Leseprobe aus "Geschichte
der Tränen"
von Alan Pauls
In
einem Alter, in dem andere
Kinder ganz versessen darauf sind zu sprechen, kann er stundenlang
zuhören. Er
ist vier Jahre alt, oder wenigstens hat man ihm das gesagt. Zur
Verblüffung
seiner Großeltern und seiner Mutter, die im Wohnzimmer in der
Ortega y Gasset
zusammensitzen, in der Dreizimmerwohnung, aus der sein Vater, seines
Wissens
ohne Angabe von Gründen, acht Monate zuvor zusammen mit seinem
Tabaksgeruch,
seiner Taschenuhr und seiner Sammlung Hemden mit Monogramm der
Hemdenschneiderei
Castrillón verschwunden ist und zu der er nun jeden
Samstagmorgen zurückkehrt,
wenn auch nicht so pünktlich, wie seine Mutter es sich
wünschen würde, den
Knopf der Klingelanlage drückt und, egal wer sich meldet, in
jenem ungeduldigen
Ton verlangt, den er später als das Markenzeichen des Zustands
erkennen lernt,
in dem seine Beziehung zu Frauen erstarrt, sobald er mit ihnen Kinder
hat, er
solle auf der Stelle runterkommen, schießt er in seinem
grotesken Supermannkostüm,
das er gerade geschenkt bekommen hat, wie der Blitz durchs Zimmer und
mit
ausgestreckten Armen in plump simuliertem Flug, Mumie, Schlafwandler
oder Ente
in Gips, durch die in tausend Stücke zerberstende Glasscheibe
der Balkontür.
Eine Sekunde später kommt er zu sich wie nach einer Ohnmacht.
Er steht zwischen
Blumentöpfen, nur etwas erhitzt und zittrig. Er betrachtet
seine Hände und
sieht zwei oder drei Blutsfäden, die sich wie gemalt
über die Handflächen
ziehen.
Nicht die stählerne
Konstitution des Superhelden, dem er nacheifert, hat ihn gerettet, wie
man zunächst
glauben könnte und wie die Erzählungen
später zu wiederholen nicht müde
werden, die diese Heldentat lebendig halten, die
spektakulärste, wenn nicht
einzige einer Kindheit, die von Anfang an darauf angelegt war, kein
Aufsehen zu
erregen, und lieber einsame Beschäftigungen pflegte, Lesen,
Malen, das gerade
aufkommende Fernsehen,
Hinweise darauf, dass das, was man normalerweise Innenwelt nennt und
was
anscheinend immer etwas seltsame Geschöpfe auszeichnet, bei
ihm beträchtlich
besser entwickelt ist als bei den meisten seiner Altersgenossen.
Gerettet hat
ihn seine Empfindsamkeit, denkt er, hält jedoch mit dieser
Erklärung hinterm
Berg, als fürchtete er, eine Enthüllung
könnte, außer dass sie der
offiziellen Version zuwiderliefe, was ihn völlig kalt
ließe, die magische
Wirkung zunichte machen, die sie erklären soll. Anders als
seine Familie,
insbesondere sein Vater, der ihr größter
Nutznießer ist, vermag er sie noch
nicht als Privileg zu begreifen, höchstens als angeborene
Eigenschaft, so ungewöhnlich
und zumindest aus seiner Sicht natürlich wie seine
Fähigkeit zu beidhändigem
Malen, die, von Verwandten und Freunden oft gefeiert, beispiellos
dasteht und
sich bald verliert. Denn an Supermann, dem absoluten Helden und ewigen
Monument,
dessen Abenteuer ihn so sehr fesseln, dass er nach Art der
Kurzsichtigen fast
mit der Nase an den Seiten klebt, wenn auch weniger, um zu lesen, denn
er liest
noch nicht, als um sich an Farben und Formen zu berauschen, bezaubern
ihn nicht
die Heldentaten, sondern die Momente von Versagen, die zweifellos sehr
selten
vorkommen, aber vielleicht darum ungleich intensiver sind als die, in
denen der
Superheld im Vollbesitz seiner Superkräfte in der Luft
beispielsweise das Stück
Gebirge abfängt, das jemand auf eine Gruppe von Bergsteigern
stürzen lässt,
oder innerhalb von Sekunden einen Damm errichtet, um eine verheerende
Flutwelle
zu stoppen, oder in pfeilschnellem Flug den Kinderwagen rettet, den ein
außer
Kontrolle geratener Umzugslastwagen plattzuwalzen droht.
Er unterscheidet zwei Arten von
Schwäche. Eine, die er schätzt, wenn auch nur bis zu
einem gewissen Grad, und
die sich aus einem moralischen Dilemma herleitet. Supermann muss
zwischen zwei
Übeln wählen: einen Tornado aufhalten, der eine ganze
Stadt zu zentrifugieren
droht, oder verhindern, dass ein blinder Bettler stolpert und in eine
Grube fällt.
