(...)
Die Natur wäre nicht die Natur, wenn sie keinen Geist hätte, nicht jenes einzige
Gegenbild der Menschheit nicht die unentbehrliche Antwort dieser geheimnisvollen
Frage, oder die Frage zu dieser unendlichen Antwort."
"Nur die Dichter
haben es gefühlt, was die
Natur den Menschen sein kann", begann ein schöner
Jüngling, "und man kann auch hier von ihnen sagen, daß sich die Menschheit in
ihnen in der vollkommensten Auflösung befindet, und daher jeder Eindruck durch
ihre Spiegelhelle und Beweglichkeit rein in allen seinen unendlichen Veränderungen
nach allen Seiten fortgepflanzt wird. Alles finden sie in der Natur. Ihnen allein
bleibt die Seele derselben nicht fremd, und sie suchen in ihrem Umgang alle
Seligkeiten der goldnen Zeit nicht umsonst. Für sie hat die Natur alle Abwechselungen
eines unendlichen Gemüts, und mehr als der geistvollste, lebendigste Mensch
überrascht sie durch sinnreiche Wendungen und Einfälle, Begegnungen und Abweichungen,
große Ideen und Bizarrerien. Der unerschöpfliche Reichtum ihrer Phantasie läßt
keinen vergebens ihren Umgang aufsuchen. Alles weiß sie zu verschönern, zu beleben,
zu bestätigen, und wenn auch im Einzelnen ein bewußtloser, nichtsbedeutender
Mechanismus allein zu herrschen scheint, so sieht doch das tiefer sehende Auge
eine wunderbare Sympathie mit dem menschlichen Herzen im Zusammentreffen und
in der Folge der einzelnen Zufälligkeiten. Der
Wind
ist eine Luftbewegung, die manche äußere Ursachen haben kann, aber ist er dem
einsamen, sehnsuchtsvollen Herzen nicht mehr, wenn er vorübersaust, von geliebten
Gegenden herweht und mit tausend dunkeln, wehmütigen Lauten den stillen Schmerz
in einen tiefen melodischen Seufzer der ganzen Natur aufzulösen scheint? Fühlt
nicht so auch im jungen, bescheidnen Grün der Frühlingswiesen der junge Liebende
seine ganze blumenschwangre Seele mit enzückender Wahrheit ausgesprochen, und
ist je die Üppigkeit einer nach süßer Auflösung in goldnen
Wein lüsternen Seele köstlicher und erwecklicher erschienen,
als in einer vollen
glänzenden
Traube, die sich unter den breiten Blättern halb versteckt?
(...)
(aus "Die Lehrlinge zu Sais" von Novalis)
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