und historisch korrupt" halte und einen Kampf als Ein-Mann-Guerrilla
gegen die Bürokraten im Ministerium für Zeitstabilität zu führen gedenke. Ich
habe bis heute nicht begriffen, was er damit meinte; ich konnte nur hoffen, dass
er wusste, was er tat, und dabei nicht zu Schaden kam. Dafür, dass er die Uhr
anhalten kann, hat er ein großes Opfer gebracht: Er ist jetzt ein einsamer
Wanderer zwischen den Zeiten, der nicht nur einer, sondern allen Epochen gehört
und dessen einziges Zuhause der chronoklastische Raum ist.
Ich war nicht
bei den ChronoGarden und hatte diesbezüglich auch keinerlei Ambitionen. Nach
allem, was man hört, gibt es dort nicht viel zu lachen, obwohl man angeblich
sehr gut verdient und das Amt seinen Mitarbeitern eine traumhafte Pension in
Aussicht stellt: eine Fahrt an jeden Ort der Welt in jeder gewünschten Zeit (nur
Hinfahrt). Nein, das war nichts für mich.
Ich war eine sogenannte
"Ai-Agentin" in den Diensten von SO-27, der Sektion LiteraturAgenten (LitAgs)
des Special Operations Network mit Hauptsitz in London. Das ist nicht halb so
aufregend, wie es sich anhört. Seit 1980 drängten die großen Verbrecherbanden
auf den lukrativen Literaturmarkt, und wir waren notorisch überarbeitet und
unterfinanziert. Ich war Bereichsleiter Boswell zugeteilt, einem aufgeblasenen
Zwerg, der wie ein Mehlsack mit Armen und Beinen aussah. Er lebte einzig und
allein für seine Arbeit; Wörter waren seine große Leidenschaft - für ihn gab es
nichts Schöneres, als einem kopierten Coleridge oder
falschen Fielding nachzuspüren.
Unter Boswells Leitung machten wir die
Bande dingfest, die mit gestohlenen Samuel-Johnson-Erstausgaben handelte; ein
andermal vereitelten wir den Versuch, eine groteske Fälschung von Shakespeares
verschollenem Cardenio zu authentifizieren. Was streckenweise zwar recht amüsant
war, letztlich aber doch nichts weiter als Oasen im öden, tagtäglichen Einerlei
von SO-27: Meistens schlugen wir uns mit Hehlern, Betrügern und Raubdruckern
herum.
Ich arbeitete seit acht Jahren für SO-27 und teilte mir in Maida
Vale eine Wohnung mit Pickwick, einem zahmen, zurückgezüchteten Dodo, der noch aus
Zeiten stammte, als Evolutionsumkehr der letzte Schrei war und man
Do-It-Yourself-Klon-Kits an jeder Ecke kaufen konnte. Ich wollte - nein, ich
musste - unbedingt weg von den LitAgs, doch Versetzung war ein Fremdwort, und
eine Beförderung kam nicht in Frage. In den Rang eines Inspektors konnte ich nur
dann aufsteigen, wenn mein direkter Vorgesetzter Karriere machte oder sich zur
Ruhe setzte. Aber dazu kam es nicht; Inspektor Turners Hoffnung, ihrem Traummann
zu begegnen, der sie ehelichte und von dessen Geld sie leben konnte, zerschlug
sich immer wieder, weil ihr Traummann entweder trank, log oder schon vergeben
war.
Wie gesagt, hatte mein Vater ein Gesicht, das eine Uhr stoppen
konnte; und genau das tat es denn auch, als ich eines schönen Frühlingsmorgens
in einem kleinen Cafe unweit meiner Arbeitsstelle saß und ein Sandwich
vertilgte. Die Welt flackerte, bebte kurz und blieb stehen. Der Besitzer des
Cafes erstarrte mitten im Satz, und das Bild auf dem Fernsehschirm gefror. Vögel
hingen bewegungslos am Himmel. Autos und Straßenbahnen hielten schlagartig an,
und ein in einen Unfall verwickelter Radfahrer hing mit angstverzerrter Miene
einen guten halben Meter über dem Asphalt in der Luft. Auch die Geräusche
brachen ab; an ihre Stelle trat die matte Momentaufnahme eines anhaltenden
Summtons, der mit gleichbleibender Lautstärke die Welt füllte.