Das Missverhältnis zwischen beiden Gefahren ist für
jeden klar ersichtlich, für
Supermann aber irrelevant, in moralischer Hinsicht sogar verwerflich,
und
dadurch, durch seine Sturheit, die ihn veranlasst, beidem den gleichen
Wert
beizumessen, gerät er in eine Position der Schwäche
und ist jetzt für jeden
feindlichen Angriff enorm verwundbar. Die andere dagegen ist eine
organische,
angeborene Schwäche, die einzige übrigens, die ihn
mit seinen gerade vier
Jahren zwingt, das Undenkbare schlechthin zu denken, dass
nämlich der Mann aus
Stahl sterben könnte. Damit dieser Fall eintritt, ist die
Mitwirkung eines der
beiden sogenannten Steine des Bösen unerlässlich, des
grünen Kryptonits, das
ihn schwächt, aber nicht tötet, und des roten, das
allein imstande ist, ihn zu
vernichten, beides Steine von seinem Heimatplaneten und gleichsam
Mahnmale einer
Verletzlichkeit, die ihn die vielleicht weniger aufreibende Welt der
Menschen
mit aller Macht vergessen lassen möchte.
Eine Sache gibt es, die ihn
umhaut, wenn nämlich dieser Mann aus Stahl, kaum dass er in
die Strahlung der
unheilvollen Mineralien gerät, wie betäubt die Lider
senken, alles sofort
stehen- und liegenlassen und erst ein Knie, dann das andere auf den
Boden setzen
muss, die Schultern wie unter einer übermenschlichen Last
gebeugt, um schließlich
mit seinem blau-roten Körper wie ein Sterbender im Staub zu
liegen. Indem er
die tödliche Wirkung des Steins gleichsam über die
Seiten hinaustransportiert,
erwischt es auch ihn im nie zutreffender als hier nach der Sonne
benannten Geflecht, im innersten Kern, so tief und so stark, wie keine
noch so
enorme Heldentat das für sich beanspruchen könnte.
Wenn es etwas wirklich Außergewöhnliches
gibt, dann ist es der Schmerz.
Nur eine Sache auf der Welt gibt es, die ihn verursachen kann, und mehr
als alle
segensreichen Taten, für die Supermann verehrt wird, ist es
diese eine Sache,
die er bald fürchten, erwarten, mit klopfendem Herzen
voraussehen lernt, jedes
Mal, wenn er vom Kiosk zurückkommt und ohne stehenzubleiben
und auf die Gefahr
hin, irgendwo gegen zu laufen, wie schon mehrfach passiert, das gerade
gekaufte
Heftchen aufschlägt und in die Lektüre eintaucht.
(...)
Der Schmerz ist das Außergewöhnliche und darum das,
was unerträglich ist. Er
teilt die Episoden in zwei nicht miteinander vergleichbare Klassen, in
solche
mit den verhängnisvollen Steinen und in solche ohne sie. Er
verachtet die
Letzteren und verbannt sie in die hinterste Schublade seines
Kleiderschranks,
dorthin, wo die Hefte, Spielzeuge und Bücher Staub ansammeln,
die er, älter
werdend, hinter sich lässt, die er jetzt verabscheut und
später, wenn er sich
jenseits ihrer Einflusssphäre weiß, hingerissen
wieder hervorzieht und
verehrt, Zeugnisse des einfältigen Idioten, der er nicht mehr
ist, an den er
sich nicht anders als gerührt erinnern kann. Würde
man ihn fragen, was ihn so
beeindruckt, was genau er empfindet, wenn er sieht, wie sich die
leuchtende
Strahlung der Steine dem Körper des Mannes aus Stahl
nähert und ihn für eine
Sekunde rot oder grün färbt und warum es ihn so
entsetzt, wenn Supermann,
kraftlos schon, wie ausgeblutet, am Boden liegt,
äußerlich noch genau wie
vorher, als er über die Schwerkraft triumphierte, die
Lichtgeschwindigkeit übertraf
und nichts in der Welt ihm etwas anhaben konnte, und dennoch schwach,
seinen
Feinden auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, könnte er nichts
sagen. Ihm fehlen
die Worte. Viel reden ist seine Sache nicht.
