Francesco Petrarca ist ein Genie der Anfänge. Er steht im Frühlicht der Neuzeit als eine singuläre Gestalt. In seinen Briefsammlungen, deren Bedeutung sich nur mit der von Montaignes Essais vergleichen lässt, in seinen italienischen Gedichten, die zum Ursprung des großen Stroms der neuzeitlichen Lyrik in Europa wurden, in der durchdringenden Selbstbefragung seines Secretum, in seinen großen geistespolitischen Demarchen, die ihn mit den Mächtigen seiner Zeit in nahe, oft vertraute Verbindung brachten, spiegelt sich das hellste Bewusstsein seiner Epoche. Wie nach ihm später Erasmus und Voltaire ist Petrarca eine eigene Großmacht des Geistes im Europa des 14. Jahrhunderts. Die Figur des europäischen Intellektuellen hat in ihm ihr Urbild. Petrarca überschaut aus eigener Erfahrung als unermüdlicher Reisender das ganze Europa seiner Zeit, sein Studium, das ihm zur Lebensform wurde, führt ihn zurück bis zu den fernen Anfängen Roms und Griechenlands, aber zugleich hat er den feinsten Sinn für die vorwärtstreibenden Tendenzen seiner Gegenwart, denen er oft ihre erste Gestalt gab.
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Petrarcas geistige Existenz steht im Zeichen einer Vielzahl von Rollen, Erfahrungen und Bestrebungen. Keines seiner Werke hat er je zum Abschluss gebracht, ja, die Unabschließbarkeit ist ihre wesentliche Signatur. Früh schon beginnt Petrarca mit seinen literarischen Projekten, an denen er gleichzeitig immer weiter arbeitet und feilt. Sein Gesamtwerk ist ebenso bis zum letzten Augenblick ein work in progress wie jedes einzelne seiner Werke. Die Vielfältigkeit einer offenen, von keiner essentiellen Seinsordnung mehr umgriffenen Welt ist bei Petrarca im Vergleich zu Dante eine grundsätzlich neue Erfahrungsdimension. Steht Dantes Commedia noch im Zeichen einer prinzipiellen Vertikalität der Welt, wie sehr Dantes Fragen auch schon beunruhigt ist von der Schreckensvorstellung einer kontingenten Welt, so ist Petrarcas Welterfahrung die einer prinzipiellen Horizontalität und in eins damit einer sich ins Unabsehbare ausweitenden Vielfalt innerweltlicher Verweisungen. Daher auch kann die Offenheit der Landschaft bei ihm zu einer neuen wesentlichen Dimension des In-der-Welt-Seins werden. Horizontalität der Welt und Unabschließbarkeit der Erfahrung werden zur Bedingung einer Schreibart im Zeichen des Fragments. Petrarca, der dem lateinischen fragmentum selbst erst seinen neuzeitlichen Sinn gegeben hat, ist der erste große Fragmentist, dem das Fragment zur Denkform wurde und der damit die große Linie eröffnet, die zu Montaignes Essais wie zu Goethes "Bruchstücken einer großen Confession" führt. Von nun an wird die moderne Kunst und Dichtung in unauflösbarem Widerspruch zwischen einer den Punkt ihrer Vollkommenheit anstrebenden Kunst und einer reflexiven Kunst stehen, die die Uneinlösbarkeit dieses Anspruchs zu ihrer Voraussetzung macht und im Fragmentarischen und in der Selbstentzweiung ein Maximum an ästhetischer und reflexiver Intensität anstrebt.