"Na, wie
geht es meiner hinreißenden Tochter?"
Ich drehte mich um. Mein Vater saß an
einem Tisch und stand auf, um mich liebevoll zu umarmen.
"Gut", antwortete
ich und drückte ihn.
"Wie geht es meinem Lieblingsvater?"
"Ich kann nicht
klagen. Die Zeit ist eine hervorragende Ärztin."
Ich starrte ihn einen Moment
lang an. "Weißt du, was?" murmelte ich. "Ich habe den Eindruck, du wirst von Mal
zu Mal jünger."
"Werde ich auch. Irgendwelche Enkelkinder in Aussicht?" "Bei
meinem Lebenswandel? Nie und nimmer." Mein Vater zog lächelnd eine Augenbraue
hoch. "Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher." Er reichte mir eine
Woolworth-Plastiktüte.
"Ich war neulich in '78", verkündete er, "und habe dir
was mitgebracht."
Die Tüte enthielt eine Beatles-Single. Der Titel sagte mir
nichts. "Haben die sich nicht schon 1970 aufgelöst?" "Nicht immer. Was macht die
Kunst?"
"Nichts Besonderes. Echtheitszertifikate, Urheberrechtsverstöße,
Diebstahl..."
"... immer derselbe Mist, ja?"
"Ja." Ich nickte. "Immer
derselbe Mist. Was führt dich her?" "Ich habe deine Mutter in drei Wochen
besucht", antwortete er mit einem Blick auf den großen Chronographen an seinem
Handgelenk. "Aus den - ähem - üblichen Gründen. Nächste Woche will sie das
Schlafzimmer mauve streichen - würdest du bitte mit ihr sprechen und ihr das
ausreden? Die Farbe passt nicht zu den Vorhängen."
"Wie geht's ihr?" Er
seufzte schwer.
"Bestens, wie immer. Mycroft und Polly lassen auch schön
grüßen."
Polly und Mycroft waren meine Tante und mein Onkel; ich liebte sie
sehr, obwohl sie den einen oder anderen Sprung in der Schüssel hatten. Besonders
Mycroft fehlte mir. Ich war schon seit Jahren nicht mehr zu Hause
gewesen.
"Deine Mutter und ich würden uns freuen, wenn du mal wieder
vorbeikämst. Sie findet, du nimmst deine Arbeit zu ernst." " Das musst du gerade
sagen, Dad."
"Autsch, das hat gesessen. Wie steht's mit deinen
Geschichtskenntnissen?"
"Es geht."
"Weißt du, wie der Herzog von
Wellington starb?"
"Logisch", antwortete ich. "Er wurde gleich zu Beginn der
Schlacht von Waterloo erschossen. Von einem französischen Scharfschützen. Warum
fragst du?"
"Ach, nur so", brummte mein Vater mit Unschuldsmiene und
kritzelte etwas in sein Notizbuch. Er zögerte einen Moment.
"Dann hat Napoleon die
Schlacht also gewonnen!" fragte er zweifelnd.
"Unsinn", widersprach ich.
"Feldmarschall Blücher hat rechtzeitig eingegriffen und den Karren aus dem Dreck
gezogen." Ich kniff die Augen zusammen. "Das ist Stoff der achten Klasse, Dad.
Worauf willst du hinaus?"
"Also, das ist doch ein merkwürdiger Zufall,
findest du nicht?"
"Was?"
"Dass sowohl Nelson als auch Wellington, zwei
große englische Nationalhelden, gleich zu Anfang ihrer bedeutendsten und
entscheidendsten Schlachten erschossen worden sein sollen."