Er weiß bloß, dass sich das Phänomen
ganz ähnlich anfühlt wie das Brennen, das er in
seinen Fingerkuppen anwachsen
spürt, sonntagabends, wenn sein Vater sich vor der
Wohnungstür in der Ortega y
Gasset von ihm verabschiedet, nachdem sie den Tag zusammen in Embrujo,
Sunset,
New Olivos oder irgendeinem anderen halböffentlichen
Schwimmbad verbracht
haben, die sie nach den ersten heißen Tagen des Jahres Mitte
Oktober, spätestens
Anfang November, zum Ziel ihrer Wochenendausflüge machen.
Gegen elf, halb zwölf
kommen sie an, wenn die wenigen Leute, die schon da sind - meist
einzelne Frauen
im gleichen Alter wie sein Vater, so braungebrannt, dass man wetten
würde, sie
lebten in einem ewigen Sommer, in einer Art tropischem Parallelstaat,
dessen
Hauptstadt wahrscheinlich das Schwimmbad ist, und ein paar
Männer, ebenfalls
allein, ebenfalls in Badekleidung, das Gesicht abgeschirmt hinter
Sonnenbrillen,
die sie nur abnehmen, um flüchtig die violetten Ringe
vorzuzeigen, die die
Samstagnacht um ihre Augen hat wachsen lassen, und sich dann die Lider
mit
Salben, Cremes, Ölen einzuschmieren, von denen er bis heute
nicht weiß, ob sie
vor Sonnenbrand schützen oder ihn eher fördern sollen
-, noch nicht alle guten
Plätze belegt haben, die die Sonnenterrasse, der Rasen, die
Bar und die Liegestühle
hergeben.
Bei der Ankunft immer derselbe
Stolz: Er spürt, dass im gesamten Schwimmbad
niemand jünger ist als sein Vater. Weniger dem Alter nach, in
diesem Punkt müsste
er schon wegen seines eigenen unverzüglich Inkompetenz
anmelden, als
hinsichtlich der Maske der Schäbigkeit, die Schlafmangel, die
Verwüstungen
durch Alkohol und Tabak sowie sexuelle Ausschweifungen allen anderen
verpasst
haben, mithin jene heimliche Familienähnlichkeit, die
Angehörige derselben
lasterhaften Gemeinschaft verbindet. Kaum angekommen, sichert sich sein
Vater
einen Platz auf dem Rasen, indem er sein Handtuch wie eine Art
Hoheitszeichen
ausbreitet, immer mit dem Wind, damit es keine unerwünschten
Falten wirft, und
verschwindet in der Umkleidekabine. Er, der die Badehose immer schon
unter der
Hose trägt, eine Gewohnheit, die er irgendwann aus eigenem
Antrieb angenommen
hat und um jeden Preis beibehält, trotz der Unbequemlichkeit,
die die Fahrt im
Taxi von der Ortega y Gasset zum Schwimmbad zu einer regelrechten
Tortur macht,
zieht seine Sachen aus, die Fersen breitbeinig ins Handtuch gestemmt,
womit er
den Besitz des Gebiets bekräftigt, um das herum der gesamte
restliche Tag
kreisen wird, und als müsste er etwas tun, um zu verhindern,
dass der Stolz auf
die Jugend seines Vaters ihn erstickt, rennt er und stürzt
sich Kopf voran ins
Wasser. Er weiß nie, ob das Wasser kalt ist oder ob er, wie
der Tag, wie sogar
der Sommer, der sich streng genommen gerade erst ankündigt,
nur zu jung ist,
aber er taucht, so schnell es geht, zum Grund, Arme und Beine bewegend,
damit
sie ihm nicht abfrieren, berührt den offenen Mund des auf die
Kacheln am Boden
gemalten Tintenfischs und stößt sich ab in Richtung
gegenüberliegendes
Beckenende, wo er einige Sekunden später mit angeklatschtem
Haar,
zusammengekniffenen Lidern und fast implodierenden Lungen auftaucht.
Möglich, dass es ihm da noch
nicht bewusst ist, aber spätestens, wenn er sich,
drüben angekommen, seine
Fingerspitzen näher ansähe, mit denen er den Mund des
Tintenfischs berührt
hat, würde er bereits die Längsstreifen erkennen, die
sich später, nach den
wiederholten Strapazen, die ihnen eine Routine immergleicher
Aktivitäten
bereitet - sandpapierenes Sprungbrett, Kopfsprung, Expedition zu den
Fängen des
Tintenfischs, Ausruhen am rauen Beckenrand, Suche nach den
Münzen, Schlüsseln
und sogar Armbanduhren, water proof, die sein Vater
nacheinander ins
Wasser wirft, um ihn in der Kunst des Tauchens zu trainieren etc. -,
verstärkt
durch die anhaltende Einwirkung des Wassers, in weiche
rötliche Striemen
verwandeln, die er Rillen nennt, und später in diese
allgemeine Rötung ohne
scharfe Abgrenzung, die ihn zum x-ten Mal glauben lässt, seine
Finger stünden
in Flammen und dass er statt Fingern Streichhölzer aus Fleisch
und Blut hat.