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Sieht Petrarca sich diesseits der Epochenschwelle, deren Heraufkunft er selbst mit seinem Werk befördern will, so hat der Humanismus des 16. Jahrhunderts, der sich jetzt schon jenseits der Epochenschwelle sieht, Petrarca gleichsam auf seine Seite herübergeholt. Der Humanismus des 16. Jahrhunderts schafft erst eigentlich das Epochenstereotyp einer dunklen Zeit des Mittelalters, der er sich entronnen weiß. Bei Petrarca ist das Konzept des dunklen medium aevum noch in erster Linie politisch und kulturpolitisch motiviert. Dagegen dient die Auffassung vom dunklen Mittelalter dem 16. Jahrhundert vor allem der epochalen Markierung eines neuen Kulturbewusstseins, das sich als die Wiedergeburt der Antike versteht oder missversteht. Je dunkler jetzt aber das aus dem Kulturgedächtnis ausgelöschte oder auszulöschende Mittelalter erscheint, desto heller steht vor diesem Hintergrund die Gestalt des Dichters der Laura und des frühen Humanisten. Petrarkismus und Humanismus sind die auf ganz Europa ausstrahlenden Rezeptionsformen Petrarcas im 16. Jahrhundert. Sie haben erst eigentlich Petrarcas Ruhm über den engeren Kreis seiner Bewunderer hinaus begründet. Doch der Preis dieses Ruhms war hoch. Beide, Petrarkismus und Humanismus, überliefern einen gereinigten, verengten, typisierten Petrarca, dessen Vielseitigkeit und suchende Unruhe in der massiven und affirmativen Rezeption verdrängt wurde, die erst die Verbreitung in der Form des gedruckten Buchs ermöglichte. Diese selektive Rezeption wurde aber auch die Grundlage aller neueren Petrarca-Rezeption. Nur so lässt sich erklären, dass Petrarcas bedeutende Altersbriefe in der Sammlung der Seniles seit der Basler Ausgabe von 1554 nicht mehr neu herausgegeben wurden, dass es von Petrarcas Epystole, seinen metrischen Briefen, die zwischen Horaz und Mörike das Schönste sind, was die Gelegenheitsdichtung in Europa hervorgebracht hat, keine vollständige, geschweige denn kritische Ausgabe gibt, ebensowenig wie von De remediis utriusque fortunae, das in den ersten Jahrzehnten des Buchdrucks zu den verbreitetsten Büchern in Europa gehört hatte.
Das 19. Jahrhundert, in dem unsere geschichtlichen und vor allem kulturgeschichtlichen Epochenvorstellungen feste Konturen gewannen, hat das auf Petrarca zurückgehende epochale Selbstverständnis des 16. Jahrhunderts als einer auf die Nacht des Mittelalters folgenden Wiedergeburt der antiken Welt weitgehend und zumeist kritiklos übernommen. Vor allem die Vorstellung eines plötzlichen qualitativen Sprungs in der Abfolge der Zeiten, einer dramatisch verdichteten Epochenschwelle, geht unmittelbar auf Petrarcas eigene Zeitauffassung zurück. In einer solchen Perspektive musste aber das 14. Jahrhundert, Petrarcas eigene Zeit, zum Niemandsland zwischen den Epochen werden, weder Mittelalter noch Renaissance, weder Fisch noch Fleisch, Zeit der Epigonen und der Vorläufer. Kulturgeschichtlich ist das 14. Jahrhundert noch immer wie ein leergeräumter Saal, in dem die Schritte hallen.
Anders erscheint das 14. Jahrhundert, wenn es vom Scheitelpunkt seiner eigenen Jetztzeit mit ihren eigenen Vergangenheits- und Zukunftshorizonten wahrgenommen wird. Erst so wird jenseits der etablierten Epochenkonzepte mit ihren Selektionszwängen, ihren Wahrnehmungs- und Darstellungsstereotypen die eigene Physiognomie des Jahrhunderts der frühesten Neuzeit erkennbar. In dieser Perspektive kann Petrarca, der Vorläufer, zur Schlüsselfigur für das Verständnis seines Jahrhunderts werden. Es ist eine für das Verständnis Petrarcas weitreichende Entscheidung, ob er als Kronzeuge für die epochale Diskontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance verstanden wird oder aber als Gestalt einer Kontinuität und Steigerung, die der spezifischen Modernität der nachantiken Welt Rechnung trägt. Für das Verständnis von Petrarcas Zeit selbst hängt Entscheidendes davon ab, ob das 14. Jahrhundert mit den Augen des 16. oder das 16. mit den Augen des 14. Jahrhunderts betrachtet wird. Im Blick des Renaissance-Humanismus muss das 14. Jahrhundert sich als die dunkelste Nacht des Mittelalters darstellen, in der einzig Petrarca den Anbruch einer neuen Zeit der aus ihrem trägen Schlaf wiedererwachten Welt einer Hochkultur der antiken Vergangenheit anzeigte. Wird dagegen umgekehrt das Jahrhundert der Renaissance und des Humanismus aus der Perspektive des 14. Jahrhunderts wahrgenommen, so zeigt sich, wie sehr es unter der Oberfläche einer weithin ornamentalen Wiederholung von Elementen antiker Malerei, Skulptur, Architektur und Literatur teilhat an einer Dynamik der sich steigernden Strukturkomplexität, die im 14. Jahrhundert ihren eigentlichen Ursprung hat.