"Was willst du
damit sagen?"
"Dass wieder mal französische Revisionisten dahinterstecken
könnten."
"Aber es hat am Ausgang der beiden Schlachten doch gar nichts
geändert", beteuerte ich. "Wir haben beide Male gewonnen!"
"Davon, dass sie
ihr Handwerk tatsächlich verstehen, habe ich nichts gesagt."
"Das ist doch
lächerlich!" sagte ich. "Am Ende willst du mir noch weismachen, dass dieselben
Revisionisten 1066 König Harold ermorden ließen, um die Invasion durch die
Normannen zu unterstützen?"
Aber Dad lachte nicht. Statt dessen fragte er
erstaunt: "Harold? Ermordet? Wieso?"
"Ein
Pfeil, Dad. Ins Auge."
"Ein englischer oder ein französischer?"
"Das
ist nicht überliefert", erwiderte ich, genervt von seinen absurden
Fragen.
"Ins Auge, sagst du? - Die Zeit ist aus den Fugen", murmelte er und
machte sich noch eine Notiz.
"Was ist aus den Fugen?" fragte ich, weil ich
ihn nicht verstanden hatte.
"Nichts, nichts. Wie gut, dass ich zur Welt, sie
einzurichten, kam..."
"Hamlet?" fragte
ich, als ich das Zitat erkannte.
Statt einer Antwort hörte er auf zu
schreiben, klappte das Notizbuch zu und massierte sich geistesabwesend mit den
Fingerspitzen die Schläfen. Die Welt ruckelte eine Sekunde weiter und blieb dann
wieder stehen. Nervös sah mein Vater sich um.
"Sie sind mir auf den Fersen.
Danke für deine Hilfe, Schatz. Wenn du deine Mutter siehst, sag ihr, dass sie
das Schlafzimmer nicht mauve streichen soll."
"Alles außer mauve,
stimmt's?"
"Stimmt."
Lächelnd berührte er meine Wange. Ich bekam feuchte
Augen; diese Besuche waren viel zu kurz. Er spürte, dass ich traurig war, und
schenkte mir ein Lächeln, wie es sich wohl jedes Kind von seinem Vater wünscht.
Dann sagte er: "Denn ich schaute das Vergangene, so weit das SpecOp-Auge
reicht..."
Er hielt inne, und ich beendete die Strophe des alten
Chrono-Garden-Liedes, das mir mein Vater als kleines Mädchen immer vorgesungen
hatte: "... und die Welt lag mir zu Füßen, einem Meer von Möglichkeiten
gleich!"
Und dann war er weg. Ein Ruck ging durch die Welt, als die Uhr
wieder in Gang kam. Der Barmann beendete seinen Satz, die Vögel flogen in ihre
Nester, der Fernseher meldete sich mit einem ekelerregenden SmileyBurger-Spot
zurück, und der Radfahrer auf der anderen Straßenseite landete mit einem dumpfen
Schlag auf dem Asphalt.
Alles ging weiter, als sei nichts gewesen. Niemand
außer mir hatte Dad kommen und gehen sehen.
Ich knabberte abwesend an meinem
Krabbensandwich und nippte von Zeit zu Zeit an einer Tasse Mokka, die eine
Ewigkeit zu brauchen schien, um auf Trinktemperatur abzukühlen. Es war nicht
viel Betrieb, und Stanford, der Wirt, spülte Geschirr. Ich legte meine Zeitung
weg, um ein wenig fernzusehen, als das Logo des Toad News Network auf dem
Bildschirm erschien.
Toad News, ein Tochterunternehmen der Goliath
Corporation, war der größte Nachrichtensender Europas. Er versorgte sein
Publikum rund um die Uhr mit aktuellen Meldungen; da konnten die nationalen
Sender beim besten Willen nicht mithalten. Goliath verlieh Toad jedoch nicht nur
Stabilität und finanzielle Sicherheit, sondern auch eine leicht anrüchige Note.