Nach sechs oder sieben Stunden Schwimmbad ist seine Haut so
ausgedünnt, dass
sie fast durchsichtig scheint, so sehr, dass er Mühe hat zu
entscheiden, ob das
intensive Rot, das er sieht, wenn er seine Hände gegen das
Licht des
anbrechenden Nachmittags betrachtet, die Farbe des Blutes ist, das in
der
Fingerkuppe kocht, oder nur der Effekt der Sonnenstrahlen, die ihn
verstärken,
indem sie widerstandslos die strapazierte Haut durchdringen. Dieses
Brennen,
dieses Ausdünnen der Haut, die das Innere vom
Äußeren trennen sollte, ist es,
was er fühlt, wenn Supermann auf den Seiten des gerade
gekauften Heftchens dem
kriminellen Glanz der bösen Steine anheimfällt.
(...)
Die Verletzung erfolgt nicht sofort. Sie nimmt sich Zeit. Was er als
das Brennen
in der Serie von Haut und Schwimmbad wiedererkennt, ist insbesondere
die Art,
wie die Agonie des Mannes aus Stahl im Ablauf der Kästchen,
die sie entfalten,
in ihm widerhallt. So groß ist die Nähe zu dem
Superhelden, so brutal das
Verschwinden der Grenze, die sie trennen sollte, dass er
schwören würde, die
Mischung aus Brennen, Verletzlichkeit und Beklemmung, die sich in der
gefühlten
Mitte seines Sonnengeflechts festgesetzt hat, gehe unmittelbar vom
Glanz des in
der Zeitschrift gezeichneten Kryptonits aus. Einmal löscht er
sogar die
Nachttischlampe in seinem Schlafzimmer, um zu sehen, ob die
bösen Steine in der
Dunkelheit weiterstrahlen.
Der Schmerz ist seine Erziehung
und sein Glaube. Durch den Schmerz wird er wieder gläubig. Er
glaubt nur oder
vor allem an das, was leidet. Er glaubt an Supermann, an den er
übrigens ganz
offensichtlich nicht glaubt, ungeachtet des gegenteiligen Beweises, den
sein
eigener vierjähriger, in ein Supermannkostüm
gehüllter Körper beisteuert,
als er die Glastür des Wohnzimmers in der Ortega y Gasset
durchschlägt. Er
glaubt, wenn er ihn unter der Wirkung der Steine in sich
zusammensacken, nach
Atem ringen, zu Boden gehen sieht, außer Gefecht gesetzt und
winzig, er, der
sonst immer so gewaltig ist, wehrlos seinen Erzfeinden ausgeliefert. Im
Glück
wie in seinen verschiedenen Trabanten dagegen sieht er nichts als
Blendwerk;
nicht direkt Täuschung oder Vortäuschung, sondern die
Frucht einer
Machenschaft, das mehr oder weniger bemühte Werk einer
Absicht, die er
verstehen und gutheißen kann, manchmal sogar teilt, die aber
aus irgendeinem
Grund und mit einem ursprünglichen Makel behaftet zwischen dem
Glück und ihm
immer eine Distanz sein lässt. (...)
Alan
Pauls: "Geschichte der Tränen"
(Originaltitel "Historia del llanto")
Aus dem Spanischen von Christian Hansen.
Klett-Cotta, 2010. 144 Seiten.
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Er
ist sensibel und hat schon in
jungen Jahren die gesamte linke Politliteratur verschlungen. In seiner
Gegenwart
fangen die Menschen unweigerlich an zu weinen. Nur er selbst
vergießt seit der
Fernsehübertragung eines Putsches plötzlich keine
Träne mehr. Und als er dies
zu hinterfragen beginnt, offenbart sich ihm die ganze
Skurrilität des Lebens in
einer Militärdiktatur.
Als Kind ist er ein glühender Sozialist im
Superheldenkostüm. Und auch später
solidarisiert er - der Wand an Wand mit einem militärischen
Folterer wohnt -
sich heroisch mit den Schwachen und Verfolgten, und dabei weint er gern
und
viel. Doch als er Jahre später den Putsch gegen Allende im
Fernsehen verfolgt,
versiegen ihm plötzlich die Tränen. Und verwirrt
hält er eine bitterböse Rückschau
auf die kuriosen Stationen seiner politischen Prägung.
Die "Geschichte der Tränen" erzählt eine
verstörende Episode der
argentinischen Geschichte. Und dabei macht sie, inmitten des
lärmenden Getöses
der Politik, die leisen Töne des Privaten hörbar.
Alan Pauls wurde 1959 in Buenos Aires geboren.