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Blumenbergs Die Legitimität der Neuzeit und Ecos Il nome della rosa werfen neues Licht auf eine Welt, die bis dahin allein als "Herbst des Mittelalters" gegolten hatte. Aber sie fragen nicht nach der Mitte, von der her sich dieses neue Kraftfeld bestimmt. Mittelpunkt des 14. Jahrhunderts ist weder Rom noch Paris, sondern zwischen ihnen ein neugeschaffener künstlicher Mittelpunkt, Avignon, seit 1309 Sitz des Papstes und der Kurie. Walter Benjamin nannte in einer geistreichen Formulierung Paris die "Hauptstadt des 19. Jahrhunderts". Ebenso kann man Avignon, wo sich Italien und Frankreich begegneten, wo alle Fäden des intellektuellen Europa zusammenliefen, die Hauptstadt des 14. Jahrhunderts nennen. Und wie für Benjamin das Werk Charles Baudelaires zum Schlüssel für das Verständnis der Modernität des 19. Jahrhunderts werden konnte, soll hier Francesco Petrarca, der mehr als die Hälfte seines Lebens in Avignon zubrachte und dessen geistige Physiognomie trotz allem, was er selbst gegen das Babylon an der Rhône geschrieben hat, von Avignon zutiefst geprägt ist, zum Schlüssel für das Verständnis seines Jahrhunderts werden. Wie Baudelaire nur in Paris Baudelaire werden konnte, so konnte Petrarca nur in Avignon Petrarca werden. Denn nur hier war der Ort, wo sich alle geistigen Tendenzen der Zeit begegneten, wo Petrarca, dem die Gabe der unwiderstehlichen Liebenswürdigkeit ebenso gegeben war wie die Begabung zur Freundschaft, seine ganz Europa überziehenden persönlichen und literarischen Verbindungen knüpfen konnte.
Das Werk Petrarcas, dem der träge sopor so sehr verhasst war, ist selbst zu weiten Teilen dem sopor, der Schläfrigkeit oder dämmernden Halbschläfrigkeit des Vergessens oder Halbvergessens, verfallen. Gegen das blasse Schemen eines seiner Zeit entrückten "Vaters des Humanismus" soll hier der farbige, widerspruchsvolle, neugierige, erfindungsreiche, moderne Petrarca des 14. Jahrhunderts wieder in Erinnerung gerufen werden. Es könnte sein, dass sich dadurch auch ein neuer Zugang zu dem eröffnet, was man die Tiefenstruktur des modernen Bewusstseins oder seine verborgene Tektonik nennen könnte. Sollte nicht Avignon der Ort sein, wo in der Begegnung von französischer und italienischer, "mittelalterlicher" und "frühneuzeitlicher" Intellektualität, die Momente derselben nachantiken Welt sind, der Ursprung dieses Bewusstseins zu finden ist? Wenn im folgenden Petrarcas Modernität in Frage steht, dann nicht, um "schlicht ahistorisch" ihm eine Modernität anzusinnen, die nur die naive Rückprojektion des Gegenwärtigen auf das Vergangene wäre, sondern um vergangene Modernität wieder in ihr eigenes und fortdauerndes Recht zu setzen. Der Blick auf Petrarca und sein Jahrhundert könnte manche geistes- und kulturgeschichtliche Neudatierung notwendig machen und so dem unerschütterlich bei sich seienden geschichtlichen Bewusstsein den einen oder anderen Stoß versetzen. Vielleicht, dass auch das geschichtliche Bewusstsein, wenn es allzu fest und reflexionslos bei sich selbst ist, seinem eigenen Verdikt nicht entgeht: Das ist schlicht ahistorisch. Aber gibt es, und bei Literatur und Kunst zumal, ein historisches Bewusstsein, das nicht genötigt wäre, als verstehendes Bewusstsein auch ein "ahistorisches" zu sein?


(Aus "Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa 
des 14. Jahrhunderts" von Karlheinz Stierle.)

Die große, umfassende Studie über Leben und Werk Petrarcas. Vor vielen Hundert Jahren hat der rastlos tätige Dichter, Schriftsteller und Publizist mit seinem Denken und Handeln entscheidend seine Zeit geprägt, so dass die vorliegende Biografie - mit vielen bisher unübersetzten Werken - als Schlüssel zum Verständnis des 14. Jahrhunderts dient.
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