Vielen missfiel der Monopolcharakter des Konzerns, und das Toad News Network
musste ein gerüttelt Maß an Kritik einstecken, obwohl der Sender wiederholt
bestritt, dass die Muttergesellschaft das Sagen hatte.
"Hier", dröhnte die
Stimme des Ansagers, begleitet von dramatischer Musik, "ist das Toad News
Network. Ihr Nachrichtensender mit Meldungen aus aller Welt, aktuell, informativ
und kompetent, JETZT!"
Die Nachrichtensprecherin kam ins Bild und lächelte
freundlich in die Kamera.
"Hier sind die 12-Uhr-Nachrichten vom Montag,
den 6. Mai 1985, mein Name ist Alexandria Belfridge. Die Krim", verkündete sie,
"geriet diese Woche einmal mehr ins Blickfeld internationaler Aufmerksamkeit,
als die Vereinten Nationen die UN-Resolution PN17296 verabschiedeten, die
England und die Russische Reichsregierung zu neuerlichen Verhandlungen über die
Zukunft der Halbinsel bewegen soll. Während der Krimkrieg in sein 131. Jahr
geht, drängen politische Interessengruppen im Inland und Ausland auf ein
friedliches Ende der Feindseligkeiten."
Ich schloss die Lider und stöhnte
leise vor mich hin. Ich hatte meine patriotische Pflicht anno '73 erfüllt und
die traurige Wahrheit des Krieges jenseits von Glanz und Gloria mit eigenen
Augen gesehen. Die Hitze, die Kälte, die Angst und den Tod. Die Sprecherin fuhr
mit einem unverkennbar chauvinistischen Unterton fort: "Als es den englischen
Streitkräften 1975 gelang, die Russen aus ihren letzten Stellungen auf der Krim
zu vertreiben, galt dies als beispielloser Triumph über einen übermächtigen
Feind. Seit damals sind die Fronten jedoch verhärtet, und Sir Gordon
Duff-Rolecks fasste die Stimmung im Lande anlässlich einer Friedenskundgebung am
Trafalgar Square folgendermaßen zusammen..."
Aufnahmen von einer großen
und überwiegend friedlichen Demonstration im Zentrum Londons wurden eingespielt.
Duff-Rolecks stand auf einem Podium und sprach in einen dichten, wildwuchernden
Wald von Mikrofonen. "Was im Jahre 1854 als halbherziger Versuch seinen Anfang
nahm, die russische Expansionspolitik einzudämmen", proklamierte der
Abgeordnete, "ist im Lauf der Jahre zu einem durchsichtigen Manöver verkommen,
das keinem anderen Zweck dient als der Aufrechterhaltung des
Nationalstolzes..."
Ich schaltete auf Durchzug. Ich hatte all das schon
tausendmal gehört. Ich trank noch einen Schluck
Kaffee; der
Schweiß auf meiner Kopfhaut juckte. Duff-Rolecks' Rede wurde mit Archivaufnahmen
von der Krim unterlegt: Sebastopol, eine schwerbefestigte englische
Garnisonsstadt, von deren architektonischem und historischem Erbe wenig
übriggeblieben war. Immer wenn ich diese Bilder sah, roch ich den beißenden
Gestank von Kordit und hörte das Krachen explodierender Granaten. Automatisch
strich ich mir mit dem Finger über das einzige äußerliche Andenken, das ich von
meinem Kriegseinsatz zurückbehalten hatte - eine kleine, leicht erhabene Narbe
am Kinn. Andere hatten weniger Glück gehabt. Es hatte sich nichts geändert. Der
Krieg schleppte sich weiter dahin.
"Das ist doch alles dummes Zeug",
sagte eine heisere Stimme dicht neben mir.
Es war Stanford, der Besitzer des
Cafés. Wie ich war er Krimveteran, wenn auch aus einem früheren Feldzug. Anders
als ich hatte er dort mehr verloren als nur seine Unschuld und ein paar gute
Freunde; er humpelte auf zwei Blechbeinen durchs Leben und hatte genug
Granatsplitter für ein halbes Dutzend Konservendosen im Leib. "Die Krim geht die
Vereinten Nationen einen Dreck an."
Obwohl wir ziemlich unterschiedliche
Auffassungen hatten, unterhielt er sich gern mit mir über die Krim. Was sonst
eigentlich niemand tat. Die Soldaten, die in den anhaltenden Konflikt mit
Walesverwickelt waren, genossen weitaus größeres Prestige; Krimkämpfer auf
Urlaub ließen ihre Uniform zumeist im Schrank.
"Das glaube ich nicht",
erwiderte ich unverbindlich und starrte aus dem Fenster; an der nächsten Ecke
stand ein bettelnder Krimveteran und rezitierte für ein paar Pennies
Longfellow-Gedichte.
"Wenn wir sie jetzt zurückgeben, sind Millionen umsonst
gestorben", setzte Stanford schroff hinzu. "Wir sind seit 1854 auf der Krim. Sie
gehört uns. Genausogut könnten wir den Franzosen die Isle of Wight
zurückgeben."
"Wir haben den Franzosen die Isle of Wight zurückgegeben",
sagte ich nachsichtig; Stanfords Interesse am Tagesgeschehen beschränkte sich im
allgemeinen auf die Ergebnisse der Ersten Krocketliga und das Liebesleben der
Schauspielerin Lola Vavoom.
"Ach ja", murmelte er stirnrunzelnd. "Stimmt.
Auch so eine Schnapsidee. Wofür hält diese UNO sich eigentlich?"
"Ich weiß
nicht, aber wenn sie dem Morden ein Ende macht, ist ihr meine Stimme sicher,
Stan."
Der Barkeeper schüttelte resigniert den Kopf, während Duff-Rolecks
seine Rede zu Ende brachte: "... es besteht nicht der geringste Zweifel, dass
Zar Alexej Romanow IV. ein verbrieftes Anrecht auf die Hoheitsrechte über die
Halbinsel hat, und ich für meinen Teil sehe dem Tag, da wir unsere Truppen
abziehen und dieser unermesslichen Vergeudung von Menschenleben und Ressourcen
ein verdientes Ende bereiten, mit Freude und Zuversicht entgegen."
Die
Nachrichtensprecherin ging zum nächsten Thema über - die Regierung wolle den
Käsezoll auf 83 Prozent erhöhen, ein unpopulärer Schachzug, der die militanteren
unter unseren Mitbürgern zweifellos dazu veranlassen würde, vor den
Lebensmittelgeschäften zu demonstrieren.
"Wenn sich die Russkis zurückziehen
würden, wäre der Spuk morgen vorbei", sagte Stanford grimmig.
Das war kein
Argument, und das wusste er genauso gut wie ich. Auf der gesamten Krim gab es
nichts mehr, was zu besitzen sich lohnte, ganz gleich wer den Krieg gewann. Der
einzige Landstrich, den die Artillerieduelle nicht in Schutt und Asche gelegt
hatten, war stark vermint. Historisch und moralisch gehörte die Krim zum
Russischen Reich, und damit basta.
Die nächste Meldung befasste sich mit
einem Scharmützel an der Grenze zur Volksrepublik Wales; keine Verletzten, nur
ein paar Schüsse über den Wye in der Nähe von Hay. Wie üblich hatte der
walisische Präsident-auf-Lebenszeit Owain Glyndwr VII. in seinem jugendlichen
Übermut Englands imperialistischen Anspruch auf ein vereintes Großbritannien
dafür verantwortlich gemacht; wie üblich hatte das Parlament nicht einmal eine
Erklärung zu dem Zwischenfall abgegeben.
Die Nachrichten waren noch nicht
zu Ende, aber mein Interesse war erschöpft. Der Präsident hatte in Dungeness
eine neue Kernfusionsanlage eröffnet. Als das Blitzlichtgewitter losbrach,
setzte er ein professionelles Grinsen auf. Ich widmete mich wieder meiner
Zeitung und las einen Artikel über einen Gesetzesentwurf, der vorsah, den Dodo
angesichts der beängstigend angewachsenen Population von der Liste der
geschützten Arten zu streichen, konnte mich jedoch nicht konzentrieren. Die
quälenden Erinnerungen an den Krimkrieg gingen mir nicht aus dem Kopf. Zum Glück
holte mich das Signal meines Piepsers schlagartig in die Wirklichkeit zurück.
Ich warf ein paar Scheine auf den Tresen und rannte zur Tür hinaus, während die
Toad-News-Sprecherin mit düsterer Stimme den Mord an einem jungen Surrealisten
verkündete - erstochen von radikalen Anhängern der
französischen
Impressionisten.
Mein Piepser hatte mir eine beunruhigende
Nachricht übermittelt: Das Unstehlbare war gestohlen worden. Das Manuskript von
Martin Chuzzlewit war nicht zum ersten Mal verschwunden. Zwei Jahre zuvor hatte
ein Museumswächter es aus seiner Vitrine entwendet, einfach weil er das Buch in
seiner reinen, unverfälschten Form genießen wollte. Da ihn jedoch Gewissensbisse
quälten und er schon nach drei Seiten die Segel streichen musste, weil er
Dickens' Handschrift nicht lesen konnte, gab er das Manuskript schließlich
zurück und legte ein umfassendes Geständnis ab. Zur Strafe musste er fünf Jahre
über den Kalköfen am Rande von Dartmoor schwitzen.
Zwar hatte Charles
Dickens seine letzten Lebensjahre in Gad's Hill Place verbracht, Martin
Chuzzlewit jedoch in Devonshire Terrace geschrieben, wo er und seine erste Frau
bis 1843 wohnten. Gad's Hill ist ein großer viktorianischer Bau bei Rochester,
der sich, als Dickens ihn kaufte, eines herrlichen Ausblicks auf den Medway
erfreute. Wenn man die Augen zusammenkneift und sich die Ölraffinerie, das
Schwerwasserwerk und die ExcoMat-Labors wegdenkt, kann man leicht
nachvollziehen, was ihn an diesem Teil Englands gereizt hat.
Täglich
drängen sich mehrere tausend Besucher auf den Gängen von Gad's Hill, womit es -
nach Anne Hathaways Hütte und dem berühmten Haworth Hause der Brontë-Schwestern
- den dritten Platz unter den beliebtesten literarischen Pilgerstätten Englands
einnimmt. Der Ansturm dieser Menschenmassen hatte zu erheblichen
Sicherheitsproblemen geführt; seit ein Geistesgestörter in Chawton eingebrochen
war und damit gedroht hatte, sämtliche Briefe Jane Austens zu vernichten, wenn
seine mäßig spannende und reichlich durchwachsene Austen-Biografie nicht
unverzüglich einen Verleger fände, wollte niemand mehr ein unnötiges Risiko
eingehen. Damals war alles glimpflich abgegangen, und doch ließ dieser
Zwischenfall nichts Gutes ahnen.
Ein Jahr später hatte in Dublin eine
organisierte Bande
Jonathan Swifts
Nachlass als Geisel genommen. Es war zu einer längeren Belagerung gekommen, in
deren Verlauf zwei der Täter erschossen und diverse politische Originalpamphlete
sowie eine frühe Fassung von Gullivers Reisen vernichtet worden
waren.
Das Unvermeidliche geschah. Alle literarischen Reliquien wurden
unter Panzerglas gelegt und mittels modernster Elektronik von bewaffneten
Beamten bewacht. Das wollte zwar niemand, aber eine andere Lösung gab es nicht.
Seitdem war es zu keinen größeren Problemen mehr gekommen, was den Raub von
Martin Chuzzlewit um so erschreckender erscheinen ließ.
Ich stellte den
Wagen ab, klemmte mir meine SO-27-Marke an die Brusttasche und zwängte mich
durch die Massen von Presseleuten und Gaffern. Als ich Boswell entdeckte,
schlüpfte ich unter der Polizeiabsperrung hindurch und ging zu ihm.
(...)
Paige Turner und Boswell hatten den LitAgs schon angehört, als ich dazugestoßen
war. Kaum jemand verließ die LitAgs je wieder, es sei denn er ging in Rente oder
starb; wer nach London versetzt wurde, hatte das Ende der Karriereleiter
erreicht. Einer Redensart zufolge war ein Posten als Literatur-Agent
lebenslänglich und nicht auf Bewährung.
"Boswell steht auf dich,
Thursday." "Inwiefern?" fragte ich argwöhnisch. "Insofern als er dich an meinem
Schreibtisch sehen will, wenn ich ausscheide - ich habe mich am Wochenende
nämlich mit einem sehr netten Herrn von SO-3 verlobt." Ich hätte wahrscheinlich
größere Begeisterung an den Tag legen sollen, aber Paige hatte sich schon so oft
verlobt, dass sie sich an jeden Finger und jeden Zeh zwei Ringe hätte stecken
können.
"SO-3?" fragte ich neugierig. Obwohl ich selbst bei SpecOps
arbeitete, hatte ich keinen Schimmer, welche Abteilung wofür zuständig war -
Otto Normalverbraucher war da vermutlich besser informiert. Die einzigen
SpecOps-Abteilungen unterhalb von SO-12, über die ich hundertprozentig Bescheid
wusste, waren SO-9, die Sektion TerrorBekämpfung, und SO-1, die Dienstaufsicht -
die Spec-Ops-Polizei, die dafür sorgte, dass wir nicht aus der Reihe
tanzten.
"SO-3 ?" wiederholte ich. "Wofür sind die denn zuständig?"
"Für
die bizarren Fälle."
"Ich dachte, das macht SO-2?"
"Die erledigen die noch
bizarreren Fälle. Ich habe meinen Verlobten gefragt, aber er ist leider nicht
dazu gekommen, mir eine Antwort zu geben - wir waren sozusagen beschäftigt.
Schau dir das an." Paige hatte mich in den Saal mit den Manuskripten geführt.
Die Glasvitrine, in der Martin Chuzzlewit gelegen hatte, war
leer.
"Gibt’s was Neues?" fragte sie eine Beamtin der
Spurensicherung.
"Nein."
"Handschuhe?" erkundigte ich mich.
Die SpuSi
stand auf und streckte sich; sie hatte keinerlei Abdrücke gefunden.
"Nein;
und genau das ist das Komische daran. Es sieht aus, als ob sie den Kasten gar
nicht angefasst hätten; keine Handschuhe, kein Tuch - nichts. Wenn ich's nicht
besser wüsste, würde ich sagen, der Kasten ist gar nicht geöffnet worden und das
Manuskript liegt noch darin!"
Ich inspizierte die Vitrine. Sie war fest
verschlossen, und keines der anderen Exponate hatten die Diebe auch nur
angerührt. Die Schlüssel wurden getrennt aufbewahrt und sollten jeden Augenblick
aus London eintreffen.
"Hoppla, das ist ja merkwürdig ...", murmelte ich
und beugte mich vor.
"Hast du was entdeckt?" fragte Paige
erwartungsvoll.
Ich deutete auf eine Stelle an einer der Seitenscheiben, die
kaum merklich pulsierte. Der Bereich hatte in etwa die Ausmaße des Manuskripts.
(Aus dem Roman "Der Fall Jane Eyre" von Jasper Fforde.)